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„Unser Erbsenzähler war bestimmt wieder im Internet und hat damit die Biester ins Intranet geholt. Wir sind ja nun alle vernetzt. Seien sie bloß froh, dass ihr PC außen vor ist. Mit der neuen Software kennt sich keine Sau aus. Fragen sie mal Ede, der hat Ahnung. Bloß den werden sie kaum erwischen, der ist ja nur auf Achse.“ Er stöhnte und saß vergrämt vor seinem Bildschirm. Jeden Abend saß Paul im Büro und versuchte aufzuarbeiten, was am Tage nicht geschafft wurde. Auch er musste auf den Baustellen sein, denn er wurde verantwortlich gemacht, wenn die Kunden meckerten. Er war der Letzte, der nach Hause fuhr. Manchmal hatte er Angst nach Hause zu fahren.

Pauls Frau war eigentlich aus Norddeutschland. Sie kam nicht so recht klar mit den Bayern. Sie fand sich eigentlich überhaupt nicht mehr zurecht, hatte keine Freundin, fühlte sich sehr einsam. Paul arbeitete so viel. Alle Bekannten hatten sich zurückgezogen. Paul hatte erzählt, dass die neue Buchhalterin auch aus dem Norden käme. Vielleicht sollte sie die Frau einfach einmal anrufen. Sie waren doch auch in einem Alter. Sie fasste Mut und wagte es. Sümmchen wusste von dem Alkoholproblem, dennoch und warum auch nicht, unterhielt sie sich ein bisschen mit der Frau.

„Wollen wir uns einmal treffen?“, fragte diese gerade. Man könnte doch einmal gemeinsam essen gehen oder ein Glas Wein trinken. Sabine Sümmchen wusste nicht recht. Sie kannte die Sache mit dem Alkohol. Ihr Exmann hatte damals auch ein Riesenproblem damit und Sabine Sümmchen wollte im Prinzip von solchen Geschichten nichts mehr wissen. Aber darf man deswegen jemand anderes vor den Kopf stoßen? Na gut, sie ließ sich breitschlagen, ahnend, was käme.
Die Frauen trafen sich. Pauls Frau sagte, dass Paul von diesem Treffen lieber nichts wissen sollte, er wäre so komisch geworden. Ihre Ehe würde gar nicht mehr klappen. Sie bestellte sich einen klaren Schnaps. Sabine Sümmchen nippte an ihrem Weinglas. Die Frau zündete sich eine Zigarette an und trank ein großes Glas Bier und noch einen weißen Schnaps. Gegessen hatte sie nichts. Sie begann zu sprechen und vertraute Sümmchen die intimsten Sachen an. Es wurde peinlich. Man kannte sich doch überhaupt nicht und der Mann war ihr Arbeitskollege. Sie verstand nun, warum Paul es nicht gerne sah, dass seine Frau ausging.

Inzwischen war die Frau schon ziemlich bedüdelt. Sie rief bei sich zu Hause an. „Er ist immer noch nicht da. Immer kommt er so spät, wahrscheinlich hat er eine Freundin. Was soll man machen? Sagen sie doch was Frau Sümmchen.“
Sie sprach mit sehr schwerer Zunge.
„Das Leben ist Scheiße“, sagte sie laut und rief durch den Raum, dass sie nichts mehr zu trinken hätte. Nicht einmal das würde klappen. Sie fing nun an zu weinen. Sabine Sümmchen holte die Jacke und versuchte sie zum Aufbruch zu bewegen. Sie zahlte schnell alles und sagte, dass sie nun auch nach Hause müsse, ihre Mutter würde Pflege brauchen, sie wäre ja schon alt. Das mit der Pflege stimmte zwar nicht ganz, aber eine Notlüge sei gestattet, dachte Sümmchen nun schon sehr besorgt.

Hoffentlich schaffte sie es, die Frau nach Hause zu bringen. Sie wusste ja nicht, wo sie wohnte. Und was würde ihr Mann sagen, wenn sie ankämen. Hoffentlich dachte er nicht, dass Sümmchen nun auch noch seine Frau verführt hatte, in einer Gaststätte zu trinken. Die Frau vom Trinken abzuhalten, war unmöglich. Sie hätte nicht mit ihr ausgehen sollen. Und dann diese privaten Geschichten.

Sabine Sümmchen fand die Situation irgendwie beklemmend. Jedenfalls lieferte sie die betrunkene Frau vor ihrem Haus ab und wartete im Auto bis sie hinter der Haustür verschwand. Die folgenden Wochen waren schwierig. Pauls Frau hat offensichtlich die Bekanntschaft mit Sabine Sümmchen als äußerst wohltuend und für sich sehr hilfreich empfunden. Sie wollte sich wieder verabreden und rief täglich an. Sümmchen wollte keine weitere Begegnung aber die Frau tat ihr auch leid.
Doch auf Mitleid basierend, kann man keine Bekanntschaft oder gar Freundschaft aufbauen. Der Ehemann wollte das nicht, er war ihr Kollege. Sabine Sümmchen hatte keine Lust, sich in fremde Familientragödien einzumischen. Sie fühlte sich auch nicht stark genug, mit einer alkoholkranken fremden Frau fertig zu werden. Therapieren konnte sie diese sowieso nicht. Sie musste also ganz deutlich der bedauernswerten Frau sagen, dass sie keine weiteren Treffen möchte.

Ja, aber es nütze nicht viel. Man könne doch hin und wieder telefonieren bat die Frau. Ja, sicher! Aber am Arbeitsplatz würde es nicht passend sein. Der Chef duldete doch keine privaten Gespräche. Ob sie denn privat am Abend vielleicht einmal sprechen könnten? Sümmchen konnte es nicht abschlagen. So wurde sie fast täglich nach Feierabend in endlose Gespräche verwickelt, manchmal war auch das kaum möglich. Die Frau hatte wieder getrunken, wollte aber telefonieren. Sabine Sümmchen wusste sich nicht anders zu helfen, sie konnte es nicht mehr ertragen, so sprach sie deswegen Paul an.

Ja, er hätte schon gemerkt, dass seine Frau dauernd telefonieren würde. Er hätte es auch an der Rechnung gesehen und bereits herausgefunden mit wem sie da Dauergespräche führte. Er bedankte sich für die Engelsgeduld. Na ja, druckste Sümmchen, eigentlich hätte sie schon gar keine Geduld mehr.
“Ich versteh schon, “ sagte Paul gequält. „Ich werde versuchen, meiner Frau das Anrufen bei ihnen abzugewöhnen. Sie hat das so mit allen Bekannten gemacht und zwar solange, bis sie es mir sagten, so wie sie jetzt. Kein Mensch macht das auf Dauer mit.“ Er stöhnte leise und bat Sümmchen um Entschuldigung.
„Nicht dafür“, erwiderte diese „ich weiß da so Einiges. Ich hatte ja auch einen ähnlichen Fall ganz in meiner Nähe. Sie ging aus dem Zimmer.

Der arme Mann, dachte sie. Aber helfen musste er sich alleine. So ist das halt und Sümmchen wusste das ganz genau.
Sümmchen saß sinnend an ihrem Schreibtisch. Sie hatte einen Brief erhalten, dass man ihren Widerspruch nicht anerkennen würde und die Abmahnung durchaus als gerechtfertigt ansah, aber es gestatten würde, dass der Widerspruch zum Vorgang geheftet wird. Das war eigentlich selbstverständlich, doch so formuliert, schien es fast eine Gnade zu sein.
Sie würde es nun dabei bewenden lassen. Was bleib ihr übrig? Zum Arbeitsgericht gehen? Nein, das wollte sie nicht, es wäre beschwerlich und ihre Situation würde sich mit Sicherheit kaum bessern. Es wäre nur noch mehr Ärger programmiert. Es gab nur die Alternative, weiterhin eisern auszuhalten, sich nebenbei nach einer anderen Stelle umzuschauen, was allerdings nicht sehr Erfolg versprechend war. Es wäre ein Zufall. Doch im Leben gibt es Zufälle. Wer weiß das nicht.

Ede vertraute ihr an, dass er eventuell auch eine andere Stelle für sich gefunden hätte. Er wäre bereits am Verhandeln und der Chef wüsste es bereits.
„Wieso haben sie es ihm gesagt?“ fragte Sümmchen. “Er wird es ihnen vermasseln.“ „Nö, im Gegenteil, er hat mir mehr Geld geboten, aber ich würde lieber auch einmal Urlaub nehmen wollen und mir ein wenig mehr Freizeit für Privates wünschen. Es müsste jemand eingestellt werden. Man sollte die Aufgaben splitten, damit alles menschlicher werden würde. Und ich möchte auch einmal ein gutes Wort hören, “ sagte er. Das wäre doch ein normaler Wunsch.

„Glauben sie an den Weihnachtsmann?“, fragte Sümmchen zweifelnd.
„Na, vielleicht kann auch Paul mehr übernehmen.“
„Hm“, Sümmchen schüttelte den Kopf. Der würde doch schon arbeiten wie blöde und hätte auch Überstunden ohne Ende. Die Idee ist sicher schnell abgeschmettert. Der würde nicht noch mehr leisten können. Irgendwo hat doch jeder natürliche Grenzen. Auch wenn Paul ein Riesenarbeitstier war. Außerdem hatte der noch ein nicht zu unterschätzendes privates Päckchen zu schleppen. Sehr tragisch seine Ehe. Pauls Frau hatte sich das Leben genommen als er auf einer Dienstreise war. Er hatte es zu Sabine Sümmchen einmal fast beiläufig erwähnt und inständig darum gebeten, ganz normal behandelt zu werden.

Er wollte sein Schicksal nicht in diesem Hause, in der Firma behandelt wissen. Lange genug hätte man ihn gemieden wegen seiner Frau oder das Thema peinlichst ausgespart. Jetzt würde er ein normales Leben führen wollen, es versuchen neu zu beginnen. Sümmchen verstand alles und versprach auch weiterhin mit ihm als guten Kollegen normal umzugehen. Er bedankte sich dafür herzlichst. Damit war das Thema aus der Welt.

Doch Sümmchen war betroffen. Die Frau hatte sie so verzweifelt um Kontakt gebeten und sie hatte sich rausmanövriert, um ihre Ruhe zu haben. Sabine Sümmchen machte sich Vorwürfe. Vielleicht hätte sie doch helfen können. Sie hatte sich schlicht mies verhalten. Ja, die Frau war eine Fremde, aber darf man sich deshalb aus der Verantwortung stehlen. Doch war sie überhaupt verantwortlich? War sie verpflichtet, sich einzumischen? Es ist so grausam, wenn man sich so alleingelassen fühlt, keiner bereit ist, die Hand zu reichen. Der Mann ist selten da. Die Frau muss furchtbar schlimm gelitten haben. Dennoch, der Mann sicher mit gleicher Intensität.

Er vergrub sich in seine Arbeit in der Hoffnung, sie würde betäuben. Sie hatte aber nun Tabletten geschluckt, wollte nie mehr aufwachen, hatte Angst vor dem Leben. Der Alkohol hat nicht geholfen, er betäubte nur zeitweilig und bewirkte nur mehr Einsamkeit, mehr Isolation. Alkohol ist nie eine Lösung, jeder sagt es, alle wissen es und trotzdem greifen so viele arme Geschöpfe nach diesem Mittel, um sich ein paar Stunden einer Illusion hingeben zu können. Dann kommt der Katzenjammer. Das Schlimme ist, die Betroffenen wissen ganz genau, wie der sich anfühlt: nämlich mehr als beschissen. Sie lassen sich auch leider so oft nicht helfen, sie leugnen die schreckliche Abhängigkeit. Sie sind hoffnungslos. Saufen wieder und wieder. Ein Teufelskreis.

Sabine Sümmchen grübelte. Nein, sie würde sich jetzt nicht mit Vorwürfen zerfleischen, es würde keinem nützen. Dennoch tat ihr die Tragödie der fremden Familie sehr leid, obwohl klar war, dass Mitleid alleine nie ausreicht. Sie erlaubte sich dennoch Mitgefühl zu empfinden. Was wären die Menschen ohne dieses? Viel weniger menschlich. Es mangelte ohnehin hier an allen Ecken und Kannten an diesem so lebenswichtigen Attribut.

Paul muss nun für sich einen gangbaren Weg finden. Er meinte zu Sabine Sümmchen, er würde nicht mehr in seelischer Not, nur Trost in der Arbeit suchen wollen. Er würde nun nach dem Schönen suchen, sich Ausstellungen anschauen, in der Freizeit unter Menschen gehen, sich Freizeit genehmigen, in andere Länder reisen. Er würde nun erst leben wollen. Der Chef wird sich noch wundern. Er wäre nun kein Fußabtreter mehr und er würde sich nicht mehr ducken, wenn unangebrachte Kritik käme. Wenn er denn hier in dieser Firma nicht mehr genehm sein sollte, scheiß drauf. Notfalls würde er seine Wohnung verkaufen. Wenn der Chef Wert auf sein Können auch für die Zukunft legt, dann solle der sich gefälligst ihm gegenüber wie ein Mensch benehmen.

„Haben sie ihm das so gesagt?“ erkundigte sich Sabine Sümmchen interessiert.
„Na, ja, so Tröpfchenweise schon. Er wird sich allmählich daran gewöhnen müssen, dass der Paul sich ändert. Wenn nicht, dann ist es sein Pech. Er wird bei fehlenden Einsichten eines Tages völlig alleine dastehen. Ede ist wohl auch schon am Überlegen hier abzuhauen. Aber er wird sich nicht trauen.

FORTSETZUNG FOLGT

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Tag der Veröffentlichung: 08.12.2011

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