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„Ja, so kennt man ihn“, sagte Paul. „Unser Chef ist einfach zu gut für die Menschheit.“
„Ich glaube, er ist auch davon fest überzeugt. Die Güte des Herrn ist unermesslich“, meinte Sabine Sümmchen grinsend und klapperte mit den Tassen, um sie in den Spüler zu stellen.
„Sie meinen wohl eher schrecklich. Seine Güte ist zum Kotzen“, bemerkte Ede, dem alles schon wieder furchtbar auf die Nerven ging.
„Was passiert jetzt mit diesen bedauernswerten Würsten, die hier, ach so traurig, in der trüben Brühe schwimmen?“ fragte Sümmchen mit ernster Miene.
„Mir ist das Wurscht“, sagte Ede.
„Ich muss hier raus.“ Er knallte die Tür hinter sich zu. Paul meinte, dass er das Wort Wurst nicht mehr hören könne. Sabine Sümmchen zuckte mit den Schultern, legte den Deckel auf den Wursttopf, räumte alles andere weg und trollte sich. Es war Freitag, der Tag, den alle so liebten. Man sollte ihn sich nicht wegen ein paar lausiger Würstchen vergällen lassen.

In ihrem Büro lag ein großer Zettel auf ihrem Schreibtisch. Oh, Gott, was soll jetzt wieder noch schnell erledigt werden. Eigentlich wollte Sabine Sümmchen ins Wochenende verduften. Die Türen klappten schon oben. Man flog allerseits in den Feierabend aus, in das ersehnte Wochenende. Pfüati, bis Montag, hörte sie die Kollegen froh gestimmt rufen.
Also was wurde von ihr verlangt? Die Chefkrähe begehrte ca. zwanzig ganz bestimmte Ordner des abgeschlossenen Geschäftsjahres. Heute noch! Na gut, Sümmchen nahm die Ordner aus den Schränken und suchte im Lager nach großen Kartons für den Transport. Sie fluchte, denn sie sollte diese dem Chef ins Zimmer stellen, er würde sie dann mitnehmen. Sie zerrte fluchend die schweren Kisten durch den Gang, um sie wie gewünscht zu deponieren. Das kann nichts Gutes bedeuten! Außerdem würde sie zur Ablage wieder einige Ordner nicht zur Verfügung haben.

Schrecklich, die Alte blockierte wieder ihre Arbeit. Sabine Sümmchen hatte sich angewöhnt, immer sofort abzuheften, damit es nicht so viel werden würde. Sie hasste das Ablegen der Belege. Man musste aber Acht geben, dass hier kein Fehler unterlief. Der Chef wurde fuchsteufelswild, wenn er entdeckte, dass eine Rechnung nicht an dem richtigen Platz abgelegt war. Er regte sich über Kleinigkeiten stets furchtbar auf und es gab jedes Mal ein riesiges Gesumse, wie dies wieder passieren konnte.
Sabine Sümmchen wusste da von ganz anderen Vorfällen, die auf völlig falsche Erfassung, die aber so angewiesen war, und entsprechend irreführende Auswertungen zurückzuführen waren. Da war zum Beispiel die Kostenstellenrechnung. Angeblich diente sie der Auswertung der einzelnen Maßnahmen. Man wollte Aussagen über die Wirtschaftlichkeit der Baustellen gewinnen. Nur wurden die auf den Baustellen geleisteten Überstunden, die auch der Maßnahme zuzuordnen wären, hier überhaupt nicht mit erfasst. Die Überstunden wurden im Winter abgebummelt und über einen allgemeinen Topf, den so genannten Kleinbaustellen abgerechnet. Damit war die Kostenstellenrechnung schlicht falsch. Dies schien Niemanden zu stören.

Abgesehen davon, dass Sabine Sümmchen ständig zwischen den Baustellen wild umzubuchen hatte. Der Chef wies das an. Offensichtlich manipulierte er zuweilen.
Natürlich wurden die Leistungen, die Aufwendungen ganz bestimmten Maßnahmen zugeordnet. Das kann eine Buchhalterin nicht immer wissen. Die entsprechende Festlegung trifft der Bauleiter oder der Chef persönlich. Nur wurde hier ständig geändert, weil Fehler unterliefen, Fehler in Größenordnungen und Sabine Sümmchen hatte doppelt Arbeit. Über diese Dinge krähte kein Hahn. Das war etwas Höheres.

Eine Buchhalterin hat hier nichts zu melden, dennoch passte sie auf und wenn ihr ein Fehler auffiel, dann strich sie ihn an und fragte schriftlich, freundlich, ob dies so richtig sei. Das passierte oft. Der Chef ließ korrigieren, wenn es offensichtlich war (sicher zähneknirschend). Es dauerte dann nicht lange, dann entdeckte er auch bei unserem armen Sümmchen einen „eklatanten Fehler“: sie hatte wieder nicht richtig abgeheftet.
„Hans Müller, kommt nach Franz Müller, Frau Sümmchen. H kommt im ABC nach F. Wir finden ja sonst gar nichts mehr, wenn hier nicht Ordnung herrscht. Haben sie etwa immer so falsch abgelegt? Wie kann das nur immer wieder passieren. Sie müssen besser aufpassen, Frau Sümmchen. Sie wissen doch, dass ich soviel um die Ohren habe. Das müssen sie doch wenigstens richtig machen.“

So sprach er in vorwurfsvollem Tonfall wie mit einer Erstklässerin. Sabine Sümmchen stand dann da und überlegte, was sie schlauerweise hier entgegnen könne. Sie entschloss sich zu lächeln und zu schweigen. Bloß nicht aufregen oder sich gar ereifern, es würde nichts bringen. Er hatte halt seine kleinliche Rache für einen ihm nachgewiesenen Fehler haben wollen.
„Ja, sind wir hier im Kindergarten“? fragte sich Sümmchen im Stillen.

„Haben sie das jetzt verstanden“? fragte da der Chef noch einmal.
„Ja, klar doch, Herr Dr. Gartenmeier, F kommt vor H, ich hab’s jetzt endlich gelernt.“ Das war frech und sie grinste auch noch dabei. Der Chef verzog das Gesicht.

Irgendwie schien er doch nicht seine Befriedigung gefunden zu haben. Er ging raus. Biene Sümmchen summte leise vor sich hin. Manchmal hatte sie den Eindruck, mit einem großen trotzigen Kind zu tun zu haben. Aber er war keines, er war und blieb ein Scheusal und seine Alte auch.

Irgendwann standen die vielen Ordner wieder auf Sabine Sümmchens Schreibtisch. Sie waren reichlich mit bunten Zetteln, die lang heraushingen, versehen. Beim flüchtigen Durchsehen, handelte es sich um die üblichen und lächerlichen Beanstandungen in der Ablage und manchmal waren angeblich die Kontierungen falsch oder die Stempel waren nicht an richtiger Stelle gesetzt.

Die Ordner mit den roten Zetteln sahen schlimm aus. Es war eigentlich ein ganz großer Witz, doch die Angelegenheit war nicht witzig, denn die Chefin verbreitete in der Firma, dass die Buchhalterin nichts taugen würde. Nach Durchsicht der Ordner in tagelanger Schwerstarbeit, hätte sie Fehler über Fehler gefunden. Es wäre ein Skandal, dass so eine inkompetente Person in der Buchhaltung arbeiten dürfe. Natürlich erzählte man Sümmchen dies alles brühwarm. Sie ärgerte sich. Das war harter Tobak. Das war üble Nachrede. Sümmchen fühlte sich auch in ihrer Berufsehre verletzt. Sie war nicht inkompetent und die „Fehler“ waren in Wirklichkeit keine echten Fehler. Die Firma hatte dadurch absolut keinen Schaden genommen.

Sie bat um eine Audienz beim Chef. Das hatte sie noch nie getan. Diesmal war unser Sümmchen aber auf 180. Der Chef gewährte einen Termin. Ja, er hätte die Zettel gesehen, aber nicht im Einzelnen überprüft, um was es sich handelte.
„Sehen sie zu, dass sie das in Ordnung bringen, was meine Frau da festgestellt hat“, sagte er.
Sabine Sümmchen zeigte ihm Beispiele so genannter Fehler. Sie hatte sich gut vorbereitet. Die angeblichen Falschkontierungen waren nachgewiesener Maßen richtig und über Doppellochungen oder mangelhafte Klammern brauche man nicht zu reden und schon gar keine Zettel anzubringen, damit es nach umfangreicher fehlerhafter Arbeit aussehe. Und wie er sich das vorstelle, sie hätte jetzt doch durch ihn, den Chef, die und die wichtigen Arbeitsaufträge erhalten, seitenweise Umbuchungen und anderes, was zu dem und dem Termin abzugeben wäre. Sie könne sich jetzt nicht mit völlig überflüssigen, zeitaufwendigen Arbeiten beschäftigen, das müsse er doch einsehen.

Unsere sonst so milde auftretende Buchhalterin hatte einen energischen Ton angeschlagen. Er schien verwundert und antwortete sehr einsichtig, dass seine Frau es doch nur gut gemeint hätte. Sie wäre halt so gewissenhaft und sie würde doch so viel von der Buchhalterei verstehen.

„Wissen sie was, ihre Frau hat es bestimmt nicht gut gemeint“, sagte Sümmchen jetzt sehr böse.
„Sie hat in der Firma herum erzählt, wie unfähig ich sei und dass ich skandalös miserable Arbeit abliefere. Das ist üble Nachrede, die ich mir sehr verbitte. Warum spricht sie nicht mit mir, wenn sie es so gut meint?“
Nun hatte sich Sümmchen doch aufgeregt. Ob das so gut ist? fragte sie sich schon wieder innerlich.

Er war sichtlich unruhig geworden und konnte Sabine Sümmchen nicht anschauen. Die sah ihm wutentbrannt ins Gesicht und wartete einen Moment.
„Also, sie wissen ja dass meine Frau sehr krank ist. Man muss ihr vieles verzeihen. Erledigen sie also erst die wichtigen Dinge und versuchen so nach und nach die Zettel abzuarbeiten und jetzt entschuldigen sie mich. Ich muss ein Telefonat führen.“

Er wirkte etwas geprügelt, versuchte es allerdings zu verbergen. Das Telefonat schien ein Vorwand zu sein. Sabine Sümmchen erhob sich und ging in ihr Büro. So! Ihr war etwas wohler. Jedenfalls hatte sie sich Luft gemacht. Die Leute würden der schlechten Nachrede der Chefin wahrscheinlich sowieso keinen Glauben schenken. Dennoch, man konnte ihr das nicht durchgehen lassen. Der Gartenführer würde dieser Frau, seiner schrecklichen Ehefrau, sicher über dieses Gespräch berichten. Das wird sie allerdings nicht beruhigen. Alles würde noch schlimmer werden. Die würde sich nicht ändern, die nicht. Sie würde wahrscheinlich nur nach neuen Schikanen sinnen.

Sabine Sümmchen war das jetzt egal. Sie musste wenigstens einmal protestieren, ob es jemandem nützte war sehr fraglich. Unsere Buchhalterin fühlte sich jedenfalls für den Augenblick wohler, geradezu erleichtert. Sie war sogar ein wenig stolz auf sich.

Einen guten, duftenden Kaffee hatte sie sich nun verdient. Sie hörte den Chef kurz telefonieren, verstand aber kein Wort, nur den Namen seiner Frau immer wieder. Er hatte sie also angerufen.

FORTSETZUNG FOLGT

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Tag der Veröffentlichung: 05.12.2011

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