Gustav fliegt nach Sao Paulo
Mein Opa Gustav war inzwischen schon pensioniert und bereits 67 Jahre alt als ihn eine furchtbare Nachricht aus Brasilien, Sao Paulo erreichte.
Jeder weiß etwas über diese Stadt, auch wo sie liegt… aber, was da wirklich los ist, kann man nur ahnen oder eben recherchieren oder man war selber einmal dort…
„Die Stadt liegt im Südosten Brasiliens, 80 Kilometer vom Atlantischen Ozean entfernt im Hochbecken der Flüsse Rio Tietê und Rio Pinheiros, durchschnittlich 795 Meter über dem Meeresspiegel. Das Stadtgebiet hat eine Fläche von 1523 Quadratkilometern und erstreckt sich ungefähr 60 Kilometer in Nord-Süd-Richtung und 80 Kilometer in Ost-West-Richtung.
Die Metropolregion Grande São Paulo umfasst außer der Stadt São Paulo als Kernzone 38 weitere Städte mit einer Gesamtfläche von 7.947 Quadratkilometern. Das überbaute Stadtgebiet der Region mit einer Fläche von 2.209 Quadratkilometern hat seit 1962 um 874 Quadratkilometer zugenommen.
Zwanzig Kilometer hinter der Hafenstadt Santos steigt die im Brasilianischen Bergland gelegene Serra do Mar schnell bis auf durchschnittlich 1200 Meter an und fällt dann auf die Hochebene von São Paulo ab. Santos und São Paulo verbindet ein natürlicher Pass über die Serra do Mar. Die Hochebene von São Paulo ist aber nicht flach, sondern ein Hügelland, so dass sich auch die Stadt São Paulo über zahlreiche Hügel erstreckt.
Nur etwa die Hälfte des Wassers im Rio Tietê ist natürlichen Ursprungs, und auch die für die städtische Wasserversorgung wichtigen Stauseen im Süden São Paulos sind durch die Einleitung nicht geklärter Abwässer ungeplanter Wohnsiedlungen und Favelas kaum noch für die Gewinnung von Trinkwasser nutzbar. Die Folgen sind Geruchsbelästigung der Bevölkerung, Eutrophierung und ein unzumutbarer Geschmack des Leitungswassers sowie hohe Kosten für das Erreichen von Trinkwasserqualität.“
Gustavs jüngster Sohn Martin, der schon vier Monate dort lebte und arbeitete, damals erst Anfang Zwanzig, war einer schlimmen Krankheit erlegen:
Der Poliomyelitis (epidemica anterior acuta) , kurz Polio, deutsch Kinderlähmung. oder Heine-Medin-Krankheit genannt.
„Es ist eine von Polioviren hervorgerufene Infektionskrankheit, die bei Ungeimpften die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks befallen und zu bleibenden Lähmungserscheinungen bis hin zum Tod führen kann. Überwiegend sind Kinder im Alter zwischen drei und acht Jahren, gelegentlich auch ältere Personen bis ins Erwachsenenalter betroffen. Für diese Viruserkrankung gibt es keine ursächliche Behandlung. Aufgrund der konsequenten Impfung gibt es aber heute in Deutschland fast keine Polio mehr.
Nach heutigen Erkenntnissen existierte Polio bis 1880 als endemische Krankheit. Erst ab etwa 1880 trat diese Infektionskrankheit in epidemischer Form auf, die jährlich tausende Menschen betraf. Darunter waren vor allem Kinder, die daran verstarben oder dauerhaft mit körperlichen Folgeschäden leben mussten. Ab etwa 1910 wurden in Europa und den Vereinigten Staaten regionale Epidemien in einem Turnus von etwa fünf bis sechs Jahren beobachtet. Zu den bekanntesten Opfern einer solchen Epidemie zählt der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der die Forschung nach einem Impfstoff während seiner Präsidentschaft wesentlich förderte. Zu wesentlichen Fortschritten in der Erforschung eines Impfstoffes führte 1952 die Einführung der Viruskultur durch J. F. Enders, dank der Jonas Salk 1954 einen inaktivierten (Tot-)Impfstoff entwickeln konnte. Dieser wirkte jedoch nur unzureichend. Der von Albert Sabin entwickelte abgeschwächte Lebendimpfstoff führte ab 1960 zu den wesentlichen Fortschritten bei der Poliobekämpfung. Dank der Impfstoffe sanken die Poliofälle von jährlich mehreren 100.000 auf nur noch etwa 1.000 pro Jahr. 2010 kam es zu einem schweren Ausbruch in Tadschikistan, der auch nach Russland verschleppt wurde.
Das Virus wird in der Regel durch den Mund in den Körper aufgenommen und vermehrt sich anschließend im Darm. Von dort aus befällt es zunächst die lokalen Lymphknoten und verteilt sich nach Vermehrung über die Blutbahn (Virämie). Dabei gelangt es als neurotropes Virus bevorzugt in diejenigen Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmarks (α-Motoneurone), die mit ihren Fortsätzen die quergestreifte Muskulatur erreichen und steuern. Als Reaktion auf die Infektion wandern körpereigene Abwehrzellen (Leukozyten) ins Rückenmark ein, wobei eine Entzündung die Nervenzellen letztlich zerstört. Die Folgen sind mehr oder weniger ausgeprägte, ungleichmäßig verteilte, schlaffe Lähmungen, vorwiegend an den Beinen. Der Berührungssinn bleibt dabei erhalten. Da keine ursächliche antivirale Therapie existiert, beschränkt sich die Behandlung auf symptomatische Maßnahmen. Dazu gehören Bettruhe mit Sicherstellung einer sorgfältigen Pflege, korrekte Lagerung und physikalische Therapie. Die auftretenden Schmerzen können außer durch Schmerzmittel und entzündungshemmende Mittel auch mit feuchtwarmen Packungen um die betroffenen Partien gelindert werden.
Beim geringsten Verdacht auf das Vorliegen der bedrohlichen bulbären Verlaufsform mit Auftreten von Schluck- oder Atemstörungen muss frühzeitig eine intensivmedizinische Überwachung und Behandlung sichergestellt werden. Zur Nachbehandlung gehört neben einer angemessenen Krankengymnastik auch gegebenenfalls die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln. Dadurch kann noch bis zu zwei Jahren nach der akuten Erkrankung eine Verbesserung der Beweglichkeit erreicht werden. Im Jahr 1962 (in der DDR bereits ab 1960) wurde zunächst die Poliomyelitis-Schluckimpfung mit abgeschwächten Erregern (Attenuierter Lebendimpfstoff) in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern eingeführt.“
Martin war leider nicht geimpft, denn er ging schon vor der Kampagne in Deutschland nach Südamerika. Der Virus hatte sich schnell bei ihm eingenistet. Woher er nun kam, dieser furchtbare Virus? Wer weiß das schon? Niemand. Die Frage, warum er gerade i h n befiel, sollte man sich nicht stellen. Kein Mensch kommt weiter, wenn er sich mit dieser Frage quält. Man muss kämpfen und froh sein, wenn es Freunde oder Verwandte gibt, die einem in der schrecklichen Situation Beistand leisten. Doch die Gedanken kommen ungefragt und ungebeten zu den Kranken und Angehörigen. Man muss mit ihnen fertig werden. So oder so.
Martin arbeitete bei einer Firma, die sich nun glücklicher-
weise sehr um ihn kümmerte und auch dafür sorgte, dass er in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, welches den Ruf hatte, das Beste von ganz Brasilien zu sein.
Gustav erfuhr von der Situation seines Sohnes per Fax über die deutsche Firma, die auch einen Sitz in Sao Paulo hatte und bei der Martin bislang beschäftigt war. Er entschloss sich sofort, nach Südamerika zu fliegen, um dem armen Martin beizustehen, sich zu überzeugen, was da für ihn gemacht werden kann. Schließlich war es sein erklärtes Ziel, den kranken Sohn dort rauszuholen, ihn nach Hause zu bringen, sofern er transportfähig ist.
„Scheiß auf die Flugkosten (ein einfacher Flug kostete 5.050 DM, heute ungefähr 800 bis 1000 Euro)) und überhaupt, scheiß auf alle zu erwartenden Kosten, er würde Martin nicht in einem fremden Land jämmerlich verrecken lassen“, dachte er besorgt und grimmig entschlossen.
Nein, Gustav machte sich ohne zu zögern auf den Weg, ohne zu wissen, welche Leidenszeit nun bevorstand. Der Sohn liegt in der eisernen Lunge, soviel wusste er.
Eine Eiserne Lunge war das erste klinische Gerät, das eine maschinelle Beatmung eines Menschen ermöglichte. Um 1920 entwickelte der US-amerikanische Ingenieur Philip Drinker sie zur Beatmung lungenkranker Patienten. Dabei liegt der Körper des Patienten bis zum Hals komplett im Inneren eines Hohlzylinders. Der Kopf bleibt außen. Das Gerät schließt am Hals luftdicht ab und erzeugt einen Unterdruck. Dadurch drückt der Umgebungsdruck Außenluft durch den Mund des Patienten in die Lungen. Entsprechend geschieht die Ausatmung durch den Aufbau eines Überdruckes in der Kammer. Eiserne Lungen kamen in der Vergangenheit bei Polio-Erkrankten zur Anwen-
dung.
Polio ist eine Viruserkrankung, bei der es zu einer Lähmung der Muskeln einschließlich des Zwerchfells kommen kann. Viele Polio-Patienten benötigten die Eisernen Lungen nur in der Akutphase der Erkrankung bis zum Wiedereinsetzen der Muskelfunktion. Einige Patienten benutzten sie nur über Nacht, andere kontinuierlich.
In Sao Paulo angekommen, schreibt Gustav, dass er sich an all die schrecklichen Dinge, die es in einem Krankenhaus gibt, erst gewöhnen musste. Martin lag wie Schneewitt-
chen in einem Glassarg, nur dass es kein Glasssarg war und sein aufgequollener Kopf herausschaute. Ein äußerst trostloser, bedrückender Zustand findet Gustav, innerlich zu Tode erschrocken, ohne es sich anmerken zu lassen.
Martin lag also in der eisernen Lunge, sein Kopf war angeschwollen und er konnte nur lallende, kaum verständ-
liche Töne von sich geben, doch was er sagte, war gedanklich klar. Er gab seine „Anweisungen“ an die diversen Ärzte und Schwestern, die sich um ihn rührend aber professionell bemühten, in Englisch oder Portugie-
sisch, obwohl es auch deutschsprachige Schwestern und Ärzte gab.
Als er Gustav, seinen Vater sah, versuchte er sogar zu lachen. Sein Schicksal wäre ihm klar, hörte Gustav. Der jedoch wagte nicht, seine diesbezüglichen Sorgen und Gedanken, die ihn überfallartig heimsuchten, dem Sohn mitzuteilen.
Bald darauf durfte er, mit Genehmigung der Ärzte, der Familie in Deutschland fernschriftlich aus dem Kranken-
haus mitteilen, dass eine momentane Besserung zu verzeichnen sei.
Martins Hoffnungen, wieder zu werden, schienen momen-
tan noch ungebrochen.
Gustav wusste allerdings, dass ein Schnupfen, eine Infektion oder irgendeine ähnliche Sache im Nu alles umwerfen konnte, also hieß es abwarten. Offenbar war außer der Lunge die rechte Seite gelähmt.
Die Ärzte erwogen inzwischen, den Hals aufzuschneiden, um eine Kanüle einzuführen, da die künstliche Ernährung durch die Nase nicht mehr zureichte. Das erwies sich glücklicherweise als nicht nötig, denn Martin konnte ein wenig Suppe schon durch den Mund aufnehmen.
Es hieß, dass Martin noch mindestens zwei Monate in der eisernen Lunge zubringen müsste, „normalen“ Verlauf vorausgesetzt, ehe man mit einigen Übungen beginnen könne.
Gustav machte sich nun auch schwere Gedanken über die finanzielle Lösung, es war ja nichts klar. Was wenn er alles bezahlen müsste? Die Spezialärzte, die eiserne Lunge, das Krankenhaus, der vielleicht jahrelange Gesundheitsprozess, in dem Krankenhaus lagen Patienten mit Kanülen schon vier lange Jahre, das Danach im Rollstuhl oder mit Krücken, fünfzigtausend DM dürften kaum reichen, rechnete Gustav fast verzweifelt. Aber vielleicht geht doch eine Regelung über die Kassen? Gustav hoffte, mehr blieb ihm an diesem Abend nicht.
Am nächsten Tag sprach Gustav mit dem Generaldirektor von Martins Firma über seine Ängste hinsichtlich der finanziellen Regelungen und der konnte dazu beruhigende Sätze sprechen wie: “Die Kasse der Firma zahle ALLES, selbst Gustavs Behandlung, in die er sich begeben wollte. Der Mann versprach in Bälde nach Europa zu fliegen und er würde gewiss die Sache mit der Firma in Deutschland regeln, natürlich unter Einbeziehung von Klara, Martins Mutter, die in Düsseldorf voller Sorge ausharrte.
Die Ärzte bescheinigten, dass Gustavs Anwesenheit sich sehr günstig auf den Krankheitsverlauf auswirken würde. Martin bekäme Auftrieb.
So richtete sich Gustav in Martins Wohnung ein, gefasst ungewisse Zeit hier zu leben, wissend, dass die klimati-
schen Bedingungen kompliziert seien, denn lange genug hatte Gustav in Hitze und starken Regenfällen im Libanon und Irak zugebracht. Er wusste ungefähr, was diesbezüglich kommen würde.
„São Paulo befindet sich in der subtropischen Klimazone. Die Temperaturen erreichen im Sommer kaum 34 Grad Celsius, während Frost im Winter selten ist. Die höchste Temperatur wurde offiziell am 15. November 1985 mit 35,3 Grad Celsius gemessen, die tiefste am 2. August 1955 mit -2,1 Grad Celsius (beide an der nationalen Wetterstation „Mirante de Santana“ in der Nordregion). In den umliegenden Bergen (Horto Florestal) sank das Thermometer am 2. August 1955 auf -3,9 Grad Celsius (Messung inoffiziell).
Über Schneefall wird in der Geschichte der Stadt nur vom 25. Juni 1918 berichtet. Niederschlag ist besonders in den wärmeren Monaten reichlich vorhanden, aber selten zwischen Juni und August. Weder ist São Paulo noch die nahe gelegene Küste je durch einen tropischen Wirbelsturm heimgesucht worden, auch Tornados sind selten. Der Wintermonat August war in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts meist trocken und heiß. Die Temperaturen stiegen bis auf 28 Grad Celsius. Dieses Phänomen wird auf Portugiesisch „Veranico“ genannt („kleiner Sommer“).
Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt in São Paulo 19,3 Grad Celsius, die jährliche Niederschlagsmenge 1455 Millimeter im Mittel. Die wärmsten Monate sind Januar und Februar mit durchschnittlich 22,0 bis 22,3 Grad Celsius, der kälteste Monat ist der Juli mit 15,7 Grad Celsius im Mittel. Der meiste Niederschlag fällt in den Monaten Januar und Februar mit 201 bis 239 Millimetern im Durchschnitt, der wenigste im Juli und August mit 39 bis 44 Millimetern im Mittel.“
Als Gustav ankam, waren noch +40° C, nun hatte es sich schon im Oktober, zumindest abends und morgens merklich abgekühlt und Gustav musste die Sachen von Martin anziehen, um nicht zu frieren. Zum Glück passten auch die Schuhe, nur die Anzüge nicht. Gustav liebte es im Anzug aufzutreten, das war er aus seinen Zeiten bei der Bank gewohnt. Kleidungsmäßig war er auf einen monatelangen Aufenthalt in Sao Paulo nicht eingerichtet, dennoch würde er solange bleiben wie es nötig war, nämlich solange bis Martin transportfähig war und aus dem verdammten aber lebensrettenden Sarg heraus könne.
„Kümmert Euch um Mutter“, schrieb er an die Tochter und an den älteren Sohn in Deutschland, doch beide wohnten nicht in Düsseldorf, sondern ganz woanders. Die Tochter in der damaligen DDR und der Sohn in Darmstadt. Klara musste mehr oder weniger alleine klarkommen, so schreibt Gustav ihr auch sehr viele Briefe mit ganz konkreten Anweisungen für viele Alltäglichkeiten. Er kannte seine Klara und wusste, wie sie sich anstellen konnte. Sie musste das schaffen, es ging nicht anders, hoffte er.
Gustav vergleicht die Stadt mit Beirut, in der er Anfang der Fünfziger Jahre aus beruflichen Gründen lebte, nur viel größer (ungefähr 4 Millionen Einwohner) und viele Menschen seien hier kohlrabenschwarz, stellte er fest. Leider würde man vielfach weder deutsch, englisch oder französisch verstehen, so müsse er sich der Zeichen-
sprache bedienen und so schnell es ginge portugiesisch lernen.
Die Stadt ist bis heute inzwischen unglaublich gewachsen:
„Menschen aus rund 100 verschiedenen Ethnien nennen die Stadt ihr zu Hause. Laut Schätzung des IBGE vom 1. Juli 2003 lebten in der Stadt 10.677.019 Personen. Die Bevölkerung mit weißer Hautfarbe hatte daran mit 69,9 Prozent den größten Anteil, gefolgt von Menschen mit brauner Hautfarbe (Pardo) mit einem Anteil von 24,0 Prozent, den Afrobrasilianern (4,0 Prozent) und Asiaten (2,0 Prozent). Die ethnische Zusammensetzung ergab im Einzelnen folgende Statistik:
• Europide/Kaukasier – (69,9 %), rund 8,0 Millionen
• Pardo/Mischlinge – (24,0 %), rund 2,0 Millionen
• Afrobrasilianer/Schwarze – (4,0 %), rund 527.000
• Asiaten – (2,0 %), rund 456.000
• Angehörige der indigenen Bevölkerung – (0,1 %), rund 18.000
Die meisten Einwohner von São Paulo sind italienischer Abstammung, das entspricht in etwa sechs Millionen Menschen. Die portugiesischstämmige Bevölkerung liegt mit drei Millionen Personen auf Rang zwei. An dritter Stelle stehen japanischstämmige Bewohner mit rund 326.000. Zudem gibt es etwa 120.000 Juden in São Paulo“
Gustav schrieb ein wenig stolz klingend, dass Martin in seiner Wohnung eine mustergültige Ordnung hätte und überall lägen Lehrbücher, aus denen er die Sprache und anderes lernte. Außerdem hatte sein Sohn es fertig gebracht in der kurzen Zeit seiner beruflichen Tätigkeit, eine ansehnliche Summe schönen Geldes in Dollar zu sparen.
Inzwischen war es Oktober und Gustav hatte größte Probleme mit den Zähnen. Ein schreckliches Eitergeschwür machte ihm schwer zu schaffen, an Schlaf war nun gar nicht zu denken, bei jeder Bewegung war der Schmerz unerträglich. Doch es gab Hilfe, die Ärzte in Sao Paulo hatten Qualitäten, die Gustav in den höchsten Tönen pries. Sie erlösten ihn und so konnte er sich wieder ganz seinem Sohn widmen. Der war nämlich das erste Mal aus der eisernen Lunge herausgeholt worden und er lag nun auf einem Bett, das später vibrieren sollte. Vorerst hatte er aber noch den so genannten Kürass auf Brust und Leib, der die Atmung bewerkstelligt und ähnlich wie die Lunge arbeitet, nur das der Oberkörper zeitweise hoch liegt und somit Martin etwas mehr von seiner Umgebung sehen kann.
„Die Kürass-Ventilation (Kürass-Beatmung; engl. Biphasic Cuirass Ventilation, BCV) stellt ein Hilfsmittel bei der Heimbeatmung bzw. Atmungsunterstützung dar. Sie nutzt als Verfahren der nichtinvasiven Beatmung ein ähnliches Verfahren wie die historische Eiserne Lunge, welches darauf beruht, durch die Anwendung von externem Unterdruck in einem den Brustkorb umfassenden Kürass (von französisch cuirasse für „Lederpanzer“ von cuir für Leder) eine Thoraxausdehnung herbeizuführen (Noninvasive Negative Pressure Ventilation, NINPV).Die Kürass-Ventilation wird mittels einer Art Weste praktiziert, die aus einem durchsichtigen, relativ elastischen Material besteht. Sie umschließt den Brustkorb und teilweise den Bauch des Patienten und schließt dabei an den Rändern möglichst dicht ab, so dass keine größeren Lecks entstehen. Über einen Schlauch, der mit der Weste verbunden ist, kann Luft in diese hinein- und hinausgepumpt werden. Ein an den Schlauch angeschlossener Kompressor übernimmt diese Pumpfunktion.“
Die therapeutische Untersuchung hatte also eine völlige Lähmung von oben bis unten einschließlich Harnleitung ergeben, beweglich wäre nur der linke Arm, er konnte sich also an der Nase kratzen. Die Finger beider Hände und die Zehen der Füße würden auch nicht gelähmt sein, sagten die Ärzte.
Man begann nun mit der Gymnastik und hoffte auch in zwei oder drei Wochen mit der Bädermassage anfangen zu können. Gustav meinte, dass nun eine psychisch gefähr-
liche Zeit für Martin einsetzen könnte, denn der sah nun selbst das ganze Ausmaß der Sache. Wie es mit seinen Hoffnungen nunmehr bestellt war, wagte Gustav sich kaum auszumalen. Und dann dieser Brief von Klara!!!
Klara saß in Düsseldorf und machte sich Sorgen und Gedanken, was verständlich war, doch ihre Gedanken-
gänge lösten in Gustav auch große Empörung aus, als sie nämlich zum Ausdruck brachte, dass dieses Leiden eine von Gott gesandte Strafe sei und zwar dafür, dass Martin immer sehr ungezogen zu seiner Mutter war. Gustav regte sich fürchterlich auf und zerriss den Brief, er würde Martin vor solchen unsensiblen und himmelschreienden Dumm-
heiten unbedingt schützen.
Hedwigs Frage dazu beantwortete er resignierend, nämlich, dass Mutter ein sehr simples Ventil für ihre Sorgen hätte: „Das Gebet“ als einfache aber fast beneidenswerte Lösung! Man könne da nichts machen, schloss er.
Gustav kannte Klaras Einstellungen zu den Dingen. Diesmal allerdings wäre Klara zu weit gegangen, fand er immer noch wütend.
Er wollte sich mit diesem Thema erst einmal nicht weiter beschäftigen, viel wichtiger war, wie es Martin ginge. Er machte sich also zum Krankenhausbesuch auf, täglich von 14 bis 17 Uhr.
Martin schlief, wenn er Verdauung hatte, zeitweise ein bisschen. Er aß nicht viel aber trank fleißig und konnte schon recht gut schlucken. Im Takt der Lungenstöße konnte er sprechen oder rufen, schrieb Gustav an die Familie. Er pinselte so jeden Tag alle Einzelheiten, Klara erhielt täglich Briefe. Gustav machte sich auch Sorgen um sie, auch wenn sie ihm mit ihrer Frömmelei und abstrusen Gedankengängen furchtbar nervte. Es war seine Frau und die Mutter von Martin, dem Nachkömmling, den es so hart getroffen hatte.
Gustav beschloss sich Arbeit zu suchen, damit unter anderem auch die Vormittage schneller vergingen. So nahm er einen Job an, bei dem er nur Lohnlisten zu kontrollieren hatte, für einen ehemaligen Bankdirektor eine fast erniedrigende Tätigkeit aber er beklagte sich nicht, er hatte hier eine auch ablenkende Beschäftigung gefunden.
Es war bereits Ende Oktober.
„Martin konnte unter Aufsicht der Ärzte heute eine Viertelstunde frei atmen!!!“, schrieb Gustav und nun sollte es bald mit den Bädern losgehen. Martin hätte aber Schisse wegen der Bewegungsschmerzen.
Im Übrigen ginge es insgesamt aufwärts, Martin hätte nun ein Radio, welches er allerdings nicht alleine bedienen könnte aber er würde auch eine für ihn passend gefaltete deutsche Zeitung erhalten, in der er ein wenig liest.
Gustav schrieb an Klara, dass er nunmehr mit langer Unterhose, Schirm, Hut und Mantel herumliefe und unter starkem Durchfall leiden würde. Dann berichtete er Klara, dass er mit dem Direktor von Martins Firma Kontakt aufgenommen habe und das Versprechen bekam, dass man Martins Arbeitsplatz reservieren wolle, egal wie lange der Genesungsprozess dauern würde. Gustav glaubte nicht wirklich daran und hielt das nur für einen tröstenden Spruch, dennoch tat dieses Versprechen gut im Bauch nach all den schlimmen Ereignissen.
Nun war es schon Dezember und das Weihnachtsfest stand bevor. Gustav wusste, dass Klara Weihnachten bei Hedwig verbringen würde, und nicht traurig alleine zuhause sitzt. Hedwigs Kinder würden sie schon ablenken.
In Sao Paulo weihnachtete es auch fürchterlich. Alles war überdimensioniert geschmückt und illuminiert, dazu ständige Gewitter mit Wolkenbrüchen. An allen Wolken-
kratzern hingen in schwindelnder Höhe Riesengirlanden und Kugeln in unvorstellbarer Größe in den hohen Palmen. Die Geschäfte voller toller Sachen und Gustav bedauerte, dass Martin nicht alles im Farbfilm festhalten könne.
Gustav hoffte, dass es wegen des Weihnachtsfestes Erleichterungen für den Besuch im Krankenhaus gäben würden, denn sonst müsste man stundenlang anstehen an den Eingangspforten.
Weihnachten würde also für Vater und Sohn recht prosaisch zugehen. Gustav bemerkte lakonisch, dass man da nichts machen könne, es wäre eben ein Malheur de caque. Martin machte sich trotzdem oder gerade deshalb ununterbrochen lustig über seine Lage.
Gustav hielt das für ein Zeichen, dass sein Sohn alles nur für eine vorübergehende Geschichte hielt. Was Martin wirklich darüber dachte, wusste er nicht.
Inzwischen hatte Gustav eine Revision bei einer Firma in Sao Paulo durchgeführt, also nicht mehr nur Lohnlisten kontrollieren. Die Prozeduren sind auf der ganzen Welt gleich, meinte Gustav und biss sich mit Hilfe von Wörter-
büchern durch die ihm wohlbekannte Materie der Zahlenwelten.
Inzwischen hatte er sich auch entschlossen, in eine andere Wohnung zu ziehen, in den Stadtteil Villa America. Dort konnte er einige Annehmlichkeiten genießen, die Martins Wohnung nicht boten.
Die zu bewältigenden Wege und Entfernungen waren allerdings nicht unerheblich. Er musste mit dem Trolleybus in die Stadtmitte fahren und dann laufen und wieder mit einem Bus weiter. „Alles voller Menschen und Flohgefahr!“ schrieb Gustav und die Sonne würde nun auch wieder hoch stehen und 28 bis 30 Grad im Schatten bescheren. Am Abend wäre es wesentlich kühler aber die Moskitos hätten nun freies Spiel.
So war Gustav ständig auf Achse und besorgte diverse Dinge für Martin, den er täglich ab 14 Uhr besuchte, wobei man vor dem Riesenhospital zuvor eine Stunde Schlange zu stehen hatte, ehe man rein kam. Gustav war den ganzen Tag unterwegs und auf den Beinen, er hatte inzwischen auch ein paar neue Schuhe durchgelatscht und ein Anzug hätte auch schon etwas gelitten. Man sollte also zum Schneider, schrieb er, denn durch seine Gewichtsabnahme müsse er Hosenträger anlegen, ansonsten würden die Hosen downstairs gehen.
Martin atmete nun tagsüber ohne Hilfe allein, allerdings nicht per Bauchfell, sondern irgendwie mit der Gurgel. Er konnte weder husten, noch niesen oder sich räuspern. Gefährlich würde es werden, wenn er sich verschluckte. Er wurde täglich gebadet und unter Wasser bewegt, dabei war sein Kopf nicht besonders stabil. Er wackelte halt. Martin hatte Hoffnungen und benutzte seine altgewohnten Redensarten. Er war beliebt in der Klinik und die portugie-
sisch quasselnden aber sehr gut ausgebildeten Schwest-
ern kamen gerne zu ihm.
Andere Besucher standen vor seinem Zimmer und weinten, ganz besonders als das Bett noch zu Trainingszwecken schaukelte. Alles, insbesondere die „Lungen“, sah wie eine Folterkammer aus. Die Leute begriffen natürlich nicht, was hier geschah.
Es ist Januar 1961. Neujahr! In Sao Paulo feierte man wie verrückt, doch Gustav fand alles entsetzlich, er fühlte sich krank und lag ja auch über Weihnachten im Bett. So war seine Stimmung nicht gerade die Beste, zumal es über Martin nichts Günstiges zu berichten gab. Der Arme wurde reichlich mit Geschenken, auch mit guten „Fressalien“ eingedeckt aber alle Zeichen deuteten darauf hin, dass mit einem einigermaßen zufrieden stellenden Verlauf einer Besserung nicht mehr zu rechnen sei, es sei denn die Ärzte verrechnen sich und es käme doch noch eine Kleinigkeit anders.
So schrieb Gustav an die Familie, dass sie nun vor schwerwiegenden Veränderungen des Lebens stünden, vorausgesetzt, dass er lebend und einigermaßen gesund mit Martin aus Sao Paulo wegkäme. Es würde dabei viel von seinem Sohn Peter und dessen Frau abhängen, denn soviel sei sicher, er Gustav und Klara dürften in absehbarer Zeit vielleicht selber Unterstützung oder Pflege, im schlimmsten Fall, benötigen. Wenn Martins Freundin bei der Stange bliebe, wäre manches gelöst aber damit ist kaum zu rechnen. Martin bliebe immer der wahre Leidtra-
gende, der vielleicht ein langes aber trauriges Leben vor sich hätte. Ob er sich darüber im Klaren sein könnte, wusste Gustav nicht. Martin hielt sich verschlossen, was seine diesbezüglichen Zukunftsgedanken anbelangte.
Seinen Reden nach müsste man aber meinen, er hätte noch viele Hoffnungen.
Gustav jedoch hatte viele Sorgen, denn die Krankenkasse von Martins Firma würde nicht ewig alles zahlen. Martin selber war nicht ausreichend versichert, somit fürchtete Gustav seinen finanziellen Ruin, denn er würde natürlich einspringen aber sein und Klaras Alter wären damit mehr als unabgesichert.
Diese Überlegungen brachten ihn nicht weiter. So schrieb er lakonisch auf, dass es seit eh und je in der ganzen Welt üblich sei, „motzig“ in die Zukunft zu blicken und die Leidtragenden sich: „Gottgelaber… und es wird schon nicht so schlimm werden“, anhören müssen aber ihm bliebe im Augenblick nur, sich überraschen zu lassen und das Menschenmögliche zu veranlassen.
Um Punkt 12 Uhr überkam Gustav ein tiefes menschliches Bedürfnis, er hatte immer größte Verstopfungen und litt daran sehr. Nach dieser unglaublichen Erleichterung, fragte er sich, ob dieses nun „ein Zeichen von Oben wäre?“
Zumindest hatte Gustav seinen urwüchsigen Humor nicht verloren.
Am nächsten Tag hieß es, Martin stände unter Gelbsucht-
verdacht. Dieser Verdacht bestand einige Tage aber dann ging es „bergauf“, denn er machte schon wieder kuriose Witze über die Verwandtschaft. Hedwig war nämlich von Berlin nach Mecklenburg mit ihrer Familie gezogen, auf ein ganz kleines Kuhkaff. So spottete Martin, dass seine Schwester Hedwig sich doch statt als Lehrerin lieber als Besamungs-Ingeneurin entwickeln und auf diese Weise auch für den Frieden kämpfen könne. Na ja, selbst in schlimmsten Lagen gibt es Spaß, ein Galgenhumor? Vielleicht.
Martin hatte nun einen Schnupfen und Gustav auch. Normalerweise ist das kein Beinbruch aber für Martin war das eine große Gefahr, denn es stellte sich Fieber ein. Die Lunge wäre noch ohne Befund, hieß es. Martins Gesamtzustand war jedoch unverändert aber er hätte irgendwie immer mal Schmerzen. Ein befreundeter Arzt sagte dazu, dass bei Schmerzen noch Leben vorhanden sei. Ob das Gustav und Martin getröstet hat? Man weiß es nicht.
Die Ärzte des Krankenhauses eröffneten den beiden die Aussicht, dass Martin noch mindestens ein Vierteljahr ausharren müsste bis zur Transportfähigkeit. Gustav und Martin schlussfolgerten daraus, dass man also tatsächlich eine Besserung erwartete, ansonsten würde man ja auch die Abschiebung nach Deutschland durch die Firma längst veranlasst haben. Die Klinikärzte hatten damit einen gewissen Lichtpunkt signalisiert und vermutlich die Firma überzeugt, deren Versicherung ja schließlich noch alles bezahlte.
Es gab also Hoffnung.
Klara plante schon einen gemeinsamen Kuraufenthalt mit Martin. Doch Gustav konnte daraus nur schließen, dass sie sich über den Ernst der Lage nicht bewusst war, denn Martin war nicht einmal transportfähig, geschweige denn kurtauglich. Das würde noch sehr lange dauern.
In Rio lebte eine bekannte Familie, die Gustav wenigstens einmal zu besuchen wünschte. Außerdem wollte Klara unbedingt wissen, wie die so lebten und ob deren Ehe auch gut liefe. Na ja, Fraueninteressen halt, dachte Gustav aber einen Kurzurlaub wollte er sich auch gönnen, so flog er nach Rio de Janeiro.
Man freute sich sehr, nahm aber außerordentlich bestürzt zur Kenntnis, warum Gustav im Lande weilte. Sie freuten sich auch wieder einmal deutsch sprechen zu können oder zu müssen. Man unternahm mit Gustav einen Ausflug zum „Jesus“, wofür man ein zweistündiges Anstehen bei glühender Hitze an der Zahnradbahn in Kauf zu nehmen hatte.
„Anschließend latschten wir noch den ganzen Strand entlang und besuchten einen Zoo, wo sich selbst die tropenfähigen Tiere verkrochen haben“, schrieb Gustav nach Deutschland, die Leute wären aber furchtbar nette und liebe Menschen nur eben anders lebend als man sich das in Deutschland so denkt.
Immerhin, Gustav hatte einmal ganz andere Eindrücke und konnte sich sogar beim Anflug über die wilden Bergsilhouetten erfreuen. Das Ehepaar nötigte Gustav im Ehebett zu schlafen, während sie auf Matratzen nächtigten. Sie gaben alles, um Gustav ein paar schöne Stunden zu bereiten.
In Sao Paulo gelandet, ging der „Alltag“ wieder los. Hitze auch hier und abends Tropengewitter mit sintflutartigen Güssen. Gustav schrieb, dass er auf dem Heimweg überrascht wurde und sich in einer guten italienischen Kneipe zum Essen mit zwei halben Flaschen Rotwein die Zeit vertrieb, somit völlig „blau“ das Lokal verließ.
Martins Stimmung schien die alte, manchmal aber noch bissiger. Aber er erkundigte sich nach der Familie, fragte, was so seine Nichten, nun in Mecklenburg lebend, alles so machen. Gustav gibt die Fragen weiter und liest alle kommenden Briefe vor, die trotz Luftpost oft 14 Tage und mehr benötigen.
Gustav beklagte nun, kein Gramm Fett mehr am Leibe zu haben und an Schlaf kaum zu denken sei, denn es wäre ja jetzt auch Karneval, aber sehen könne er davon natürlich nichts. Verdauung und Appetit? Alles nur Fehlmeldungen. Aber angesichts Martins Tragödie sei alles relativ. Aber er müsse wenigstens nun nur noch nachts beatmet werden, Martin nennt es Kürass der Nacht!
Martins Muskeln waren nicht tot, soviel war sicher. Irgendetwas bewegt sich, meinte er. Man sieht bloß nichts. Man müsse sie eben nur aufwecken. Martin lag aber immer noch so da und hielt Gustav bei den täglichen Besuchen auf Trapp. Er musste zum Beispiel fortwährend sämtliche Körperteile umbetten.
Gustav arbeitete nun täglich in der Verwaltung des Krankenhauses, so war er immer vor Ort in Martins Nähe. Im Februar gingen nun pünktlich ab 17 Uhr gewaltige Gewitter los, Blitze ohne Ende und beachtliche Wolken-
brüche. Wenn er das Krankenhaus verließ, um „nachhau-
se“ zu fahren, dann wäre damit stets die bange Frage verbunden: „Derwischt es mich oder derwischt es mich nicht?“ Manchmal rettete ihn nur die Flucht in ein Kino, obwohl die Flöhe daraus abends halt zu fangen wären, wenn auch oft genug erfolglos, schreibt Gustav. In den Kinos gäbe es auch hin und wieder deutsche Filme aber nur alles alte, alberne Heimatschnulzen.
Samstag und sonntags gönnte sich Gustav bis Mittags im Bett zu liegen, weil man bei der Affenhitze im Freien absolut nichts machen könne. Hoffentlich ist dieses Sauleben auch für mich hier bald zu Ende, schrieb Gustav, wissend, dass dieses allerdings noch lange nicht in irgendeiner Weise absehbar wäre. Keiner wusste, wann Martin transportfähig sein würde. Gustav rechnete also mit mindestens noch einem halben Jahr, wenn kein Wunder eintreten würde und damit wäre gewiss nicht zu rechnen. „Also alles ein großer Scheiß!“ Er endete den Brief mit dem inniglichen Wunsch, alles einmal persönlich erzählen zu können, auch wenn nichts mehr aktuell sei. ( zum Glück)
So vergingen die Tage und Wochen. Martin lag natürlich noch gelähmt in seinem Bett aber der Kürass wurde nun nur noch nachts angeschnallt, das linke Bein schien kräftiger und würde vielleicht „kommen“, schrieb Gustav aber rollstuhlfähig war Martin noch lange nicht. Martin war außerdem spindeldürr, dennoch wären zwei athletische Mädchen nötig, um ihn auf den Stuhl zu bringen, diesen zu reinigen und sie hielten sich demonstrativ dabei die Nasen zu. In Martins Zimmer gab es immer etwas zu lachen und er hatte viel Besuch. Man quasselte ununterbrochen portugiesisch. Gustav verstand nicht alles und Martin meinte, dass das alles sowieso nur Schwatzliesen seien.
Es war Ostern, in Brasilien war es also Herbst geworden, Gustav brauchte kaum noch einen Regenschirm. Karfreitag gönnte er sich einen Ausflug ins Blaue. Er bestieg einen Bus in unbekannte Richtung und fuhr damit bis zur Endstation, an der sich ein Stausee in lieblicher Umgebung befand. Erstaunt entdeckte Gustav Rindviehherden aber auch einen Kaktus, der einen Stamm wie eine alte deutsche Eiche hatte und so hoch wie ein zweistöckiges Haus war. Auf dessen Ästen und „Zweigen“ wuchsen kleine Palmen als Schmarotzer. Gustav war verblüfft und machte Fotos.
Am Samstag fuhr er noch mal los, um einen Zoo zu besuchen, doch es war so heiß, dass sich alle Tiere, auch die Schlangen verkrochen. Doch es gab Bäume die mit großen Blüten bedeckt waren, dazu große bunte Schmetterlinge und Kolibris.
Später besuchte Gustav eine Schlangenfarm, die zu einem Forschungs- und Giftinstitut gehörte. Man führte die Schlangen im Freien vor. Eine große Klapperschlange, die heftig mit ihrem Schwanz klapperte hatte es auf Gustavs Hosenbein abgesehen. Gustav solle mit dem Bein ener-
gisch aufstampfen, riet man. Das Gift war dieser Schlange allerdings zuvor abgenommen worden. Sie wäre in dem Moment nicht gefährlich. Na ja, Gustav hatte nun trotzdem genug gesehen und erlebt.
Anfang Mai erhielt Gustav in seiner Wohnung einen Arztbesuch. Als erstes wurde ihm eröffnet, dass Martin definitiv niemals mehr laufen können wird. Nach Gustavs diesbezüglichem kleinem Einwand wurde er auf den lieben Gott verwiesen, der es vielleicht zuließe, dass der Kranke eventuell noch mit Krücken oder Schienen sich bewegen werde aber nicht vor Ablauf von fünf Jahren. Dem Arzt würde es gerade in seine Reisepläne passen und man würde hier in Sao Paulo auch nichts mehr für Martin unternehmen können, auch der Winter stünde vor Tür, so hielt man es für angeraten, baldigst an die Heimreise nach Deutschland zu denken.
Gustav beabsichtigte mit Martin via Schiff, genauer mit der Aragon, einem großen Luxusdampfer der Royal Mail Lines nach London zu fahren und von dort, nach einer Erholung in einem guten Hospital mit dem Flieger nach Deutschland. Der Arzt vertraute Gustav an, dass die Firma erst nur den Arzt erster Klasse unterzubringen gedachte und Gustav sollte mit Martin in der dritten Klasse reisen. Ab Düsseldorf würde die Firma sowieso alle Verpflichtungen, was Martin betraf, für erledigt betrachten.
Der Arzt wollte eigentlich eine schöne Europareise machen, auch Paris, Stockholm und Kopenhagen sehen und seine Verpflichtungen gegenüber Martin schienen zweitrangig oder notwendiges Übel.
Gustav beschäftigte sich nun ununterbrochen mit allen Vorbereitungen und Formalitäten für die Rückreise und Martin meinte, was die Vorhersagen der Ärzte für die Zukunft anbelangte, er würde ganz sicher mit irgendwelchen Apparaten hochkommen.
Gustav hatte den Kopf voll. Vieles musste in Deutschland vorbereitet werden. Es war ein Wust an Formularen und praktischen Handlungen zu bewältigen und durchzuführen, man kam nicht daran vorbei. Gustav kämpfte sich durch.
Endlich war es so weit:
Die Rückreise:
Mai 1961
„Dreck ist Trumpf“, schreibt Gustav ehrlich empört. Sie wollten ja mit dem englischen Passagierdampfer nach London reisen, aber der Kapitän verweigerte die Aufnahme Martins unter Berufung auf die Public option, d. h. er könne einen solchen Anblick seinen Passagieren und deren Kindern nicht zumuten!!!!
Also musste Gustav sich um ein anderes Schiff bemühen. Mit der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft würde es über Rio, Las Palmas nach Rotterdam gehen (vom 02.6. bis 22.06 ungefähr), von dort dann mit einer Ambulanz nach Düsseldorf.
Das Schiff war ein kombinierter Passagier-Frachtdampfer, der normal 28 Passagiere mitnimmt und zwar nur 1. Klasse. Martins Firma bezahlte glücklicherweise die Reise für Martin und die des begleitenden Arztes. Gustav musste sich allerdings auch darüber aufregen, denn ohne den Arzt wäre auch sein Ticket von der Firma bezahlt worden.
Dieser Arzt wollte unbedingt mit und hatte Riesen-
beziehungen, sein Vetter war Gouverneur des Staates Sao Paulo. So „schmuggelte“ man ihn halt mit auf das Schiff und „er würde sich ja so sehr um Martin bemühen wollen“. Dabei war ein Arzt auf dem Schiff, schimpfte Gustav und dem müsse man auch noch immer schön Danke sagen aber den Hintern wischen etc. machte keiner bei Martin, das musste Gustav tun.
Eine kohlrabenschwarze nette und tüchtige Krankenschwester wäre mitgefahren und hätte die ganze Pflege übernommen aber sie durfte nicht mit, weil dieser Depp von Arzt die besseren Karten hatte. Gustav war ziemlich verärgert, mal abgesehen davon, dass die Abfahrtszeit des Schiffes, welches aus Buenos Aires kam und auf Reede lag, weil der Hafen verstopft war, ungewiss war.
Gustav hatte viel zu besorgen und zu erledigen, damit alles klappte, so zum Beispiel auch einen Stempel im Impfschein, für den er acht Stunden unterwegs war.
Und trotzdem schrieb Gustav in seinem Brief, dass die Bäume so herrlich blühen würden und die Schmetter-
linge herumflögen.
Das schrieb er in seinem letzten Brief.
Bevor das Schiff am 5.06.61 in Rio de Janeiro auslief, sendete Gustav noch eine Karte mit dem Vermerk, dass sie nun nur noch 11 Tage bis Las Palmas benötigen würden, danach noch einmal 6 Tage bis Rotterdam und von dort mit der Ambulanz nach Düsseldorf, danach müsse man weitersehen.
Endlich! Zuhause in Düsseldorf im August 1961.
Nachwort
Natürlich ging die Geschichte weiter aber Gustav hatte seinen Sohn heimgebracht. Er hatte es tatsächlich geschafft!!!! Martin war wieder Zuhause und es gab Hoffnungen, wenn auch nicht alle sich erfüllten aber einige und diese in ganz erstaunlicher Weise.
Nein, Martin konnte nicht mehr laufen lernen aber er lernte eine wunderbare Frau kennen, hatte sogar zwei tolle Kinder mit ihr und erlebte sicher noch Vieles, was erzählenswert wäre, was seine Leistung mehr noch verdeutlicht. Vielleicht schreiben darüber einmal seine Kinder ein Buch. Mich würde es freuen, denn auch Martin war ein sehr besonderer Mann mit unglaublichem Lebenswillen und –einstellungen.
Für Gustav kehrte nun ganz allmählich etwas Ruhe in sein Leben ein, er hatte alles, was ihm möglich war, zum Einsatz gebracht und er versuchte nun, seinen Ruhestand zu genießen.
In Düsseldorf wurde er allerdings auch nicht alt, auch verschonte ihn persönlich schlimme Krankheit und Leiden nicht…doch das ist wieder eine neue Geschichte.
Eines ist mir mehr und mehr klar geworden, mein Großvater war ein ganz besonderer Mensch, ein Vater first class gewissermaßen. Ich bin stolz, einen solchen Opa gehabt zu haben. Meine Aufzeichnungen sollen eine Hommage für ihn sein und ich hoffe, die richtigen Worte gefunden zu haben, um seine Leistungen zu würdigen.
Polio heute:
„In unregelmäßigen Abständen kommt es weltweit immer wieder zu vereinzelten Ausbrüchen von Polio, die jedoch meist regional beschränkt sind.
• 2006 trat die Poliomyelitis im Norden Nigerias – einem Gebiet, in dem Poliowildviren des Typs I und III zirkulieren – in einem größeren Ausbruch auf. Die Ursache bestand in zur Impfung verwendeten attenuierten Viren des Typs II, die durch Mutation wieder virulent wurden und sich aufgrund der lokal unzureichenden Immunität ausbreiten konnten. Laut Forschern könnten die 69 bestätigten Fälle und die Politik der Weltgesundheitsorganisation, die dies erst im September 2007 publizierte, die Ausrottung der Krankheit behindern.
• Aus Tadschikistan wurden 2010 bis zum 29. Juni mehr als 643 Fälle von akuter schlaffer Lähmung gemeldet. Das entspricht etwa 75 Prozent aller weltweit gemeldeten Fälle für 2010. In 334 Fällen konnte das Poliowildvirus Typ I nachgewiesen werden, davon verliefen 14 tödlich. Alle Fälle traten bisher im südwestlichen Teil des Landes rund um die Hauptstadt Duschanbe auf. Als Reaktion auf den Ausbruch wurden mehr als drei Millionen Kinder geimpft und auch in den Nachbarländern Usbekistan und Afghanistan mit Impfkampagnen begonnen. Das ursprünglich aus Uttar Pradesh in Indien stammende Virus wurde auch nach Russland weiterverschleppt, wo bis zum 29. Juni sechs Fälle gemeldet wurden. Damit ist es erstmals seit der Zertifizierung als „poliofrei“ in der WHO-Region Europa wieder zu einer Einschleppung von Poliowildviren gekommen.
• Zum 7. Dezember 2010 meldete die WHO im Kongo 179 Tote und 476 Gelähmte durch das Poliowildvirus Typ I. Das Virus stamme vermutlich aus Indien und sei über Angola in die Republik Kongo gekommen. Im Jahr 2000 galt dort Polio als ausgerottet. Der Ausbruch Ende 2010 galt als gefährlich, da auch ältere infiziert wurden und die Sterblichkeit mit 42 % ungewöhnlich hoch war. Zudem wurden vor allem Männer angesteckt. Die Krankheit war im Kongo im Oktober 2010 ausgebrochen.“
Sao Paulo ist weit...und alles ist so lange her aber die Krankheit ist immer noch nicht gänzlich ausgerottet.
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2011
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Widmung:
Dieses Buch ist meinem Großvater gewidmet