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Altersschwach und arm



Es gibt Menschen, die irgendwann feststellen, dass sie ihr Leben gelebt haben. Sie sind quasi lebensmüde. Normalerweise nutzen wir diese Bezeichnung für eine Situation oder Verhaltensweise, wenn sich jemand leichtsinnig Gefahren aussetzt, offensichtlich dabei Leben und Gesundheit außer Acht lässt.
Doch hier stellt sich die Sache völlig anders dar. Der Mensch ist zu müde, um leben zu wollen. Diese Müdigkeit hat ganz bestimmte Ursachen.
Das Lebensalter dieser Menschen ist dabei ganz unterschiedlich. Es scheint etwas anderes dahinter zu stecken, vielleicht das Gefühl, dass nun nichts mehr kommen könnte, was noch Verwunderung und Wissensdrang auslösen würde und das aus dem einfachen Grund, weil vermeintlich bereits alles gelebt und erlebt wurde, alles was im Bereich des Möglichen lag, getan und erledigt ist, die Kräfte aufgezehrt und die Lust auf Genuss wohl abhanden kam, aber Ziele sind erfüllt. Sie wollen nicht mehr kämpfen, nicht mehr wirklich leben, so scheint es. Sie warten auf den Tod.
Über diese Menschen muss ich nachdenken und frage mich immer öfter, sind sie die eigentlich Glücklichen? Kann das sein?

Wie wartet man auf den Tod? Ich las von alten Indianern oder Inuits, die ihr Ende fühlten und sich in die einsame Wildnis begaben, um zu sterben. So ein Verhalten hat mich schon immer beeindruckt, auch beunruhigt.
In meiner engeren Umgebung lebt eine Frau, die derzeit 97 Jahre alt ist. Sie warte im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte scheinbar auch auf ihren Tod, jedenfalls sagen das die Leute. Die Frau ist nicht krank, nur sehr schwach, altersschwach. Sie wird von ihrem Mann betreut, er ist 20 Jahre jünger. Meine Mutter, die bereits 91 Jahre alt ist, spricht immer von der „armen alten Frau“, wenn wir hin und wieder über sie reden.
Ich frage mich, was fühlt man, was denkt man, wenn man auf den Tod wartet? Und wartet man wirklich auf den Tod? Meine Mutter wartet gewiss nicht auf den Sensenmann, obwohl sie auch ein sehr erfülltes Leben lebte und keine Probleme mehr zu lösen hat. Sie möchte noch so lange wie es geht „zappeln“ meint sie und lacht dabei. Sie macht sich schön, liest die Zeitung und Bücher, löst Rätsel, schaut die Nachrichten und lässt sich ab und an zu kleinen Ausflügen mit kulinarischen Genüssen verleiten. Man kann mit ihr über alles reden, nur nicht über den Tod. Das Thema mag sie nicht. Es lohne sich nicht, sich solchen Gedanken hinzugeben, obwohl sie natürlich irgendwie auch altersschwach ist, es ist nicht zu übersehen. Ich versteh das und sie mag Recht haben, dennoch interessiert mich dieses Thema.

Es gibt Menschen, die auf den Tod warten und andere eben nicht. In den Filmen, in der Literatur heißt es immer, er hätte ein erfülltes Leben gehabt, er hätte sein Leben gelebt, er würde nunmehr den Tod nicht fürchten, ganz im Gegenteil, er würde ihn gefasst und gelöst erwarten, denn er wäre im Reinen mit sich und der Welt. Das hört sich unglaublich an. Ein durch und durch glücklicher Mensch wartet auf sein Ende. Eigentlich ein beneidenswerter Mensch, oder?

Oder ist das alles ganz anders? Hat sich hier ein Mensch schlicht aufgegeben. Redet er sich einen bedauernswerten Zustand nur schön? Diese Fragen könnten vermutlich nur Betroffene beantworten, falls sie in dieser Phase befindlich noch klar zu denken imstande sind. Ich schließe hier bewusst religiöses Denken aus, denn hier liegen die Voraussetzungen auf einer völlig anderen Ebene, denn der Mensch ist und wurde auf ein trostvolles und leidloses Leben nach dem Tode in aller Ewigkeit orientiert, somit ist er hoffnungsvoll auf ein erlösendes und besseres Danach konditioniert. Das ist nicht meine Anschauung aber vermutlich können gläubige Menschen glücklich auf das erlösende Ende warten aber auch das wage ich zu bezweifeln, es sei denn sie sind geistig nicht mehr auf dieser Welt, sind in Gedanken schon weit weg, im Wahn religiöser Hoffnungen. Wenn es ihnen hilft, gibt es allerdings dagegen nichts zu sagen.

Ich möchte noch einmal auf das „freiwillige Absondern“ der altersschwachen Menschen zurückkommen. Warum verhalten sie sich so, sind sie wirklich zu müde, um zu leben? Kann es nicht auch sein, dass sie beeinflusst wurden, der Gesellschaft, der Familie nun nicht mehr zur Last zur fallen? Sie gehen, um zu sterben, weil sie nicht mehr geben können. Alles nur moralische Aspekte, die den Alten suggeriert werden? Um es zu ertragen, versetzen sie sich in religiöse Trance und die nachfolgende Generation beruhigt ihr Gewissen, denn der Alte hat es ja gewollt, er hätte qualfrei, freiwillig, wahrscheinlich sogar glücklich auf seinen Tod geharrt. Ich sträube mich, das zu glauben oder zu verstehen.

Alte Menschen geben auf, verzichten zu Gunsten der Jungen und ertragen ihr Sterben resignierend, ganz besonders dann, wenn die finanzielle Basis schwach ist.
Das wäre meine traurige Variante (eine weitaus erschreckendere im Nachwort).

Ist die Familie bzw. der alte Mensch reich oder begütert, in guter Position oder gar in oberster, führender Stellung, dann findet man dieses Warten auf den Tod eher selten. Seltsam! Es gibt uralte Kirchenfürsten, uralte Staatsführer, die ihre Macht ausüben ohne Rücksicht auf jüngere, vermutlich auch kompetentere Nachfolger. Diese Leute warten nicht bescheiden und glücklich, zufrieden auf ihr bewegtes Leben schauend, auf ihren Tod. Sie leben ihr Leben bis zum letzten Atemzug, koste es was es wolle, auch wenn sie altersschwach sind. Das ist legitim, hier gebe ich ihnen menschlich gesehen Recht, aus gesellschafts-
politischer Sicht betrachtet nicht.

Mir scheint, dass eine Doppelmoral auch in diesem Bereich in der menschlichen Gesellschaft auch heute mehr und mehr Fuß fasst. Die alten Menschen wollen den Jüngeren nicht zur Last fallen, sie geben alles, um selbständig zu bleiben, bitten nie um Unterstützung in misslichen Lagen, sterben mitunter einsam und elendiglich. Sie können sich kaum ein Leben in guten Altersheimen oder Pflegeheimen leisten, finden keine Aufnahme im Kreis der Familie, denn die muss für sich sorgen, hat keine Zeit und auch kein Geld, um sich zu kümmern. Die ärmeren Alten gehen also in die „Wildnis“ um zu sterben, suchen sich mit religiösen Tröstungen über ihre auswegslose Lage hinwegzuhelfen. Meditation und Glaube als Notlösung!

Das Warten auf den Tod: die Tragik der armen alten Menschen, die im Banne einer Scheinmoral, ihr Ende „herbeisehnen“, während die Begüterten ihr Leben in goldenen Gewändern und Palästen auskosten bis zum letzten Tropfen aber von Demut predigen. Milliardäre, Millionäre, mit fetten Pensionen ausgestattete Regierungs-
mitglieder, müssen diese Demut nicht entwickeln, sie warten nicht auf den Tod, sie fürchten ihn. Sie müssen keine Rücksichten nehmen auf die nachfolgenden Generationen, sie leben hemmungslos ihr Leben bis auch das einmal verlischt. Menschlich gesehen verstehe ich das, doch mein Glaube an Moral und Gerechtigkeit hält sich wieder einmal in Grenzen.


Nachwort



Mich hat auch dieser Artikel über die Thematik „Auf den Tod warten“ nachzudenken, angeregt. Es gibt offensichtlich ganz unterschiedliche „Möglichkeiten“: die freiwilligen und die erzwungenen, wobei das Prinzip der Freiwilligkeit auf diesem Feld, von mir in jedem Fall angezweifelt wird.

„Wie in Österreichs Heimen alte Menschen festgebunden, eingesperrt und ruhig gespritzt werden.



Ein Pfleger enthüllt: „Patienten wochenlang nicht gewaschen, im Jahr nur fünf Stunden im Freien, allein im Sterben!“
Herr L., 83, ein Oberstudienrat, war seit einem Jahr nicht mehr im Freien, „weil das nötige Pflegepersonal für Ausfahrten“ fehlt. Frau S., 79, Kellnerin, „ist in ihrem Zimmer eingesperrt und mit einem Leintuch an ihren Rollstuhl festgebunden“.

Herr B., 92, Kleinunternehmer, „muss Windeln tragen, obwohl er noch in der Lage ist, die Toilette aufzusuchen“. Petra G., 87, Mutter von fünf Kindern, wurde „drei Wochen lang nicht gebadet“. Hans N., Jahrgang 1910, nahmen die Schwestern die Schuhe weg, „damit er nicht weggehen kann“. Und die unter Demenz leidende Franziska R., 80, liegt nackt im geschlossenen Netzbett, „weil sie immer wieder aufstehen möchte“.

Schikanen ohne Ende. Eines haben diese Patienten gemeinsam: Für alle sechs Pensionisten beginnt die Nachtruhe, wenn für ihre Kinder und Enkerln die Mittagspause endet – um 14 Uhr. Zu dieser Zeit befehlen ihnen die Schwestern Tag für Tag, „schlafen zu gehen“.
Österreichs größter Wartesaal des Todes – das Pflegeheim in Lainz – sorgte vergangene Woche dafür, dass sich der Focus des öffentlichen Interesses auf jene richtete, die am liebsten vergessen werden: die Alten. Der „Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft“ hatte aufgedeckt, dass Lainz-Patienten drei Monate lang nicht gebadet, zum Tragen von Windelhosen gezwungen und bei „Ungehorsam“ beschimpft worden sind. „Ein Einzelfall“, wie die Wiener Gesundheitsstadträtin Elisabeth Pittermann meint. Eine vollkommene Verkennung der Tatsachen. Denn, wie aus einem Bericht der Sachwalterschaft hervorgeht: Lainz ist überall.

Pfleger packen aus. Akten und Augenzeugenberichte von Pflegern, Krankenschwestern, Angehörigen und Ärzten, die NEWS im Detail vorliegen, dokumentieren, wie alte Menschen in Österreichs über 700 Alten- und Pflegeheimen festgebunden, eingesperrt, in Achtbettzimmern abgelegt oder ruhig gespritzt werden.

Die Hauptgründe: Personalmangel, überforderte Pfleger und eine rücksichtslose Sparpolitik im Gesundheitsbereich.“



(Quelle : http://www.news.at/articles/0337/510/64440/warten-tod )

Impressum

Texte: Collage Cover Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
gewidmet den alten, armen, schwachen Menschen, die auf den Tod warten

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