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Das Wildschwein

Im November geht man nicht so leicht und unbeschwert in die Natur hinaus. Der Nebel, der Geruch von feuchtem Laub, das frühe Dunkelwerden, dämpfen die Stimmung, das Schreien der Krähen erheitert sie kaum. Dennoch zwingt sie sich, jeden Tag einen Spaziergang durch die Straßen des Wohngebietes und die am Stadtrand befindlichen Felder zu unternehmen. Die Rüben waren auch schon raus und warteten in riesigen Haufen auf ihren Abtransport zur Zuckerfabrik. Der Horizont ist im Nebel verschwunden, die Gedanken an den kommenden Winter machten ihr zu schaffen. Und wieder flatterten die Krähen in den kahl werdenden Bäumen herum. Ihre krächzenden Laute versetzten sie in die Vergangenheit.

Sie fuhr mit ihrer Freundin auf ihrem klapprigen Fahrrad nach der Schule nach Hause. In der Apfelplantage hingen noch ein paar vergessene Äpfel an den Bäumen, das Laub war schon abgefallen. Sie konnten sich die Früchte leicht abpflücken und beschlossen ihre Beute gleich zu verspeisen. Bei den Weiden vielleicht, dort hatten sie im Sommer sich immer ein paar Minuten ausgeruht. Die schwarzen Krähen saßen in den Bäumen und schienen sie zu beobachten.

Die beiden Mädchen kletterten in die Weiden, jede in eine und krächzten laut und lustig wie die Krähen. Sie fanden ihr absonderliches Tun und Schreien ungeheuer witzig. Dann kramten sie die Äpfel hervor. Sie schmeckten wundervoll. Kalt, süß und sehr saftig.
Plötzlich näherte sich ein einzelnes, ziemlich großes Wildschwein den Weiden. Es kam aus dem nahe gelegenen Wald. Die Kinder bekamen einen Mordsschreck und schmissen mit den Äpfeln nach dem Tier. Das Schwein betrachtete die Gabe vermutlich als besondere Fütterung und kam näher statt abzuhauen. Nachdem es alles aufgefressen hatte, rieb es seinen kräftigen borstigen Leib an der Weide. Das Mädchen saß mit vor Schreck geweiteten Augen auf dem Baum und dachte ihr letztes Stündlein sei nun gekommen. Die Freundin auf dem anderen Baum sagte auch keinen Piep mehr.

Das Schwein hatte offensichtlich die Ruhe weg, es ließ sich direkt am Stamm der Weide nieder und grunzte genüsslich. Die Mädchen oben auf den Bäumen sahen keine Chance herab zu steigen. Sie mussten ausharren. Irgendwann würde das Untier doch weggehen, hofften sie inständigst. Ab und zu krächzte eine Krähe aber das Schwein blieb liegen.

„Ich muss mal“, sagte das Kind in der Weide und es klang ziemlich kläglich. „Ganz nötig“, fügte sie noch verzweifelt hinzu. Was sollte sie tun, sie konnte sich doch nicht in die Hosen machen? Die Freundin meinte leise:“ Dann mach einfach. Es sieht ja niemand.“
So geschah es also. Die Kleine zog umständlich ihren Schlüpfer aus und strullte dem Wildschwein auf den Pelz. Das Tier schien es zu bemerken, denn es stand gemächlich auf und hob den Kopf. Oh, Je! Die Kinder hielten den Atem an, der Schlüpfer segelte wie ein altes Blatt langsam zu Boden. Das Schwein schnüffelte kurz daran, drehte sich um und trottete in Richtung Wald. Vielleicht dachte es, man müsse nun aufbrechen, weil es zu regnen beginnt. Man weiß es nicht. Was wilde Schweine so denken, ist bis heute nicht wirklich geklärt.

Die beiden Mädchen stiegen, als das Schwein weg war, von den Weiden und fuhren so schnell es ging nach Hause. Sie schworen sich, dieses furchtbare Geheimnis niemals einer Menschenseele anzuvertrauen. Es war auch zu peinlich, was ihnen passierte und es hätte noch viel schlimmer kommen können.

In Gedanken versunken aber lächelnd beendete sie ihren Herbstspaziergang. Belustigt sah sie den krächzenden Krähen nach. Die Zeit war gekommen. Jetzt erst würde sie das schreckliche Geheimnis vom „beregneten“ Wildschwein lüften und die Öffentlichkeit darüber aufklären, was man tun muss, um ein Schwein in die Flucht zu schlagen.


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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2011

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