Der Chef sollte ihr bloß nicht mit Begriffen wie Ehrlichkeit und Vertrauen ihm gegenüber kommen. Sie würde nur versuchen, mit dem Hintern an der Wand zu bleiben, sich weitestgehend immer abzusichern, um nicht wieder „dran“ zu sein. Das hieß allerdings ständig, auf alles gefasst zu sein. Es war höchst anstrengend. Wer hält schon Verteidigungsbereitschaft auf Dauer aus? Aber eine Alternative sah Sabine Sümmchen nicht. Sie seufzte, man kann nicht alles haben. Sie hatte eine wohnortnahe Arbeit, ein warmes Büro, mit dem Gehalt konnte sie leben und sie war wieder gesund. Noch! Sie würde viel Stärke brauchen, um hier auszuharren bis zur Rente, dessen war sie sich bewusst. Das nötige dicke Fell wollte einfach nicht wachsen. Sie würde also sich mit ihrem Ärger plagen müssen und mehr denn je einen Ausgleich suchen, um nicht quasi vor die Hunde zu gehen, wie man immer so schön sagt.
Sabine Sümmchen pflegte nun noch mehr ihre Muse, gab sich ihr hin und schrieb und schrieb. Vornehmlich in der Arbeitszeit (wenn das der Gartenführer wüsste!)!! Nein, sie bemühte nicht ihren Computer. Das wäre zu riskant. Womöglich wäre man ihr auf die Schliche gekommen. Sie schrieb mit der Hand einhundert Seiten Kurzgeschichten, die sie am Abend in ihren Heimcomputer tippte und etwas später veröffentlichen konnte. Das erste Buch! Wenn das nicht ein Grund zur Freude ist. Sabine Sümmchen war unheimlich stolz auf ihr Werk, auch wenn sie natürlich trotzdem auch weiterhin leider Buchhaltern musste.
Das Schreiben ist eine brotlose Kunst, zumindest für eine völlig unbekannte Autorin, die über keinerlei Beziehungen verfügt. Das macht aber nichts. Unser Sümmchen entwickelte einen beispiellosen Bienenfleiß und verfasste in dieser Zeit hunderte von Versen, die sie später in drei gesonderte Bände zusammenfasste. Und sie schrieb an ihrem Tagebuch, sie nannte es „Tage zum Anfassen“, nur so hielt sie die öde Buchhalterei aus, nur so ertrug sie die Launen ihres Chefs und vor allen auch die seiner so garstigen Gattin.
Die Buchhalterei an sich war leicht zu meistern. Natürlich musste immer wieder stramm gearbeitet werden, um die Termine zu bewältigen, aber dann waren wieder freie Stunden und der Chef viel außer Haus.
Meist gönnte der sich eine Reise nach Italien, um für die Firma Sträucher, Bäume und wundervolle Terracottaerzeugnisse einzukaufen. Manchmal nahm er die Leiterin der Abteilung Freiland mit, eine junge, auch sehr hübsche und engagierte Diplomingenieurin, die über viel Sachkenntnis verfügte. Sie hatte einmal Sabine Sümmchen anvertraut, dass der Chef, kaum waren sie vom Hof, ein ganz anderer Mensch wurde. Er lebte auf, sprach auch Sätze, die nichts mit der Firma zu tun hatten und lächelte, lud sogar zum Essen ein. Es war gerade so, als würde er in eine andere Haut geschlüpft sein. Sein grämliches Gesicht nähme menschliche Züge an.
Sümmchen bekam große Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Nicht zu fassen. „Vielleicht wäre es gut, wenn er eine Weile dort bliebe, denn scheinbar bewirkt ja das milde mediterrane Klima einen wohltuenden Stimmungswandel in strapazierten, griesgrämig gewordenen Menschen.“
„Wo denken sie hin“, entgegnete die junge Frau,“ der hätte mit Sicherheit keine Ruhe, die Chefin würde inzwischen das Geschäft ruinieren, allen die Hölle heiß machen, der saubere Schwager würde ihm die Auszeit kaum verzeihen und sicher auch nicht gönnen. Unser Chef ist krankhaft ehrgeizig und voller Angst vor den vernichtenden Urteilen seiner Familie, obwohl er der ganzen Brut geistig und bildungsmäßig überlegen ist. Aber sie wissen ja wie das immer so ist Frau Sümmchen, wer die Kohle hat, bestimmt, ordnet an, gibt Freiheit oder unterdrückt sie. Dazu kommt seine Frömmigkeit. Er glaubt scheinbar tatsächlich, dass der liebe Gott ihm dies alles als Prüfung auferlegt hätte. Der Ärmste. Die Wege des Herrn sind unergründlich, sagte er einmal plötzlich während der Fahrt zurück aus Italien kommend, seufzte und versank wieder in Schweigen.“
Noch ein paar belanglose aber freundliche Worte, dann ging die Frau wieder an ihre Arbeit und überließ unsere Buchhalterin ihren Zahlen. Das waren die ersten fast verständnisvollen Sätze, die je ein Mitarbeiter über den Chef geäußert hatte. Da klang eine Menge Mitleid und sogar ein wenig Wohlwollen durch. Donnerwetter, das gibt es also auch, dachte Sümmchen. Wahrscheinlich wurde dieser Frau nicht so übel mitgespielt, vielleicht war sie auch kämpferischer und natürlich vom Aufgabenbereich in einer guten, gefestigten Position. Aber es kam, was kommen musste.
Sie hatte Kundenkontakte, kannte alle Leute und realisierte Aufträge, holte neue rein, arbeitete selbständig. Sie schmiss gewissermaßen den Laden, was den Freilandsektor anbelangte. Das war wichtig. Um die Baustellen kümmerten sich zwei Diplomingenieure, das ebenfalls schon viele Jahre. Sümmchen wusste, dass die Männer schwer unter Druck standen und auch ständig von Frau Gartenmeier bis zur Weißglut gepeinigt wurden. Paul Schlossmann sagte einmal zu Sabine Sümmchen, sie solle bloß nicht alles zu persönlich nehmen, alle würden gleichermaßen gequält werden, mal mehr, mal weniger und alle hätten gedanklich die Gartenmeiers bestimmt schon mehrfach gemeuchelt. Er wäre gewiss auch ein frommer und durchaus friedfertiger Mensch, aber hier würde er am liebsten auch einmal ein Gebot vernachlässigen. Einmal sagte er in höchster Wut und das sogar in der Teeküche, Eduard Baumann, der andere Ingenieur war auch anwesend, man müsse die Alte bald und unbedingt mit einem Vorschlaghammer zur Ruhe bringen oder wenigstens die Treppe runter schubsen. Dann wäre erst Frieden auf Erden.
Ede nickte völlig ernst. Er wurde stets reichlich mit Intrigen und Kritik bedacht, wehrte sich aber kaum. Er fürchtete sich vor einem Wechsel, hatte er doch hier schon seine Lehre absolviert und wurde später zum Studium delegiert. Seine Mutter arbeitete auch in dieser Firma. Er war ein Arbeitstier und die Chefs wussten dies sehr gut auszunutzen. Seine Kasse stimmte. Mit 35 Jahren verdiente er sehr gutes Geld und fuhr einen fetten Dienstwagen, hatte freie Arbeitszeit, aber keine Freizeit, denn er war wegen der Kunden immer auf Achse. Seine Freundinnen wären ihm alle samt weggelaufen, sagte er betrübt. „Und wenn ich mal mit einer Frau irgendwo zu Gange bin, dann klingelt ganz bestimmt mein Handy und die oberste Gartenkrähe ist dran wegen irgendeinem Scheiß.“
Na ja, Sümmchen hörte zu und sagte nur, das jeder wissen sollte, wie viel er sich bieten lassen könne, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen. Er wäre doch noch jung und könne sich ganz bestimmt etwas anderes suchen und auch finden. Das müsse doch zu schaffen sein. Bei alternden Buchhalterfrauen sähe die Sache schon viel dunkler aus.
Man hätte hier ja auch allerhand Vorteile, meinte Ede Baumann nachdenklich, das wäre deshalb alles nicht so einfach zu entscheiden. Aber allmählich reiche es ihm auch. Irgendetwas müsse passieren.
„Legen wir also schon mal vorsorglich den Vorschlaghammer zurecht, man weiß ja nie, vielleicht brauchen wir den einmal ganz schnell.“ Er grinste.
„Klingt irgendwie brutal und auch ein bisschen gewöhnlich“, erwiderte Sabine Sümmchen sinnend und ganz fein lächelnd.
Paul Schlossmann rührte grimmig in seiner Kaffeetasse. Ihm reichte es schon lange, aber er war auch schon fünfzig, hatte eine alkoholkranke Frau und eine noch nicht abbezahlte Eigentumswohnung. Wie oft hatte diese Sippe ihn fast zum Wahnsinn getrieben, obwohl er sich wie Ede für die Firma immer den Arsch aufgerissen hatte. Er kannte das mit den Anrufen zur Unzeit, er hatte noch gut in Erinnerung wie er sich schon am Sonntagabend immer vor den Rapporten am Montag fürchtete. Stets wurde er zusammengeschissen und musste sich mühsam verteidigen, denn Gegenrede war kaum geduldet. Nie war etwas gut und in Ordnung, ständig wurde genörgelt und nach Fehlern gesucht, mies gemacht. Wenn dann noch schlechtes Wetter anlag und die Arbeiten nicht vorangingen, dann war es mit dem Chef total aus. Wahrscheinlich hatte ihn seine Frau am Wochenende wieder ganz grausam gequält und erniedrigt, dann war er ganz besonders unleidlich und pinnenschieterig.
Paul war eigentlich ein duldsamer und äußerst gutmütiger Vertreter. Er hatte Humor und nichts Menschliches war ihm fremd. Lange hatte er Verständnis und auch Mitleid für das Schicksal seines Chefs und dessen Frau. Aber schließlich konnte er dieses nicht mehr empfinden. Die Brut hatte ihn psychaterreif werden lassen. Ja, er war damals fix und fertig und hatte sich entschlossen, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Seine erste Ehe war gescheitert, seine zweite Frau hatte nach einem schlimmen Verkehrsunfall nicht mehr wirklich ins Leben gefunden. Sie trank. Das war auch sehr schlimm und kaum zu ertragen.
Er liebte seine Frau und musste stark sein, auch für sie und für sich selber. Also ließ er sich therapieren. Es wurde etwas besser. Die Ängste vor dem montaglichen Anschiss verschwanden. Dennoch litt er unter der Nachrede der Chefin, fühlte sich mehr als kompromittiert, gekränkt und gedemütigt. Er hasste diese Frau, hatte beschlossen sie zu ignorieren. Doch das klappte nicht wirklich. Immer war diese Person irgendwie präsent und mischte mit, beeinflusste den Chef, vergiftete alles.
Die Frau von Paul war dem Alkohol verfallen. Ja, musste er sich deswegen schämen und sich unter einer Decke verkriechen? Nein, gewiss nicht. Er wollte leben, seiner armen Frau helfen und in Ruhe arbeiten. Meinetwegen auch viel, sehr viel. Er stürzte sich verzweifelt in seine Arbeit und er wusste, was er konnte. Dennoch kamen immer wieder Nackenschläge und Angriffe, die unter die Gürtellinie gingen. Er hatte von Frau Sümmchen gehört, dass diese Gartenmeier-Hexe ganz am Anfang zu Sümmchen schlecht über seine Frau sprach. Paul war stinkesauer und würde der Krähe am liebsten dafür sofort den Hals umdrehen. Dann wäre endlich Ruhe und vielleicht würde der Chef auch wieder ein Mensch werden. Eigentlich würde jeder in der Firma aufatmen.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011
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