Sabine Sümmchen fühlte sich unwohl. Was war jetzt schon wieder? Sie ahnte nichts Gutes.
„Warum haben sie denn mein Fenster nicht ge-
schlossen?“, fragte er sofort und bitterböse.
„Oha, dachte unser Sümmchen, jetzt mal ganz wachsam. Man sucht einen Sündenbock, jemandem, dem man den schwarzen Peter zu-
stecken möchte.“
Aber es klappte leider nicht. Sie sagte, dass sie an diesem Tag ab 10.00 Uhr vormittags zur Schulung bei der AOK war und diese, wie er wisse bis zum Feierabend währte.
„Ich war gar nicht mehr in der Firma Herr Dr. Gartenmeier.
Sie lächelte nun wirklich echt scheißfreundlich.
„Wenn sie es aber für die Zukunft wünschen, dann sehe ich am Abend immer, ob in ihrem Büro alles in Ordnung ist und schließe selbstverständlich die Fenster, falls sie außer Haus sind.“
Er grunzte und sagte nur „Ja“.
Sein Gesicht sah nun sehr ärgerlich aus. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich.
„Liegt noch etwas an, Herr Dr. Gartenmeier?“
„Nein“.
Sabine Sümmchen ging kerzengerade aus dem Zimmer. „Der Arsch“, dachte sie „ das geschieht ihm recht.“ Ihr Mitleid war völlig weggeblasen. Er wollte ihr tatsächlich die Schuld für den Einbruch in die Schuhe schieben. Was muss dieser Mensch für eine erbärmliche Angst vor seinem Schwager haben. Wahrscheinlich macht ihm seine Frau zu Hause auch noch deswegen die Hölle heiß. Er würde also demnächst grässliche Laune haben und diese an allen auslassen, an seiner Buchhalterin zu allererst. Sie war ja immer zur Hand. Aber die anderen Mitarbeiter, auch seine engsten leitenden Ingenieure mussten es ausbaden, was im Grunde nichts Neues war. Sabine Sümmchen hörte die erregten Debatten durch die Wand. Irgendwie schienen sich die Männer diesmal ein wenig zur Wehr zu setzen. Gut so! Türen klappten laut, auf dem Gang immer noch Stimmengewirr.
„Es reicht! Macht denn hier jeder, was er will!“ hörte sie den Gartenführer schreien, seine Stimme überschlug sich fast. Dann fiel die Außentür ins Schloss. Endlich war wieder Ruhe. Sie hörte den schweren ruhigen Schritt des Kollegen, der sein Büro gegenüber dem des Chefs hatte, in Richtung Teeküche gehen.
„Der kocht sich jetzt einen Kaffee zur Beruhigung“, dachte Biene. Der erzürnte Chef war ja weg. Sie wanderte nun auch in die Küche, um sich einen schönen Kaffee zu brühen. Mal hören, was vorge-
fallen war. Ein wenig neugierig war sie inzwischen auch geworden. In der Küche saßen die Männer, einer war von der anderen Firma, und sie werteten offensichtlich die zuvor stattgefundene heftige Diskussion aus. Sabine Sümmchen sagte nichts und wirtschaftete mit dem Wasserkocher umher.
„Sie haben also das Fenster offen gelassen“, sagte der von oben grinsend.
„Ich doch nicht“, antwortete Sümmchen unschuldig, „wenn man es auch gern so hätte. Ich war am Tag davor zum Glück zur Schulung und gar nicht in der Firma.“ Sie rührte milde lächelnd in ihrer Tasse.
„Ach, nee!“ sagte der Mann von der anderen Firma, „dann ist euer Boss ja doch schuld. Ich lach mich kaputt. Dann gibt’s ja ganz bestimmt Drachenkrieg. Passen ‚se auf Frau Sümmchen, dass sie nicht doch noch dazwischen geraten.“
„Danke“, sagte sie artig, „ich kann auf mich aufpas-
sen.“ Sie ging dann doch lieber ohne weiter zu fragen, was sonst noch so laut diskutiert wurde, wieder mit ihrer Tasse in ihr Büro. Wozu musste sie sich noch für den Stunk der anderen interessieren. Sie hatte mit ihrem eigenen reichlich zu tun, auch wenn es diesmal für sie glücklich ausging und sie gewissermaßen als Siegerin hervorging. Aber was war das für ein Sieg? Sie konnte einfach nur nachweisen, dass sie nicht die Schuldige war. Das ist doch kein Sieg.
Er hatte es versucht, sie zu defamieren, wie gemein. Und er setzte Verleumdungen auch weiterhin in die Welt, wie niederträchtig. Die Buchhalterin ist nachlässig. Sie ist die Übeltäterin. Sie macht die Fehler. Schließlich hätte sie ja nach der Schulung noch einmal in die Firma fahren können, um nach dem Rechten zu sehen. Warum macht er das? Ist er von Natur aus boshaft? Will er auf ihren Knochen seine Haut retten? Warum hat er so was nötig? Sabine Sümmchen konnte diese Typen nicht verstehen.
Es fiel ihr immer schwerer nach zu vollziehen, was in diesen Hirnen vor sich geht. Warum wollte sie immer alles und alle verstehen? Wahrscheinlich ist diese Veranlagung in der heutigen Zeit höchst schädlich. Man bleibt als verständnisvoller Mensch rasch irgendwie auf der Strecke. Scheinbar wird so ein Verständnis gar nicht erwartet, sondern nur ein Aushalten, ein Mitmachen. Dann gibt es noch die Möglichkeit des Kampfes, dieses aufmüpfige, dreiste Gegenhalten, sich nichts Bieten lassen, am besten selber ständig Angreifen, was ja die beste Verteidigung sein soll.
Für einen ruhigen, friedfertigen Menschen, der außerdem noch über ein sensibles Gemüt verfügt, ein Ding der Unmöglichkeit. Sabine Sümmchen wollte nicht mehr kämpfen. Es war zuweilen für sie schon unerträglich, sich ständig verteidigen zu müssen. Sie wollte doch nur normal ihre Arbeit verrichten, gelöst und unverkrampft ohne ständige Angst vor eventuellen Fehlern. Sie bemühte sich um Unbekümmertheit. Sie zu besitzen wäre für die Bewältigung des Arbeitsalltages in dieser Firma sicher sehr hilfreich.
Sümmchen stellte sich manchmal vor, sie wäre schon alt. Eine schreckliche Vorstellung. Sie wollte bis dahin noch viel erleben und ein wenig Unbekümmertheit genießen. Falls das geht. Dieses Unbekümmerte ist eine große Kunst und wenn man es erreicht fast eine Gottesgabe (sagte sie sich auch ohne fromm zu sein), denn es setzt hochgradige Verdrängung voraus, ein hohes Selbstverständnis für alles, für das Vergangene und hauptsächlich für die selbstverständliche und lockere Annahme des Gegenwärtigen. Wer kann das schon nach einem turbulenten nicht immer leichten Leben? Eigentlich nur die Tiere auf Grund ihrer natürlichen hirn-
mäßigen Begrenztheit. Es gehört viel Freiheit dazu, und zwar in erster Linie die Freiheit, Verpflichtungen nicht als solche zu empfinden, auch das Vermögen eigenes Leid zu bagatellisieren.
Über die Unbekümmertheit und ihre unbeabsichtigte Wirkung schrieb sie eine Fabel. Ihr gefiel es sehr, Fabeln zu schreiben. Warum wusste sie nicht, vielleicht wollte sie sich immer noch über Einiges Klarheit verschaffen. Es gab wohl nach wie vor so vieles, was einfach nicht zu verstehen war.
Die Amsel
Wenn es in der Natur am schönsten ist, im Monat Mai, dann fliegt die Amsel Else in die Gärten der Menschen. Sie sitzt auf der Spitze eines Baumes und beginnt zu pfeifen und zu flöten. Manchmal ist ringsum alles still, nur Else singt ihr Lied.
Es gibt Menschen, die das bemerken, aber manche eben auch nicht. Sie hören allenfalls, was im Radio gespielt wird. Es ist ungleich temperamentvoller, auch viel lauter und furchtbar modern. Es wird tagein, tagaus gespielt, denn aus dem Radio tönen nur die Lieder, die Hits geworden sind oder dazu gemacht werden sollen. Schließlich sind sie aber ausgeleiert. Der Mensch hat sie sich über gehört, stöhnend erträgt er nun nur noch die Geräuschkulisse und widmet sich anderen Dingen.
Else pfeift ihr Lied immer wieder. Keiner empfindet je ihr Flöten als ausgeleiert, auch wenn man es noch so oft hörte. Kein Mensch würde ihren unbekümmerten Gesang abschalten wollen, was auch schwer ginge. Alle hören Else gerne singen, jeden Tag. Sie fliegt hier hin und dort hin, singt für sich und Ihresgleichen, unbeeindruckt, nur ihrer Natur folgend, sich ewig wiederholend, unspek-
takulär, für nichts, einfach so…aber so schön…unsere Superelse.
Eine der Superelsen saß wieder auf der Antenne. Sümmchen schaute versonnen aus dem Büro-
fenster. Unbekümmert müsste man sein können, träumte sie. Die Angst vor Fehlern und ihren Folgen würde dann ausgelöscht sein. Man würde sie begehen und sie korrigieren. Kein Hahn dürfe danach krähen. Das Leben wäre um ein Vielfaches leichter.
Menschen begehen Fehler. Daran wird sich nie etwas ändern. Scheinbar darf man in dieser Firma kein Mensch sein. Eine traurige Erkenntnis. Eigentlich sollte man danach sofort das Weite suchen. Aber wie? Und wohin?
Wie oft unterstellte man ihr auch irgendwelche Sachen, die nicht so einfach vom Tisch zu wischen waren.
Neulich erhielt Sabine Sümmchen von der Chefin ein Fax zur Weiterleitung an den Gartenführer.
FORTSETZUNG FOLGT
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2011
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