Die totale Pauschalierung
Kein Mensch wünschte sich diese Entwicklung und doch kam sie fast unbemerkt, scheinbar unabwendbar in dieses unheilvolle Fahrwasser, welches immer gewaltigere Menschenströme zu beherbergen hatte. Das Individuum konnte in ihnen nicht mehr wahrgenommen werden. Zumindest von oben betrachtet nicht.
Sie bewegte sich langsam mäandernd in diesem amorphen Strom und war sich zeitweise ihrer Unscheinbarkeit gar nicht bewusst, denn sie glaubte wie fast alle an ihre Einzigartigkeit. Mit Fug und Recht, ohne allerdings in Betracht zu ziehen, dass sie dennoch einer Ameise gleich sich durch nichts von einem anderen Menschen im Strom unterschied! Die Individualität ist einer schleichenden Pauschalierung gewichen, die durch Einzelne vorgenommen wurde, weil es angeblich für den Fortbestand der Gesellschaft nötig war.
Wissenschaftler hatten schon längst bewiesen, dass ein Mensch immer identifizierbar ist, ob an der Iris, an seiner DNS oder an seinem unverwechselbaren Herzschlag. Alles war messbar geworden, jeder einzelne Mensch war durch die ihm anhaftende Technik auffindbar und einschätzbar, dadurch natürlich leicht lenkbar und zwar so, dass er es kaum bemerkte oder nicht bemerken wollte.
Man teilte sie ein und auf, gliederte sie in Gruppen und Untergruppen, beobachtete wie sie sich verhalten, was sie sagen und wohin sie sich sekündlich bewegen.
Wenn sie sich nicht mehr bewegen konnten, den Strömen nicht mehr folgten, herrschten andere Regeln. Man wollte sie nicht so gerne kennen lernen, solange man nicht betroffen war.
Eigentlich wusste sie das, dennoch glaubte sie, wie jeder Mensch, sie wäre etwas ganz Besonderes und sie hoffte stets auf die Bestätigung dieser Hoffnung. Das hielt sie und fast alle anderen auch am Leben. Von Zeit zu Zeit gaben sie sich diesen Träumen hin und versicherten sich untereinander wie toll sie seien und wie unverwechselbar, ganz besonders wenn das Gefühl der überschäumenden Liebe sie ergriffen hatte.
Indes dachten einige Wenige, die sich auf einer bestimmenden, höheren Ebene aufhielten, man müsse alles einfacher gestalten, um es verständlich und regelbar zu machen, auch effektiver.
So entwickelten sie steuerliche Pauschalierungen, die Pauschalierung von Schadensatzansprüchen, Pauschalreisen und pauschalierte Pflegesätze. Die Unterkunftskosten der Erwerbslosen wurden pauschaliert und die täglich notwendige Nahrungszufuhr eines Menschen, ebenso wie die erforderlichen kulturellen und sportlichen Ansprüche. Man wusste wie viel Atemzüge ein Mensch benötigt und man stellte fest, wie viel Abgase er durch seinen Stoffwechsel produzierte, natürlich auch bei Kühen und anderen Tieren. Pauschal war das Leben irgendwann fixiert.
Sie hatte dafür kaum einen Gedanken aufgewendet und sich meistens ihren Träumen vom guten Leben im Menschenstrom gewidmet. Alles schien geplant und geregelt, selbst die Altersvorsorge. Es verlief leider nicht alles wie angedacht, trotz des Kampfes im Strom der Einzigartigen, die alle dem gleichen Ziel verfallen waren, nämlich sich zu behaupten. Das System verlangte das und sie tat, was erwartet wurde, wenn auch mit wechselndem Erfolg, manchmal auch ganz ohne einen Sieg davonzutragen. Aber sie kämpfte. Sie gab nie auf.
Als sie alt war, zudem nicht mehr gesund und sie dummerweise nur über eine kleine Rente verfügte, verspürte sie plötzlich diese Pauscha-
lierungen, die ihr plötzlich auch sehr weh taten. Sie war nicht mehr in der Lage, sich frei im Strom der Menschen zu bewegen und sie hatte das Gefühl, keiner nahm sie mehr in ihrer Einzigartigkeit wahr. Sie war schlicht ein Pflegefall geworden, für den es pauschale Pflegesätze gab. Alleine in ihrer kleinen Wohnung lebend, gab es nur immer wieder eine Entscheidung zu fällen: hungern oder frieren? Sie sah traurig aus dem Fenster auf die endlosen Konsumentenströme, die sich durch die Einkaufsmeile schoben. Jeder schien mit sich beschäftigt. Sie war nicht mehr dabei.
In ihrem Kopf war es manchmal so leer, wenn auch nicht immer. Sie vermochte wohl noch zu denken und zu fühlen. Sie war doch einer von ihnen, ein Mensch, ein besonderer, einzigartiger Mensch mit einer unverwechselbaren DNS.
Im Bemühen um die Erhaltung ihrer Menschenwürde, in Medizin und Pflege wehte ihr nun ein kalter Wind entgegen. Sie verspürte erst jetzt die totale Pauschalierung, von der man früher nur flüsternd sprach. Sie war jetzt nur noch ein Fall von vielen und würde den Rest ihres Lebens pauschal verwaltet werden. Nachdem ihr das klar wurde, überfiel sie eine tiefe Traurigkeit, die sie tagelang, wochenlang nicht abzuschütteln vermochte. Bis das Telefon eines Tage klingelte und sie damit aus den trüben Gedanken riss. Die Familie kündigte sich zum Besuch an. Ihre Augen begannen zu leuchten.
Texte: Coverbild von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Den alten, armen und kranken Menschen gewidmet