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Penner-Fasching

Damals fuhren wir mit einer alten Dampflok, um von Neinstedt nach Thale/Harz zur Schule zu gelangen. Sie war zwar dreckig, langsam und alles andere als gemütlich, Holzklasse halt, dennoch wurde sie viel genutzt, denn sie fuhr verlässlich und die Zugfahrkarte war sehr preiswert.

Jedes Jahr fand ein großer Schülerfasching statt, das Motto durften die Schüler selber bestimmen. Unsere EOS (Erweiterte Oberschule), die wir liebevoll Penne nannten, war eine kleine Bildungsstätte. Es gab von der 9. bis zur 12. Klasse jeweils nur eine Parallelklasse und ein entsprechend kleines Lehrerkollegium.
Die Feiern fanden immer in der Schule statt, unter Regie der Klassen im Wechsel.

Wir wollten etwas Verrücktes und machten kurzerhand aus dem Penne-Fasching einen Penner-Fasching. Jeder musste sich um ein passendes Kostüm bemühen, was uns großen Spaß bereitete, doch die Lehrerschaft war dagegen. Sie boykottierten die Verkleidung und erschienen in „Zivil“, was wir achselzuckend zur Kenntnis nahmen. Langweiler, Spielverderber! Wir hofften außerdem, dass sie ganz fernbleiben würden aber man wollte unsere Feier kontrollieren und erschien mehr oder weniger missmutig.

Lange vor der Feier haben wir uns ständig über unsere Pennerparty unterhalten, auch ausgiebig in unseren Ausbildungsbetrieben. Wir absolvierten nämlich alle eine besondere Ausbildungsrichtung, die sich Abitur mit Berufsausbildung nannte. Man erreichte die Hochschulreife und hatte gleichzeitig einen Facharbeiterabschluss in den verschiedensten Richtungen: medizinische Berufe, Bauberufe und auch landwirtschaftliche standen auf den Plänen. In den Betrieben kamen wir mit der arbeitenden Bevölkerung als Lehrlinge zusammen.

Es gab auch Menschen, die offensichtlich nicht arbeiteten, weil sie dazu nicht mehr fähig waren: die Suffköppe halt, die Penner, die immer irgendwo einen Rausch ausschliefen. Sie wurden durch die Betriebe dennoch „mitgenommen“, das heißt, entlassen wurde keiner, auf der Straße betteln oder übernachten musste niemand. Man kümmerte sich irgendwie um sie.
Wir lachten manchmal über die Penner und unterhielten uns zwanglos in ihrer Gegenwart, wenn es sich ergab, auch über unseren Penner-Fasching.

Nun war es soweit. Die Feier war in vollstem Gange, wir tanzten, tranken auch, wenn auch in Maßen, denn die Lehrer waren dabei, und wir amüsierten uns prächtig in unseren Pennerkostümen. Plötzlich stand ein stadtbekannter Penner in der Tür und betrachtete sich mit ernster Miene unser Treiben, bis wir ihn bemerkten. Die Gesichter der Lehrer versteinerten. Der Stabülehrer sprach den Mann mit Namen an und forderte ihn auf, den Raum zu verlassen, doch wir hatten schon einen Kreis um den Mann gebildet. Er schien nüchtern zu sein, sein Äußeres war so jämmerlich abgerissen und schmutzig, dass wir uns in unseren Kostümen sehr daneben fühlten, zumal der Mann uns mit großen ernsten Augen betrachtete.

„Warum verhöhnt ihr mich? Ich bin nicht gerne so wie ich jetzt bin. Es ist nicht leicht oder lustig so zu sein, “ sagte er laut.
„Du bist selber schuld. Geh zur Arbeit und hör auf mit dem Saufen, “ meinte ein Mädchen.
„Wenn das so einfach wäre. Mich will nun keiner mehr und ich kann auch nicht mehr“, erwiderte der Mann und begann zu erzählen. Die Lehrer setzten sich nun durch und führten den alten Penner nach draußen. Doch die Schüler gingen alle mit und gruppierten sich um den Mann, um ihm zuzuhören.

Er war einst auch Lehrer an dieser Schule, hatte sich aber ein paar politische „Verfehlungen“ geleistet. Man versetzte ihn und schließlich landete er in der LPG als er letztlich nicht mehr Lehrer sein durfte. Er war ein Landarbeiter geworden, ein LPGist, obwohl er für diese Arbeit denkbar ungeeignet war. Krankheiten körperlicher Natur und seelischer stellten sich ein, danach begann das Trinken… „Und jetzt bin ich ein Wrack, ein Penner, einer, der nur noch in den Mond gucken kann. Es gibt kein Zurück.“ schloss er seine Erzählung. Die Schüler schwiegen betreten, ihnen war die Lust an ihrer Pennerfete gründlich verhagelt.

„Wir müssen etwas machen, wir müssen ihm helfen“, sagte ein Junge. „Ich habe eine Idee. Wartet mal kurz“, rief er noch und verschwand. Nach kurzer Zeit erschien er mit einem Koffer. Die Schüler waren gespannt, was es damit auf sich haben könnte. Der Junge schob alle Neugierigen beiseite und öffnete ihn. Er enthielt nur seine Kleidung, mit der er zur Pennerfete gekommen war: eine Jeans, einen Pullover, eine warme, moderne Winterjacke.

„Ich schenke sie dir“, sagte er zu dem Mann mit den schrecklich abgerissenen Sachen. Du musst aber vorher duschen. Das geht hier, wir haben welche neben der Turnhalle. Komm einfach mit.“ Ein paar Jungs gingen mit. Wir anderen trollten uns wieder in die Klassenräume, denn es war ziemlich kalt. Die Lehrer diskutierten heftig. Nach einer knappen halben Stunde erschien die kleine Gruppe Schüler mit dem Penner, der nicht wieder zu erkennen war. Er war nun sauber und gut gekleidet. Wir boten ihm Kartoffelsalat und Würstchen an. Doch er zierte sich, ihm war das alle ziemlich peinlich, wie es schien.

Die Mädchen machten für den Mann ein „Fresspaket“ zurecht. Man würde ihn auch nach Hause bringen, versprachen die Jungs. Dann war es wohl plötzlich für den Mann doch zu viel, er saß da und weinte.
Er wollte eigentlich die Schüler bloß gründlich für ihr respektloses Treiben zusammenscheißen und nun hatten sie sein Herz erreicht und erweicht. Gebrochen und verhärtet hatten es andere und zwar die, die da am Tisch saßen und so erbittert diskutierten.

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Tag der Veröffentlichung: 26.07.2011

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