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Der Winter verging und die Tage wurden länger. Der Frühling stellte sich ein, der Frost verließ den Boden und damit begann die Gartensaison. Der Chef brauchte Arbeiter. Er holte sie sich jährlich aus Polen. Man musste viele Dinge beachten. Die Meldungen, die unendliche Bürokratie, Besonderheiten. Eine heikle Geschichte, für die unter anderem hier auch die Buchhalterin zuständig war. Man kontrollierte nämlich zuweilen auch die Firmen, um der Schwarzarbeit auf die Schliche zu kommen. Der Chef hatte davor eine Heidenangst.

Sabine Sümmchen verstand nicht, warum der Chef sich so in die Hosen machte. Hatte er denn ständig ein schlechtes Gewissen? Er fürchtete Prüfungen und gab sich fast krankhaft korrekt. Alles musste stimmen: die Aufenthaltsgenehmigungen, die Arbeitserlaubnisse, die Pässe, die besonderen Abführungen an Finanzamt und Versicherung, die Entlohnung, die Kassenmeldungen. Das war doch selbstverständlich, man musste deswegen keine Angst haben. Würde etwas nicht korrekt sein, kann man das ganz sicher immer gerade rücken. Also was soll das Gewese?

Der Chef zahlte den Polen immer Bares auf die Hand. Sie erhielten viel mehr als alle anderen Arbeiter, denn sie zahlten keine Steuern. Das war legitim. Dennoch komisch! Eigentlich sah dieses dem Chef überhaupt nicht ähnlich. Das viele Geld für die Arbeiter aus Polen. Sie erhielten jede Überstunde bar und sofort ausbezahlt. Die fest angestellten Leute, das Stammpersonal, bekamen nichts. Sie durften aber ihre Überstunden wenigstens erfassen lassen. Die Buchhalterin führte darüber auf Karteikarten einen Nachweis. Manche hatte über 500 Mehrstunden. Das war doch hochgradig ungesund. Warum ließen die Leute im gewerblichen Bereich dieses zu? Sabine Sümmchen wunderte sich, sagte aber nichts, hielt sich akribisch an alle Vorschriften.

Sie wusste allerdings, wann die Saisonarbeiter aus Polen das Land wieder zu verlassen hatten, denn sie hatte die Genehmigungen schließlich eingeholt, für jeden Einzelnen. Und doch sah man die Polen oft sehr viel länger hin und wieder auf dem Firmengelände herumlaufen und arbeiten. Meist waren sie ja auf den Baustellen. Aber es war wirklich komisch. Sie waren nicht alle zum Stichtag verschwunden, erhielten aber kein weiteres Geld. Wahrscheinlich arbeiteten sie doch irgendwie schwarz oder insgesamt am Ende zum Billigtarif, hatten schon im vorab den Lohn erhalten. Keiner sah da durch. Eines war jedoch gewiss wie das Amen in der Kirche, der Chef schenkte niemanden nur das Geringste.

Na ja, Sümmchen wollte da nicht tiefer eintauchen. Lieber nicht! Sie wusste nur, dass hier nicht alles so koscher war, wie man vorgab. Die deutschen Arbeiter blieben oft nicht sehr lange in der Firma. Sie waren nicht zufrieden. Es hieß offiziell, sie wären nicht belastbar und hätten nur Forderungen. Manchmal wurden sie gefeuert und manchmal gingen sie auch von selbst oder kamen zur Saison nicht wieder. Es brodelte also auch im Bereich der Arbeiter, nicht nur bei den Bürohockern. Die gewerblichen Arbeitnehmer werden noch weniger als Menschen behandelt, hieß es. Aber es gäbe ja genug. Sie kommen aus dem Osten (aus der ehemaligen DDR, meist aus Thüringen und Sachsen) und halt aus Polen. Mit denen kann man noch viel machen.

Die regionalen Arbeiter waren jedenfalls stinksauer, aber machtlos. Nur wenige schafften es, dabeizubleiben. Die Meisten suchten bei passender Gelegenheit das Loch und verschwanden. So war der Chef immer auf der Suche nach frischen Leuten. Die Fluktuation war bedenklich, der Druck, Umsatz zu bringen sehr hoch. Es gibt Wettbewerber. Sabine Sümmchen kannte das Lied. Ganz früher in einem anderen Leben war sie auch einmal selbständig und hatte größte diesbezügliche Sorgen. Somit wunderte sie sich schon, dass die Geschäftsführung sich in der Situation noch um das Klopapier kümmerte und sich damit aufhielt, Leute zu moppen.

Das widersprach jeglicher Vernunft. Sie schadeten sich augenscheinlich selber, der Firma, den Leuten sowieso und wollten es nicht wahrhaben. Sie trieben es immer ärger.
Sabine Sümmchen erhielt nun neuerdings jeden Monat die Anweisung, die Löhne zu überweisen. Eigentlich war das stets am sechsten Tag des Folgemonats fällig und es erfolgte also automatisch ohne gesonderte Anweisung. Nein, er schob die Zahlungen immer weiter nach hinten raus. Das brachte für die Firma nichts, denn die Löhne mussten gezahlt werden, dennoch gab es dazu diese strenge Anweisung. Jedes Mal gab es deswegen Verdruss.

Die Leute fragten Sümmchen, ob sie nun endlich das Geld überwiesen hätte.
„Beschwert euch beim Chef“, sagte sie dann immer.
„Ich darf es erst am Montag. Tut mir leid. Mein Geld ist ja auch dabei.“
Sümmchen verstand den Ärger der Leute. Sie hatten geschuftet und wollten mit Recht ihre Kohle und zwar pünktlich. Die Meisten hatten doch Daueraufträge bei der Bank. Sich zu beschweren, das wagte scheinbar niemand. Irgendwie waren die Leute alle eingeschüchtert.

Sabine Sümmchen hörte, dass die Leiterin der Freilandabteilung gekündigt hätte. Ein eventueller Nachfolger würde schon eingearbeitet werden, ein junger Mann, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte. Na Prost Mahlzeit, sagten die Leute.
„Warum hat denn Frau Müller plötzlich gekündigt?“ fragte Sümmchen verwundert Herbert Schulz, einen der Gärtner.
Manchmal ging sie in die Gewächshäuser, um sich die wunderschönen Blumen anzuschauen und wechselte dann bei der Gelegenheit mit den Gärtnern oder Gartengehilfen ein paar Worte. Ja, angeblich würde sie Blumentöpfe aus Italien geklaut haben, aber keiner könne sich das vorstellen. Jutta würde so etwas nie tun, denn sie wäre doch grundehrlich und hätte das ganz bestimmt auch nicht nötig.

Die Chefin hätte wieder einmal Gerüchte ausgeschüttet, weil sie eifersüchtig und missgünstig wäre und Juttas Kündigung wäre nun die Quittung. War doch klar, dass die Jutta sich das nicht bieten lässt. Die hat doch nichts mit dem Chef. Um Gottes Willen! Sie fährt halt immer mit nach Italien, weil sie Ahnung hat und weil sie auch hier einmal raus will. Das versteht doch jeder. Schließlich hätte die Jutta auch unheimlich viele Überstunden. Wahrscheinlich ginge sie nun aber in die Schweiz. Die hat’s gut. Die fiese Chefkrähe hat ihr wahrscheinlich mit der Verleumdung nur einen Gefallen getan, einen Grund zum Verschwinden geliefert, und damit die Entscheidung leichter gemacht.

Herbert seufzte. Am liebsten würde er auch hier abhauen. Ihm hätte man auch übel mitgespielt, seit er den Unfall hatte und deshalb solange ausfiel. Er würde das nie wieder gut machen können. Wenn die einen auf den Kieker hätten, dann wäre es sowieso aus. Er wäre gewiss der Nächste oder vielleicht auch sie Frau Sümmchen.
„Sie werden ja auch so Einiges bereits erlebt haben. Die Buchhaltung ist ja schließlich ein Steckenpferd der Frau Gartenmeier.“

Herbert schaute Sümmchen fragend und wissend an. Sabine Sümmchen hob resignierend die Schultern. Man arrangiere sich und versuche so gut es eben ginge seine Arbeit zu erledigen.
„Ja, das versuchen alle. Aber es funktioniert nur kurze Zeit, dann wird wieder Gift verspritzt. Eines Tages wird sie an ihrem Gift verrecken“, sagte er böse. Dann würden alle wieder gerne zur Arbeit kommen. Die Arbeit ist doch nicht schlecht.
„Man wünscht ja niemandem etwas Böses, aber vielleicht wächst der Tumor, so Gott will (er verdrehte die Augen), etwas schneller. Die arme Frau wäre ja auch von ihren Leiden erlöst.“
Herbert Schulz war eigentlich einer der Eifrigsten und ein sehr guter Gärtner, auch immer freundlich und sehr duldsam, deshalb wurde auch er nach allen leider so bekannten Regeln drangsaliert und ausgenutzt. Die Gutmütigen halt. Mit ihnen kann man das leicht machen. Sie begehren kaum auf. Leiden stumm. Bis es auch ihnen zu viel wird. Herbert gehörte zu den Stillen.

Eigentlich war er ein Künstler. Er schnitzte Altarfiguren in größter Fertigkeit und Ausdruckskraft. Und er restaurierte uralte Grabkreuze oder reparierte Figuren in Kirchen. Selbst in Regensburg beim Bischof war er wegen seiner Fähigkeiten bekannt und wurde gerne auch einmal für Aufgaben herangezogen. Natürlich für wenig Geld! Die Kirche muss sparen, offizielle Handwerker oder gar Restaurateure verlangen Unsummen. Herbert war bescheiden und fühlte sich geehrt, dann und wann für den Bischof arbeiten zu dürfen.

Irgendwie wurde er von allen ausgenutzt. Er war hier aufgewachsen und hatte in dieser Firma seine Lehre absolviert und danach bereits über zehn Jahre gearbeitet. Er kannte nichts anderes. Ein wenig merkwürdig war er dennoch, denn er war nicht der Partygänger oder Diskomeier. Seine Interessen würden das nicht zulassen. Er mochte die Stille nach Feierabend. Eine Freundin hatte er scheinbar deswegen noch nicht gefunden. Na ja, mit 28 Lenzen ist da noch nichts verloren. Er war jedenfalls ein Netter mit reichlich Innenleben, wie es schien. Nur die Chefclique neidete ihm die Beziehung zum Bischof. Ein einfacher Gärtner hätte doch in den Kreisen nichts verloren, meinten sie.

Herbert wusste von dieser Haltung und er lächelte als er sagte, dass es einfach zu viel Scheinheilige auf der Welt gäbe, die tatsächlich denken, dass sie mit bigotter Frömmelei beeindrucken könnten.
Sabine Sümmchen sah nun von weitem den Chef in das Gewächshaus kommen und sagte deshalb laut:
“Die Stundenzettel brauche ich dann aber noch morgen früh, sonst wird alles für die Lohnabrechnung zu knapp. Und wegen der offenen Rechnung müssten sie bitte einmal in mein Büro kommen.“
Der Chef mochte es nicht, wenn sie mit den Leuten sprach. Jedes Mal, wenn sie einmal im Blumengeschäft war oder in den Gewächshäusern, dann tauchte er plötzlich und rein zufällig auf. Wenn er in Sabines Sümmchens Büro durch die Wand Stimmen hörte, dann erschien er, um sich einen Ordner aus dem Schrank zu holen, oder er rief an und hatte eine lächerliche Frage. Der seltene Gast verließ dann sofort fluchtartig Sümmchens Büro. Am liebsten würde der Chef seine Buchhalterin in ihrem Büro einschließen, damit sie bloß nicht mit den anderen spricht. Die Leute sollten nicht miteinander reden, womöglich würden sich ja Komplotte bilden. Jeder hatte an seinem Platz seine Arbeit zu verrichten und mehr nicht.

Doch die Gespräche waren nicht zu verhindern und man gratulierte sich auch zu den Geburtstagen, wenn auch der übliche Kaffeeklatsch nicht erlaubt war. Manchmal wurde trotzdem ein Stück Kuchen ausgegeben anlässlich eines Ehrentages. Jeder mümmelte ihn dann halt nebenher weg, auch der Jubilar. Das ist doch wohl sehr traurig, dachte Sabine Sümmchen dann immer. Sie hatte andere Gepflogenheiten kennen gelernt, viel nettere. Man saß halt einmal ein halbes Stündchen zusammen an einem Tisch und der Chef nahm teil oder entschuldigte sich, aber es war gestattet oder geduldet. Deswegen schaffte man sein Pensum trotzdem. Hier war dies eine Unmöglichkeit.

Eine Buchhalterin hat auch einmal im Jahr Geburtstag. Gewöhnlich weiß dies niemand, denn sie gehört ja keinem Team an. Nur der Chef weiß es, denn er hat einen Personalkalender, wo alle 35 Mitarbeiter mit den Anschriften, Telefonnummern und Geburtsdaten aufgeführt waren. Sabine Sümmchen musste diese Tabelle ständig aktualisieren. Also an diesem bewussten Tage betrat der Chef Sümmchens Büro mit den Worten. „Sie haben Geburtstag, Frau Sümmchen.“ Dann folgte eine Pause.
Unsere Buchhalterin sagte verblüfft: „Ja“, und wartete. Es musste ja noch etwas kommen. Aber was?
Er nahm sich einen Ordner aus dem Schrank und sagte:
„Na dann herzlichen Glückwunsch“, und verschwand.
Sie wollte noch Dankeschön sagen aber die Tür klappte bereits. Wollte er sie verhohnepiepeln? Oder pflegte er auf die Art seine Mitarbeiter zu beglückwünschen? Sie hatte ja nun wirklich keinen Blumenstrauß erwartet (obwohl dies eigentlich nur normal wäre, wenn die engste Mitarbeiterin einen kleinen Strauß bekäme, denn zur Firma gehörte schließlich ein großes Blumengeschäft), aber man gibt sich doch die Hand oder wartet einen Moment, dass der Beglückwünschte sich bedanken kann. Der Mann hatte offensichtlich Komplexe, er war gestört. Ein normaler Umgang mit Menschen schien ihm schwer zu fallen. Möglicherweise weil auch mit ihm keiner normale Konversation betrieb. Er konnte sich einfach nur wie ein Scheusal aufführen. Dabei hatte er täglich mit vielen Menschen Kontakt. Er versaute es immer und jedes Mal auf eine andere unangenehme Art.

So war die übliche Beratung zum Saisonauftakt mit einigen neuen Mitarbeitern angesetzt. Die Bauleiter und alle gewerblichen Kollegen wurden eingeladen. Sabine Sümmchen musste den Tisch im Beratungsraum decken und Kaffee kochen, selber wurde sie nicht einbezogen. Sie gehörte ja nicht dazu. Die Bauleiter wurden betraut, Weißwürste, Semmeln und Brezeln zu beschaffen. Für jeden Teilnehmer zwei, nicht mehr!! Paul meinte, er würde die Leute kennen, die wollten ganz gewiss das Doppelte. Nein, das ginge nicht, die wären nicht zum Sattessen eingeladen. Eigentlich würde man auch gar kein Frühstück richten müssen. Es wäre nur eine nette Geste.
„Na, dann sagen sie es den Leuten, dass für jeden nur zwei Würste vorgesehen wären."
"Ich werde das nicht bekannt geben“, brummte Paul. Er würde sich dabei so schäbig vorkommen.
Der Chef meinte, dass er damit kein Problem hätte und verkündete zu gegebener Zeit, dass man nun ein Frühstück mit zwei Weißwürsten für jeden vorbereitet hätte und wünschte guten Hunger. Komischerweise hatte kaum einer Hunger. Der eine oder andere Neue nahm sich schüchtern eine Wurst und eine Semmel. Die Alten boykottierten das Frühstück aus Protest. Paul musste sich später anhören, dass sich doch der Chef seine Würste in seinen geizigen Arsch schieben könne. Nach der Veranstaltung schwammen noch viele Würste im Wasser und der Dr. Gartenmeier meinte noch, er habe es ja gleich gesagt, man hätte sich das Frühstück sparen können.

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Tag der Veröffentlichung: 03.12.2011

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