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Der Einsiedler


Sie fühlte sich wie ein Perpeteum Mobile, allerdings nur kopfmäßig. Das war wirklich so. Keiner konnte sich vorstellen, dass sie ohne spürbare oder ersichtliche Einflüsse von außen, so rastlos schreiben musste. Sie hatte einen unerklärlichen Drang, Bücher fertig zu stellen. Dabei hatte sie Zeit. Keiner hatte soviel Zeit wie sie. Niemand verstand, dass sie auch Ruhe brauchte, denn für Außenstehende hatte sie ja nun endlich und augenscheinlich diese Ruhe. Jeder dachte das, denn sie ging zwar täglich arbeiten, war aber nur noch für sich selber zuständig. Die Familie, die Kinder waren aus dem Haus und sorgten für sich allein.
Doch sie sehnte sich nach noch mehr Ruhe, so wie sich andere Menschen in der Lebenssituation nach mehr Trubel verzehren.

Ruhe zum Nachdenken. Ruhe, um festhalten zu können, was in ihr unaufhörlich wirbelte.

Sie beschloss aufzubrechen, um diese Ruhe zu finden. So fuhr sie so weit es geht nach Norden, danach nach Osten, immer der Nase nach, bis der Tank leer war. Sie stieg aus dem Auto und wusste nicht wo sie sich genau befand, nur soviel, dass sie in einem der tiefen polnischen Wälder, in denen es keine Menschen gab, gelandet war. Die Straße führte vermutlich ans Ende der Welt, dachte sie und ihr war selbst das egal.
Hier lebte angeblich, so sagten flüsternd die alten Leute in einem kleinen Dorf, das sie irgendwann zuvor durchfuhr, ein Einsiedler. Ein merkwürdiger Mensch, von dem man nichts wusste.

Sie hätte jetzt den Kanister aus dem Kofferraum nehmen können, um umzukehren, doch danach stand ihr Sinn nicht, sie wollte den Einsiedler finden. Ob er überhaupt noch am Leben war und wo genau seine Hütte stand, das wusste sie nicht. Sie schloss also das Auto ab, schulterte den Rucksack und betrat einen kleinen Pfad, der vom Straßenrand in den Wald führte.

So wanderte sie bis es dunkel wurde, eine Hütte aber war weit und breit nicht zu sehen. Es war inzwischen stockfinster und absolut still, kein Lüftchen regte sich. So beschloss sie, sich auf dem Moos am Wegesrand schlafen zu legen. Es war Sommer und nicht kalt. In ihrem Schlafsack sank sie alsbald in einen tiefen, Schlaf.

Sie wusste nicht wie lange sie so lag, jedenfalls hockte auf einmal eine Gestalt vor ihr. Sie bekam einen Mordsschreck, sagte aber kein Wort und versuchte sich aufzurichten, aus dem Schlafsack herauszukrauchen. Die Gestalt rührte sich nicht, betrachtete die kleine Aktion und wartete.
„Ich suche den Einsiedler“, wagte sie endlich zu sagen. Sie stand auf und die Gestalt, die sich nun ebenfalls erhoben hatte, nickte und entfernte sich langsam, ohne sich umzudrehen.
Sie rollte hastig ihren Schlafsack zusammen, ergriff den Rucksack und folgte rasch der Gestalt, die in der Dunkelheit kaum noch zu sehen war. Auf einer Lichtung stand eine Hütte, in der die geheimnisvolle Gestalt verschwand.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und stand klopfenden Herzens vor der Tür, sie war nur angelehnt, dennoch pochte sie leise an. Es kam keine Aufforderung einzutreten. Nichts. Alles war still.
Sie rief: „Hallo, darf ich reinkommen, ich komme als Freund?“
Keine Antwort. So trat sie ein, langsam, vorsichtig. Der kleine Raum war leer. Keine Möbel, nichts, was auf einen bewohnten Ort schließen ließ, war zu erblicken. Der Mond war aufgegangen und schien ins Fenster und sie sah, dass sich eine weitere Tür an der hinteren Wand befand. Sie klopfte und fasste an die Klinke aber die Tür war verschlossen, doch in der Tür befand sich ein kleines Fenster. Sollte sie? Ja, sie war ein wenig neugierig und begehrte zu wissen, was sich dahinter verbarg. Am Ende würde sie die Gestalt, die vermutlich der gesuchte Einsiedler war, entdecken und vielleicht käme ja ein kleines Gespräch zustande. Wer weiß.
Sie öffnete also beherzt das Fensterchen und zu ihrem Erstauen, schien eine große Unruhe in diesem Raum zu herrschen: mal bauschten sich die Vorhänge, mal leuchtete ein heller Schein, viele Figuren beschäftigten sich in unverständlicher Art und Weise und inmitten der hektischen Betriebsamkeit huschte die Gestalt hin und her. Manchmal schaute sie herüber und ihr Gesicht war ihr irgendwie seltsam vertraut. Das Gesicht der Gestalt wirkte ein wenig hilflos, auch genervt und angestrengt aber beherrscht. Einmal schien es als würde sie herüber winken aber dann war sie wieder sehr beschäftigt.
Was machte man in der Situation? In das Zimmer kam sie nicht hinein und sie wollte es auch nicht. Sie wollte nur Ruhe. Eine große Müdigkeit überkam sie. So schloss sie dieses Türfensterchen, rollte den Schlafsack auf und kroch hinein. Der Boden war weder kalt noch hart. Sie schlief augenblicklich ein. Als sie erwachte, lag sie wieder unter dem Baum auf dem Moos. Hell schien die Sonne durch die Zweige und die Vögel zwitscherten munter. Die Gestalt aber war und blieb verschwunden. Seltsam.

Sie fühlte sich aber gut und erholt, war völlig zur Ruhe gekommen. So wanderte sie den Pfad zurück bis zur Straße, wo ihr Auto stand, füllte den Tank aus dem Kanister, um nachhause zu fahren.
Man betrachtete sie, dort angekommen sehr erstaunt, auch ein wenig erschrocken, wie einen Geist, dann aber doch sehr erfreut.
Sie war fünf Jahre fort gewesen.
Die wirbelnden Geschichten waren an einem guten Platz. Eine wunderbare Ruhe hatte sich ihrer bemächtigt und sie hoffte nun sehr, dass sie bliebe.


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Tag der Veröffentlichung: 23.07.2011

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