Ob es um das geführte Gespräch ging? Ob er ihr Vorwürfe machte wegen der Verleumdung? Scheiß drauf. Sabine Sümmchen wollte nicht mehr daran oder darüber nachdenken. Sie hatte jetzt die Schnauze gestrichen voll und wollte in Ruhe ihren Kaffee trinken und sich sammeln, um konzentriert arbeiten zu können. Fehler werden ja nicht verziehen und sie wollte sich keine echten Fehler leisten. Wobei sie natürlich dieses nicht völlig ausschließen würde, denn schließlich war sie ein Mensch. Sie wollte auch einer bleiben.
Doch Gehässigkeit färbt ab. Wer weiß das nicht. Man wünscht so in Gedanken seinen Peinigern schon reichlich Schlimmes an den Hals. Man müsste ihnen eine Lehre erteilen, dachte Sümmchen manchmal. Kommt Zeit, kommt Rat! Sie schlürfte ihren Kaffee und schaute aus dem Fenster. Die Bauleiter mit ihren leeren Drohungen hinter der vorgehaltenen Hand bewirken damit auch nichts. Herbert ist zu lieb und die Floristinnen sind viel zu schissig, auch miteinander zerstritten. Ihr, dem Sümmchen, würde aber schon noch zu gegebener Zeit etwas einfallen.
Ist man ein wenig älter, denkt man lange über vieles nach und wägt ab. Muss man wirklich handeln und wem nützt es? Aber vielleicht ist dieses Nachdenken auch nur eine Wesensart. Sabine Sümmchen ist eine, die stets ewig sinnt und grübelt, alles von allen Seiten beleuchten möchte. Sie braucht viel Zeit, ehe sie sich entschließt. Das mag nicht immer gut sein und es schützt auch nicht unbedingt zuverlässig vor Dummheiten, aber es erleichtert die Sache durchzuziehen, welche auch immer, wenn es denn soweit ist.
Sümmchens Mutter wurde nun 82 Jahre alt. Donnerwetter! Sie war noch sehr gut beieinander, körperlich und geistig. Wie schön ist es, wenn man das von sich sagen kann in diesem hohen Alter.
„Wer weiß wie es mir in 30 Jahren ergeht und ob ich überhaupt so weit komme“, dachte Sabine Sümmchen.
“Aber eines ist gewiss, hier auf diesem Stuhl in dieser bekackten Firma sitze ich nicht mehr.“ Der Entschluss stand fest, felsenfest.
Dennoch ist es immer wieder merkwürdig, auch bedrückend, wenn man nun die Gewissheit hat, dass die Tage gezählt sind. Es scheinen immer deutlicher Grenzen sichtbar zu werden. Jetzt, schon in ihrem Alter, fürchtete sie sich auch vor dem Tag oder vor der Zeit, wenn sie vor meinen Augen erscheinen. Je jünger man ist oder sich fühlt, umso weiter ist der Endpunkt des Lebens für uns entfernt. Das ist oder kann ganz falsch sein, denn die Stunde des endgültigen Abschieds ist meist völlig ungewiss. Sie kann nahe oder weit, weit weg sein. Das eigentliche Mysterium des Lebens ist wohl sein Ende. Wenn man damit nicht umzugehen versteht, dann müsste man sich umbringen. Das ist allerdings pervers und absurd, es gibt zum Glück auch unseren ureigenen Selbsterhaltungstrieb. Er ist weitaus stärker als das Begehren, dem Mysterium das Wasser abzugraben und so das große, manchmal unerträgliche Geheimnis nebst allen bekannten Leiden und Problemen schlagartig zu beenden.
Das Leben ist zu schön. Man muss es nur bemerken können, was ganz sicher von Fall zu Fall schwierig sein kann. Die positive Sichtweise ist es scheinbar, die alles viel leichter und erträglicher werden lässt. Man hat sie leider nicht immer. Sümmchen nahm sich vor, daran zu arbeiten. Es ist eigentlich keine richtige Arbeit, es ist mehr ein Nachdenken über das Leben und seinen Sinn. Wahrscheinlich denkt man mit zunehmenden Alter mehr und mehr darüber nach, auch weil man nun die Zeit dafür hat und natürlich auch die Reife. Es ist schwer, sich daran zu erinnern, dass man früher dafür soviel Gedanken verschwendet hätte, obwohl es ganz sicher sehr angebracht wäre. Man lebte so in den Tag und ließ sich jeden Tag neu auffressen und wieder ausspucken, bis schließlich fast alles ungenießbar wurde. Zum Glück nur fast, denn scheinbar hatte man immer noch ein paar Teilchen übrig behalten, die regenerierbar sind. Das Wunder des Lebens.
Zunächst hatte sich der Revisor angekündigt, kein Wunder des Lebens, nur eine turnusmäßige Prüfung. Der Gartenführer reagierte nervös und belehrte Sümmchen, wie man einen solchen wichtigen Mann zu behandeln hätte. Man müsse ihm alles auf einem Tablett servieren und er benötige beste Arbeitsbedingungen, natürlich jede Unterstützung sowie gute Bewirtung. Ja, natürlich, Sabine Sümmchen würde schon fertig werden mit diesem Revisor. Sie hatte früher schon sehr viele Prüfungen über sich ergehen lassen müssen. Sie versicherte, dass es keinen Anlass zur Sorge gebe. Alles ginge seinen ordnungsgemäßen Gang.
„Der Chef hat die Hosen voll“, konstatierte Sümmchen für sich. Sie war deshalb nicht beunruhigt, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. So bereitete sie alles für die Prüfung vor. Er wollte mehrere Jahre Löhne und Abgaben prüfen. Aha, die polnischen Saisonarbeiter machten dem Chef Sorge, die geringfügig Beschäftigten ebenso. Sabine Sümmchen erhielt Anweisung, die Stundenzettel neu zu schreiben. Oh, oh, der Chef fertigte Muster an. Nanu! Sümmchen verwahrte diese Muster gut, denn sie waren für sie als Weisung aufzufassen. Man weiß ja nie! Der Prüfer kam und saß tagelang über den Akten, hatte die eine oder andere Frage. Alles stimmte, keine Unregelmäßigkeit!
Der Chef erkundigte sich täglich ängstlich, ob es etwas Besonderes gäbe. Nein, Sümmchen beruhigte. Alles bestens. Der Prüfer sagte als er fertig war, alles wäre in Ordnung, er würde ein entsprechendes Protokoll erstellen und er bedankte sich artig für die gute Zusammenarbeit mit Frau Sümmchen.
„Sagen sie das ruhig meinem Chef bei der Abschlussbesprechung“, bat Sabine Sümmchen lächelnd. Natürlich würde er das tun. Na dann, vielen Dank und auf Wiedersehen.
„Wenn es geht nicht so bald“, scherzte Sümmchen. Sie war ja auch froh, dass die Prüfung vorbei war. Es war ein Heidenaufwand, die vielen Ordner und Akten herum zu schleppen und wieder einzusortieren. Auch die Fragen zu beantworten kostete Zeit, aber das musste wohl sein. Jedenfalls gab es keine Beanstandungen. Der Chef wird erleichtert sein, glaubte Sümmchen.
Der Mann verabschiedete sich freundlich und meinte noch zu Frau Sümmchen: „Sie müssen noch in einigen Personalakten die Lohnsteuerkarten einheften. Ich habe das markiert mit einem kleinen Zettel.“ Sie würden fehlen, aber das wäre nicht Gegenstand seiner Prüfung. Es sei nur ein Hinweis. Sie bedankte sich für den Tipp und dachte, die Leute haben die Karten wahrscheinlich vergessen abzugeben. Es war Bringepflicht. Sie würde also mahnen müssen. Verdammt! Immer musste man allen hinterher rennen. Passiert war ja zum Glück nichts. Sie rief erst einmal die Betreffenden an und mahnte. Ja, oh Gott, OK, hieß es.
Der Chef wollte sich, bevor die Akten weggeräumt wurden, noch einmal mit den Personalunterlagen befassen. Er würde sie eine zeitlang benötigen wegen der Löhne, hieß es. Na gut, Sabine Sümmchen war ein wenig unruhig wegen der fehlenden Lohnsteuerkarten.
Aber der Prüfer war ja weg und das Protokoll würde positiv ausfallen. Es vergingen drei Wochen, die Personalakten waren immer noch beim Chef. Schließlich lagen sie wieder auf Sümmchens Schreibtisch mit einem Zettel, was zu erwarten war: „Bitte fehlende Lohnsteuerkarten für die Herrn XYZ hinzufügen.“ Sabine Sümmchen war ein wenig erleichtert. Sie hatte eigentlich herbere Kritik erwartet. Sie hätte eher die Säumigen anmahnen müssen. Das war ihre einzige Schuld. Aber es war ja alles gut. Die Lohnsteuerkarten tauchten schnell auf, obwohl es in zwei Fällen hieß, wir haben sie doch abgegeben. Das waren aber nur Schutzbehauptungen. OK, vergeben. Damit waren die Personalakten vollständig.
Es vergingen Wochen. Für Sümmchen war der Fall erledigt. Plötzlich erhielt sie gewissermaßen aus heiterem Himmel einen Brief. Er lag Unheil verkündend auf ihrem Schreibtisch. Eine Abmahnung!
Sie hätte sich einer ernstzunehmenden Pflichtvernachlässigung zu Schulden kommen lassen. Sie hatte es zugelassen, dass Lohnsteuerkarten nicht abgegeben wurden. Sie hätte dieses Versäumnis der Arbeitnehmer dem Geschäftsführer melden müssen und zwar unverzüglich. Diese Abmahnung wäre aktenkundig abzulegen.
Aha, dachte Sümmchen, jetzt will man sie tatsächlich wegekeln oder über die Abmahnstrecke irgendwann feuern. Da kann nur die Alte hinter stecken, vermutete Sümmchen grimmig. Die lässt nicht locker. Scheinbar hatte sie den Chef bearbeitet. Normalerweise hätte er ihr doch sofort nach Entdeckung des „Vergehens“, die Abmahnung übergeben müssen. Er tat das nicht, hatte nur angewiesen, die Karten einzutreiben, dann war dies für ihn scheinbar erledigt. So hatte Sümmchen es zumindest verstanden.
Nun das! Sie war schon wieder den Tränen nahe. Nie in ihrem ganzen Berufsleben und das waren schon mehr als dreißig Jahre, hatte sie eine Abmahnung erhalten. Dazu kam, dass der Fehler in keinem Verhältnis zur Strafe stand. Sie wollte nachdenken. Musste sie sich so etwas gefallen lassen, stillschweigend hinnehmen. Die wollten doch den Krieg, die hielten sie doch für blöd, wenn sie darauf nicht reagieren würde.
Sie legte also schriftlich Widerspruch ein, auch wenn es wahrscheinlich nichts nützen würde. Es war die Alte, die ihr Mütchen kühlen wollte. Der Chef führte schließlich alles aus, um seine Ruhe zu haben, glaubte Sümmchen.
Der hatte nämlich andere Sorgen. Das Geld floss nicht so reichlich. Die Kunden zahlten schlecht, hatten stets Ausflüchte, Beanstandungen, um die Zahlungen zu verzögern. Mit mehreren Großkunden wurde gerichtlich gestritten. Paul und Ede, die Bauleiter, mussten fast täglich Rechenschaft ablegen über Baufortschritte, über die Abarbeitung von angeblichen Mängeln.
Sie hatten die Sachkenntnis, sie verteidigten sich. Der Chef stellte sich nicht vor seine Mitarbeiter. Er machte sie madig, vernachlässigte den Umstand, dass gewisse Kunden, Rechtsanwälte, Professoren, ihre Mittel ausschöpften, um den Firmen zunächst das Geld zu verweigern, was ja bei großen Summen erhebliche Vorteile bringen kann. Es wird ein Mangel gefunden oder halt an den Haaren herbeigezogen und erst einmal die Zahlung ausgesetzt. Man kennt alle Rechtsmittel dafür.
Jeder kleine Arsch zahlt sofort nach erfolgter Leistung. Die großen Arschlöcher handhaben es ganz anders. Dennoch buhlt man allerorten um ihre gnädigen Aufträge. Sie dürfen nicht verärgert werden. Das ist einfach so. Nur ist es nicht die Schuld der Bauleiter. Die sehen es aber nicht ein, dafür den Kopf hinzuhalten. Man schrie sich an. Sabine Sümmchen hörte es durch die Wand und sie spürte die zunehmende Spannung. Jeder war voll von Ärger, jeder hatte seine Variante. Scheinbar begannen die Männer sich auch zu wehren.
FORTSETZUN FOLGT
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2011
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