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"Der Leidensdruck ist noch nicht hoch genug, dem fehlt das richtige Mädchen, welches ihm wichtiger ist als diese Firma mit der Geschäftsführung. Glauben sie, Frau Sümmchen. Das wird eines Tages passieren.“
Sümmchen wünschte Paul allen Mut, um sein Ding durch zu ziehen. Schließlich kommt für jeden einmal der Zeitpunkt, wo es heißt auch an sich zu denken. Ganz egoistisch, als reine Selbsterhaltung. Schade eigentlich, dass immer erst etwas Schlimmes geschehen muss, ehe man so weit ist. Aber auch das ist wiederum gut, sonst hätte man ja auf der ganzen Welt nur total egoistische Arschlöcher. Sabine Sümmchen fand, dass es von der Sorte weiß Gott schon genug gäbe. Man hat kein Recht, sich durchgängig so zu verhalten. Jeder Mensch sollte versuchen sich auch für den Menschen neben sich zu interessieren. Das kann doch nicht so schwer sein. Scheinbar ist das richtige Maß dafür zu finden, das Komplizierte.

Sabine Sümmchen war sehr für das Maßvolle, Ausgewogene und Normale. Doch wer setzt hier die Maßstäbe? Was ist heute noch normal? Wer maßt sich an, hier die Messlatte zu legen. Dennoch kommt keiner davon. Jeder muss hier eine Entscheidung treffen. Sümmchen seufzt. Ausreichendes Selbstbewusstsein wäre schon ungeheuer hilfreich. Sie würde an sich arbeiten, um es zu gewinnen.

Paul würde gewiss seinen Weg gehen und sich durchsetzen, notfalls die Firma verlassen. Das wäre ein Riesenverlust für diese, denn er war ein ausgezeichneter Fachmann, der wichtig und unwichtig unterscheiden konnte, der mit den Mitarbeitern und den Kunden gleichermaßen maßvoll umzugehen verstand, dem eine wesentliche Eigenschaft trotz persönlichem Leid nicht verloren gegangen war: die menschliche Freundlichkeit. Sabine Sümmchen würde sich einen so ausgestatteten Chef wünschen.

Warum sitzen immer Arschlöcher an den Haupthebeln? Ist dies die zwangsweise unheilvolle Entwicklung von Menschen, die auf der oberste Treppe stehen. Muss man so werden, wenn man gewinnen will? Ist der Preis der Verlust der Menschlichkeit? Sabine Sümmchen war ein wenig illusionär veranlagt. Sie möchte nicht die bedrückende Konsequenz aus dem Erlebten ziehen müssen, dass der Preis für geschäftlichen Erfolg so hoch ist und vor allen Dingen, dass die meisten Menschen, die eine diesbezügliche Chance bekommen, bereit sind ihn auch zu zahlen. Sie verändern sich, sie lassen alles, was ihnen vorher als hoch und heilig galt, hinter sich und mutieren mehr oder weniger zum Scheusal. Familien brechen auseinander. Man geht mit Rechtsanwälten aufeinander los, manche ermorden sich, um nichts zu verlieren oder um alles zu bekommen. Nichts Menschliches ist noch erkennbar. Oder ist dies das eigentliche Wesen der Menschlichkeit? Ist der Mensch in Wirklichkeit nur geld- und machthungrig?

Natürlich nicht! So ist es nun auch wieder nicht. Sümmchen glaubte fest daran, dass es da sicher noch etwas dazwischen gäbe. Dennoch zeigen sich Allerorten gewisse Tendenzen. Man sollte sie nicht verniedlichen. Das Böse lauert immer und überall!
Apropos…im Chefzimmer hörte man wieder lautes Stimmengewirr. Die Leute aus dem Freilandsektor waren zum Gespräch gebeten worden. Offensichtlich ging es heiß her. Das war nicht immer so, meistens gab es bei den Beratungen kaum Gegenrede. Der neue Leiter des Bereiches war mit dabei. Man hatte mit ihm lange die gleiche Masche wie mit seiner Vorgängerin zelebriert: Klein halten, schikanieren, drücken, Fehler nachweisen, Zwietracht säen.

Unsere Buchhalterin kannte die Vorgehensweise der Chefin, nur das Verstehen fiel ihr nach wie vor sehr schwer. Was sollte das immer wieder? Der junge Mann war nicht so duldsam. Er hatte sich sein Berufsleben ganz anders vorgestellt. Nachdem er alle Gepflogenheiten kennen lernte und am eigenen Leib bald schmerzhaft spürte, dass hier keine Fairness zu erwarten sei, beschloss er weiter zu ziehen. Er hatte täglich zwei bis drei Überstunden geleistet, selbstverständlich keine Anerkennung, keinen Dank, auch keine Bezahlung erhalten. Im Gegenteil, ständig pfuschte die alte Chefziege in seine Arbeit und hetzte die Floristinnen gegen ihn auf. Es gab nur Rivalitäten: Freiland gegen Blumenladen, Großkundenbereich gegen Laufkundschaftsektor und Baumschule als spezieller Chefliebling über alles.
Die persönlichen und speziellen Kämpfe der verfeindeten Geschäftsführer, die besonderen Spielchen der mit allen auf Kriegsfuß stehenden Chefin, dies alles vergällte ihm gründlich die Lust, sich auch weiterhin mit Haut und Haaren einzubringen. Er suchte sich etwas Anderes und fand es. Eine Kündigung, die zweite nach Jahresfrist für diesen Bereich, lag auf dem Schreibtisch des Gartenführers.

Herbert, der gute Gärtner, sagte dazu nichts, noch nicht. Er würde noch mehr arbeiten müssen, wenn der Leiter des Freilandes wegging. So viel war klar. Der Chef würde so schnell keinen Ersatz finden. Neu war, dass alle Leute über die Wintermonate entlassen wurden, in dem Glauben gelassen, dass man sie zum Frühjahr wieder einstellen würde. Das war zum Teil ein Irrglaube. Herbert war innerlich böse und enttäuscht. Er hatte immer gegeben und nun das. Jetzt war es an der Zeit zu kämpfen. Ihm war dieses Kämpfen fremd, doch es musste nun sein.

Er würde notfalls zum Arbeitsgericht gehen, sagte er zu Sümmchen. Man dürfe ihm nicht kündigen, auch wenn versprochen wird, dass er im Frühjahr wieder kommen dürfe. Er würde sein Geld haben wollen, seine vielen Überstunden bezahlt bekommen oder eben wie immer mit Freizeit abgelten. Und außerdem war Herbert noch viel mehr verärgert darüber, dass man gegen ihn beim Bischof wühlte, weil man ihm den Kontakt neidete.

Vielleicht gäbe es für ihn dort eine Perspektive. Er wollte nun mehr über sich und seine Zukunft nachdenken. Musste er sich diese Behandlung länger bieten lassen? Man kann sich doch nicht pausenlos in Verteidigungsbereitschaft halten. Der Chef hatte ihm verboten, eine seiner Holzfiguren im Gewächshaus anzubringen. Angeblich käme dazu eine Beschwerde von Kunden, was aber nicht stimmte. Es verhielt sich ganz anders. Der Chef hatte Angst, dass Herbert private Aufträge erhielt, wenn seine Exponate gesehen wurden. So ein Unsinn!

Das missgünstige Misstrauen des Chefs begann auszuufern. Sabine Sümmchen hätte auch sehr gerne das eine oder andere von ihr selbst gemalte Bild aufgehängt, hätte vielleicht mit Herbert zu einer besonderen Veranstaltung gerne eine Ausstellung organisiert. So vieles hätte man im Interesse der Firma auf die Beine stellen können und es würde kein zusätzliches Geld kosten.

„Das vergessen sie mal ganz schnell, Frau Sümmchen“, sagte Herbert.
„Man gönnt den einfachen Mitarbeitern hier nichts und die wohlwollende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit schon gar nicht. Die sind grenzenlos selbstherrlich. Sie sehen nur sich und damit sind sie offensichtlich völlig überfordert, denn sie haben eine Menge Arbeit zu leisten, in dem sie sich täglich zu zerfleischen trachten. Im Namen der Nächstenliebe versteht sich. Sie werden irgendwann zu büßen haben. Vielleicht gibt es ja eine ausgleichende Gerechtigkeit. Einmal müssen sie sich verantworten …für alles.“

Herbert war ein gläubiger Christ, deshalb sagte Sabine Sümmchen nichts zu solchen Thesen, aber sie verstand, was er meinte, hatte sie doch auch ihre Illusionen, ihre Zweifel, Fragen und ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Nur dass der liebe Gott, an den sich hier so viele in immer wieder naiv anmutendem Glauben klammern, ausgerechnet irgendwann alles glatt ziehe, und dass dadurch Irgendjemand bereits im Vorfeld seine Verhaltensweisen ändern würde, schien ihr mehr als fraglich.

Menschen dieses Schlages war es doch in Wirklichkeit scheißegal, was da vor dem viel erwähnten jüngsten Gericht sich eventuell abspielen würde. Man beichtet, Gott weiß was und tut Buße. Damit ist doch alles geregelt. Das Gewissen ist befriedigt. Was soll also groß passieren. So sind halt die Menschen, die die Menschen vergessen, sich selber tragischerweise inklusive.

„Wenn die so weitermachen, wird irgendwann die Firma den Bach runtergehen“, spekulierte Sabine Sümmchen. Vermutlich würden all die guten Leute, falls sie ein Loch erwischen, sich vom Acker machen. Sümmchen spielte auch immer wieder mit dem Gedanken. Sie hatte aber noch keinen brauchbaren Plan, keine reale Perspektive. Wenn sie sich vorstellte, dass sie in dieser Firma vielleicht die Letzte sein könnte, die hier die Tür zu schlug. Nein und nein!

Sie hatte inzwischen in ihrem ganz privaten Leben eine erstaunliche Begegnung. Ein Mann interessierte sich für sie, was im Prinzip nichts Ungewöhnliches zu sein scheint, dennoch war es ungewöhnlich, denn er tauchte quasi aus dem Nichts auf, wenn man einmal das große Internet als Nichts bezeichnet. Kurz, es entwickelte sich eine so seltene wie genauso wundervolle Beziehung. Alle Pärchen denken so am Anfang, doch diese Geschichte bekam immer mehr Gesicht, auch Hand und Fuß. Sabine Sümmchen fühlte sich nun wohler und gestärkt, fühlte ein wachsendes Hinterland. Das war neu und gab Selbstbewusstsein.

„Heute beginnt der erste Tag vom Rest meines Lebens“. Der Satz stammte nicht von Sabine Sümmchen, sie hatte ihn irgendwo gelesen. Seltsam, als sie diesen Mann kennen lernte, dachte sie etwas Ähnliches. Das heißt doch nichts anderes, als dass man vermeint, es begänne nicht nur wieder ein neuer Abschnitt, sondern gewissermaßen die Endphase.
Die Endphase…das klingt pathetisch, bedeutsam, sehr absolut aber auch fast ein wenig drohend. Man weiß nicht, ob es erfreut oder eher erschreckt. Besser ist wohl, man lässt solche Phrasen einfach weg und denkt nicht weiter darüber nach. Dennoch, bezogen auf ihre Lebenssituation und ihre neue Beziehung, fühlte sich dieser Satz gut an.

Sie las einen weiteren Satz, der sie sehr beeindruckte, wenn auch die Botschaft sie schon lange zuvor über andere Quellen erreichte. Sie fand den Satz dennoch erwähnenswert und schrieb ihn in ihr Tagebuch.

„Wenn wirklich die Hoffnung auf eine Perspektive aufgehört hat, gewinnt man eine neue Lust am Augenblick.“

Er ist positiv, obwohl von Hoffnungslosigkeit die Rede ist. Doch es scheint nur eine halbe Wahrheit zu sein, eine Milchmädchenrechnung, oder trifft nur für extreme Schicksale wörtlich genommen ohne Einschränkungen zu. Es gibt immer Perspektiven, welche auch immer. Es gibt sie in jedem Fall, man kann nur ihren Umfang, ihre Güte zu wenig werten. Außerdem ist die so genannte Perspektivlosigkeit meist nicht mehr als ein momentanes individuelles Empfinden.

Doch kann man nicht Lust am Augenblick empfinden auch mit der Hoffnung auf eine Perspektive? Aber es wird von einer neuen Lust gesprochen. Vielleicht reicht es zunächst einmal, den Augenblick zu schätzen und ihn dadurch genussvoll annehmen zu können, weil man nie weiß, ob er sich so wiederholen würde, was nicht heißt, dass wir vor lauter Lust am Augenblick alle Verführungen annehmen müssen. Das wäre der Anfang vom Ende. Man sollte dies allmählich wissen.

Die kurze fragwürdige Lust, würde alles zerstören. Die Lust am Augenblick kann ansonsten dem Schicksal einer Eintagsfliege gleich, tatsächlich so einige Perspektiven verhindern. Gemeint sind die vielen Flirts, die das Leben immer wieder bereithält. Das sind geradezu selbstzerstörerische Augenblicke…die neue damit gewonnene Lust des Augenblicks ist dadurch nur einen Scheißdreck wert.
Mancher Mann, auch viele Frauen machen damit alles kaputt, was ihnen einmal wichtig war oder eigentlich ist. Sabine Sümmchen wollte das nicht mehr erleben müssen, weiß sie noch sehr gut, wie weh es tut, wenn die so viel gepriesene Lust am Augenblick die Partnerschaft zerstört, wenn sie denn auch so furchtbar einseitig ist. Für sie gehörte zur neuen Lust immer und in jedem Fall zwei Menschen, die gleichermaßen von ihr kosten und sie genießen.

Auf anderen Ebenen gibt es sicher auch das unschädliche Genießen des Einzelnen ganz für sich. Warum auch nicht? Sie aber wollte ihren Partner, den sie zu lieben begann, immer teilhaben lassen an ihren Genüssen, sie würden doch sonst nur halb so schön sein. Deshalb begehrte sie unter anderem auch zu zweit zu leben. Also heißt die Devise: Neue Lust nur zu zweit!


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Tag der Veröffentlichung: 09.12.2011

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