Cover

Einleitung



Mein Großvater mütterlicherseits wurde 1893 in Bayreuth geboren. Sein Name war Gustav Helbig.
Leider kommt mir erst jetzt die Idee, mich mit einer seiner vielen interessanten Lebensphasen näher zu befassen, nämlich mit den Jahren, in denen er durch seine berufliche Tätigkeit bei der Federal Bank of Lebanon im Orient, genauer gesagt in Beirut im Libanon, später in Bagdad im Irak, mit führender Position betraut war.

Mein Großvater, ich nenne ihn später der Einfachheit halber bei seinem Vornamen Gustav, starb an einem Krebsleiden 1974 in Hessisch Lichtenau bei Kassel. Somit konnte ich ihn, in der Schreibphase befindlich, natürlich nicht mehr befragen. Ich schöpfte also aus diversen Briefen und aus den Erzählungen meiner Mutter, der man näheren Kontakt, obwohl in der ehemaligen DDR wohnend, mit ihrem Vater gestattete. Das aber auch nur, weil sie später als Invalidenrentnerin nach Westdeutschland reisen durfte und sie darüber hinaus zuvor einen regen Briefwechsel in den Libanon und den Irak unterhielt.


Ich war ja damals noch ein sehr kleines Kind und habe natürlich von Opas Reisetätigkeit kaum etwas mitbekommen. Wir wohnten in der Zeit in Ostberlin und meine Oma in Berlin West, später in Düsseldorf.

Meine Großmutter Klara war offensichtlich nicht zu bewegen, mit in den Orient zu ziehen, auch nicht vorübergehend. Sie war eine eigenwillige Persönlichkeit, die ihre vertraute, großstädtische und deutschsprachige Umgebung über alles liebte, ebenso ihren Bekanntenkreis, die Theater, die Oper, auch das sichere Leben in verträglichem Klima, die Robusteste war sie nämlich auch nicht. Darüber hinaus traute sie den Arabern nicht über den Weg. Deren Haltung gegenüber den Frauen, nur vom Hörensagen kennend, missbilligte sie. Kurz: sie wollte partout nicht in den Orient. Ich glaube, meine Oma war auch eine ziemlich ängstliche Frau, die nicht unbedingt noch im Alter Risiken eingehen wollte. Sie war in der besagten Entscheidungssituation über fünfzig Jahre alt.

Gustav, mit dem sie nunmehr schon weit über dreißig Jahre verheiratet war, akzeptierte ihre Entscheidung notgedrungen, es hielt ihn allerdings nicht davon ab, seine Ziele zu verfolgen und durchzusetzen. Er war ganz anders gestrickt. Er wollte die Welt erleben, sie nicht nur als Reisender kennen lernen. Mit dem Vorhaben, die letzten Jahre vor der Rente ins Ausland zu gehen, war ihm dieser Wunsch erfüllt, einmal abgesehen davon, dass ihm die Bank durchaus lukrative Einkommensangebote in Aussicht stellte. Damit würde er einen weiteren Wunsch realisieren, nämlich einen sehr guten und finanziell abgesicherten Lebens-
abend für seine Klara und sich zu ermöglichen.

Mein Großvater lebte und arbeitete Anfang der fünfziger Jahre, nachdem er bereits sein 60 zigstes Lebensjahr vollendet hatte, einige Jahre in jenen Ländern, die uns heute so gefährlich und unbekannt sind, weil sie auf Grund der politischen Gescheh-
nisse, auf die ich noch zurückkommen werde, als Tourismusziele nicht geeignet erscheinen.
Gustavs Erlebnisse und Einschätzungen bildeten das Fundament meiner folgenden Erzählungen.


Der Orient



Was verstand man früher unter diesem Begriff und wie sieht man ihn heute? Nach einigen Recherchen habe ich meine Kenntnisse aufgefrischt und zum näheren Verständnis hier den Erzählungen vorangestellt.
(Die Quelle bildete Wikipedia, gekürzt)
„Der Orient (von lat. oriens ‚Osten), später auch Morgenland genannt, ist dem Okzident (Abendland), der europäischen Weltgegend entgegen gelegen. Der Begriff geht zurück auf eine der vier von den Römern definierten Weltgegenden und wurde als plaga orientalis bezeichnet. Im Griechischen nennt man den Orient heute anatoli (Anatolien) und im Italienischen levante. Mit dem Begriff Levante sind die an das östliche Mittelmeer angrenzenden Länder gemeint.
Im Laufe der Geschichte hat das Bedeutungsspektrum des Begriffs eine Wandlung erfahren. Während früher die gesamte asiatische Welt, d. h. die arabischen Länder, Iran, Indien und die heutige Volksrepublik China als Orient galt, später dann nur die Länder Vorderasiens mit Ägypten und die meisten islamischen Kulturen dazu zählten, tendiert man heute im Sprachgebrauch dazu, den Begriff auf den Nahen Osten und die arabisch-islamische Welt – einschließlich der Türkei, Iran, Pakistan und Nordafrika, aber ohne die islamischen Staaten Südostasiens – zu beschränken.
Im Englischen wird der gleich lautende Begriff Orient auch auf ostasiatische Länder wie China und Japan, auf die südostasiatischen Länder Indonesien, Thailand und die Philippinen und die südasiatischen Länder Indien und Pakistan angewandt. Dementsprechend definieren sich diese Länder selbst ebenfalls als oriental, wie z. B. prominent am Shanghaier Fernsehturm, dem Oriental Pearl Tower, zu sehen ist.
Der begriff Orient wird meist weniger in einem politischen oder geographischen, sondern eher in einem religiös-kulturellen Sinne verwendet. Die Welt des Orients inspirierte viele Dichter und Schriftsteller, siehe z. B. Goethes West-östlicher Diwan oder Hesses Roman Morgenlandfahrt. Der genannten Literatur liegt eine romantische Verklärung des Orients zugrunde, wie sie erst nach 1683 entstehen konnte, als mit dem Rückzug der osmanischen Truppen am Ende der Zweiten Wiener Türkenbelagerung für Europa die Gefahr einer Eroberung durch den Osten geringer eingeschätzt wurde.
Der Orient von Ägypten bis China wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einer Traumwelt, die in der Malerei der Orientalisten phantasievoll abgebildet wurde. Kuppeln und Rundbögen von osmanischen und maurischen Sakral- und Palastbauten fanden sich in gänzlich anderem Sinnzusammenhang in der orientalisierenden Architektur europäischer Großstädte wieder.
Seit den 1970er Jahren hat das Konzept einer Trennung von Orient und Okzident heftige Kritik erfahren (Orientalismusdebatte). Ausgehend von den bis heute einflussreichen Thesen Edward Saids wurde konstatiert, das westliche Bild des Orients sei voller unbewusster Vorurteile und Verzerrungen, die der Realität nicht gerecht würden. Das Konzept von Abendland und Morgenland sei weniger alt als behauptet, vielmehr sei es erst im 18. Jahrhundert entstanden.
Durch Konversion zum Islam, Emigration, Kriege und Pogrome (z. B. Völkermord an den Aramäern, Griechenverfolgungen im Osmanischen Reich 1914–1923 und den Armeniern) und demographischen Wandel ging der Bevölkerungsanteil der Christen in der Region ständig zurück.
1900 betrug er noch über 20 % in Ägypten, 30 % in Syrien und über 50 % im Libanon.
Für 1970 gibt die Statistik an: Ägypten 4,27 Mio. = 13 %, Libanon 1,035 Mio = 50 %, Syrien 0,591 Mio = 10 % , Irak 0,295 Mio = 4 % , Jordanien 0,195 Mio = 10 %, Israel und palästinensische Gebiete 0,15 Mio = 10 % der arabischen Bevölkerung. [1]
Im Jahre 2006 beträgt der christliche Anteil im Nahen Osten: Syrien 10 %, Ägypten 7 %, Libanon fast 50 %. Damit schwinden auch die Chancen, dass die Christen in den Staaten repräsentiert werden. Zusätzlich erschwert das Aufkommen der Islamisten das Leben religiöser Minderheiten im Orient.
Die Ursiedlungsgebiete der Urbevölkerung des syro-mesopotamischen Raumes, werden seit vielen Jahren von Orientchristen rigoros entleert. So haben die Massaker und Deportierungen in der Türkei am Anfang des letzten Jahrhunderts mehr als 500.000 Einheimischen das Leben gekostet. Die meisten der Überlebenden haben ihre Ursiedlungsgebiete verlassen und siedelten in den Süden über. „



Im Libanon



Gustav fliegt also nach Beirut. Klara packt seine Koffer und muss dabei immer mal ein bisschen weinen, denn es ist und bleibt ein großes Abenteuer. Sicher wird er zurechtkommen, denkt sie, wissend dass Gustav immer alle Aufgaben beherzt und klug anzugehen pflegte. Ohne die vorherigen umfangreichen Vorbereitungen und Recherchen würde er nie fliegen aber wer wird für ihn kochen oder ihm die Socken stopfen? Klara muss schon wieder weinen. Wenn Gustav das jetzt bemerken würde, es wäre nicht so gut, denn er würde ihr ja sofort vorwerfen, dass sie sich schließlich selber für’s Daheimbleiben entschlossen hätte. Also Zähne zusammen gebissen und weg mit den Tränen. Alles wird gut.
Gustav landet glücklich aber nun doch ein wenig aufgeregt in Beirut, nimmt seine Koffer in Empfang und fährt mit einem heute eigentümlichen großen Bus durch einen äußerst quirligen Verkehr in sein erstes Quartier bei deutschen Freunden, die in abseh-
barer Zeit nach Bagdad überzusiedeln gedachten und nunmehr bereits auf den gepackten Koffern saßen.



Gustav ist von der Reise zwar ein wenig abgespannt, dennoch so aufgekratzt, dass er sich nach der üblichen Begrüßung zunächst einmal ein Bild von der näheren Umgebung machen wollte. Schließlich will man ja wissen, wo man überhaupt ist. Läden sind in der Nähe, man würde mit dem Einkauf keine Sorgen haben, die Bank hatte ein Auto mit Fahrer versprochen, sodass der Weg zur täglichen Arbeit ebenfalls kein Problem darstellte, stellte er für sich befriedigt, mit einem Blick auf den Verkehr, auch erleichtert fest.
So schlenderte er voller Optimismus neugierig durch die fremde Stadt. Was Klara wohl ohne mich anstellt, fragte er sich zwischendurch besorgt und fasste den festen Vorsatz, ihr täglich zu schreiben. Auch seiner Tochter Hedwig in Ostberlin würde er häufig Reiseerlebnisse berichten, nahm er sich vor. Nein, entfremden würde man sich gewiss nicht.
So schrieb er künftig jeden Abend alle Eindrücke auf, die ihm erzählenswert erschienen, an Frau und Tochter inhaltlich etwas differenziert. Klara würde sich vermutlich um Essen und Trinken und um seine Garderobe sorgen, während die Tochter sich eher für Land und Leute interessierte. Beide sollten bekommen, was sie begehrten.
In einem der ersten Briefe schrieb er also an Klara, dass er umschichtig immer noch die zwei Paar Strümpfe trug, die er schon in Berlin anhatte und sie müssten immer noch nicht gestopft werden. Er hätte in der ersten Unterkunft allerdings die Koffer nicht vollständig ausgepackt und habe sich lediglich vier Hemden, zwei Unterhosen und zwei Unterhemden, zwei Taschentücher und zwei Handtücher entnommen, alles wird regelmäßig gewaschen, fügte er noch beruhigend hinzu. „Die Anzüge hängen auf Bügeln im Schrank!, Klara", schrieb er, in der Hoffnung, damit alle Fragen seiner Frau erschöpfend, für sie beruhigend beantwortet zu haben.
Bezüglich des Essens berichtete er, dass auf zwei Primus-Petroleum-Kochapparaten das Mahl hergerichtet wurde. Es gab Linsen mit Schinken, arme Ritter, Rotwein, Wasser- und Zuckermelonen und Weintrauben. Am Morgen trinkt man Tee mit Zitrone, Rühreier und Honigbrot, dazu wieder Weintrauben und Bananen. So beantwortete Gustav ausführlich alle Fragen, während er in einem kleinen Eislokal, so nannte er es, sich eine süße Erfrischung gönnte. Seinem Hang zum Süßen kam das reichhaltige Angebot an derartigen Leckereien hier sehr entgegen.
Es folgten noch einige Anweisungen, die Klara in Deutschland zu befolgen hatte, nämlich das Eruieren der Kurse für freie Devisen und er verwies dabei auf seinen ehemaligen Bankkollegen, der sicher Klara behilflich sein würde. Gustav beauftragte Klara in seinen Briefen immer mit konkreten Aufgaben und sorgte dafür, dass alles auch ausgeführt wurde. Als er noch Zuhause war, brauchte sich Klara um nichts „Geschäftliches“ zu kümmern außer um den Haushalt natürlich. So war alles eindeutig geregelt.


Gustav hörte in Beirut sehr wenig deutsche Laute, man sprach in der Regel englisch oder französisch, wenn die Landessprache nicht angebracht war. So schrieb er ganz gerne mal mit der Hand, zum Glück aber meistens mit einer Schreibmaschine, auf dünnes Luftpostpapier sehr ausführlich in seiner Muttersprache seine langen interessanten Briefe, die man in Deutschland mit Spannung erwartete.
Das Wetter in Beirut war im Spätherbst recht angenehm: Sonne den ganzen Tag, 26 °C, 19 Grad des Nachts. Am Abend käme manchmal ein starker Sturm, das Hochgebirge läge schon in den Wolken: die Regenzeit stände kurz bevor. Die Pflanzenwelt hätte ein halbes Jahr kein Wasser gehabt, berichtet er seiner Tochter. Die Gegend gleiche der dalmatinischen aufs Haar und es würde auch so riechen und es gibt hier Kamele, die es allerdings in Dalmatien nicht gäbe. Die orientalischen Gerüche, sie wären intensiv. Man mag sich dabei so manches vorstellen.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde Beirut die Hauptstadt des unabhängigen Libanon. Internationale Investoren und Finanziers wurden durch die "libanesische Freihandelspolitik" magisch angezogen und Beirut entwickelte sich allmählich zu einem Finanzzentrum. Es galt wegen seines Glanzes als "Paris des Nahen Ostens".
Gustav durfte dabei sein und mit seinen umfangreichen und langjährigen Bankerfahrungen, die er sich bei der Deutschen Bank erwarb, helfen.

Beirut wurde auf der grössten felsigen Halbinsel an der Küste, ungefähr in der Mitte des Landes erbaut. Erst später ist es dann die Hauptstadt der modernen Nation geworden, in alten Zeiten wurden der Tiefseehafen und die zentrale Lage nicht so sehr zur Kenntnis genommen und die Stadt stand im Schatten von mächtigeren Nachbarn. Das moderne Beirut hat heute über 1,5 Million Einwohner und ist das kulturelle und geschäftliche Zentrum des Landes. Der Bürgerkrieg ließ vom ehemaligen Stadtzentrum nur Ruinen übrig, die geschäftliche Tätigkeit wurde während dieser Jahre in andere Teile der Stadt verlegt. Anfang der neunziger Jahre wurde ein Projekt ausgearbeitet, welches Beirut als eine moderne Stadt mit viel orientalischem Einfluss erstehen lassen will.

Doch zurück zu den Berichten und Eindrücken, die Gustav in den Fünfziger Jahren sammelte.
Er schreibt: Die Bevölkerung im hiesigen Gebirge ähnelt in ihren Gebräuchen der an der Adria. Aber während dort der Orient sich noch sehr gut erhalten hat, ist er hier durch die vielen christlichen Sekten zum Teil schon verdrängt worden. Die Muselmanen (sagte man offenbar früher so) in Sarajewo beherrschen das Bild des Landes, während hier im Gebirge keine einzige Moschee zu sehen ist, dafür aber hunderte von Kirchen und Klöstern. Die „kostümierten“ Popen beherrschen hier das Land, meint Gustav. Er sagte immer Popen oder Pfaffen, denn mit der Kirche hatte er nichts im Sinn. Gustav war ein Freidenker, ein Freimaurer auch aber das wäre eine ganz andere Geschichte.
In der Stadt könne man ein völlig davon abweichendes Bild konstatieren, es käme viel Volk zusammen und man sieht auch Moscheen.
Im Gegensatz zu Dalmatien, wo noch die alten türkischen Gebräuche vorherrschen, greife hier die arabische Wüstenwelt mehr in die Gepflogenheiten der Menschen über. Die letzten vier Jahrzehnte waren französisch geprägt, doch hunderte Jahre zuvor beherrschten die Türken alles.
Gustav erfuhr, dass sich viele Einwohner Beiruts nicht als Araber verstehen. Sie sind Christen und distanzieren sich von den Moslems. Dennoch lebte man noch in spürbarer Harmonie.
Keilereien entspinnen sich um geschäftliche Dinge, heißt es und mangels Alkohol wären Betrunkene selten zu sehen.
Gustav bemerkt im Straßenbild keine Liebespaare, wie man sie in den westlichen Ländern so häufig unangenehm sehen muss, schreibt er in einem Satz. Was mag er wohl damit meinen? Und was sah er überhaupt? Diese Fragen müssen aber hier leider unbeantwortet bleiben.
Die Schulkinder, adrett einheitlich gekleidet, würden ein Muster an Fleiß und Wichtigkeit versinnbildlichen, obwohl es erstaun-
licherweise keine Schulpflicht gäbe. Aber arme Leute könnten ihren Kindern sowieso keine Schulbildung bezahlen. Damit ist klar, dass nur die Kinder wohlbehaltener Eltern eine gediegene Ausbildung in Aussicht haben, bedauert Gustav.
Die mannigfache Geistlichkeit gäbe sich allerdings auch redlich Mühe, recht viele Schäfchen unter ihre Fuchteln zu bekommen.

So geht für Gustav in Beirut das Leben irgendwie seinen Gang, er arbeitet sehr viel in der Bank und freut sich, wenn Klara und Tochter Hedwig seine Briefe beantworten und Neues aus Deutschland mitteilen. Gerne liest er auch die deutschen Zeitungen und Illustrierten, die ihm Klara schickt.
Nach einem Vierteljahr hatten sich Gustavs Körper, auch die Sinne, an die Umgebung einigermaßen gewöhnt und die Dinge, die ihn anfänglich ablenkten und überraschten, sah und hörte er kaum noch. Doch so abgestumpft vom Alltag, dass er das fantastische Bild des zu kochen scheinenden Meeres, die Palmen, die leuchtende Stadt mit ihren Höhen und dahinter das gewaltige Gebirge, zuerst noch grün, dann ab 2000 Meter schneebedeckt im grellen Sonnenlicht, nicht mehr wahrnahm und begeistert zu würdigen wusste, war er nicht. Ganz im Gegenteil, Gustav genoss diesen grandiosen Anblick in seiner Mittagspause in vollen Zügen. In den Momenten bedauerte er, dass Klara daran nicht teilhaben konnte.
So schrieb er auch ihr über die überwältigenden Naturansichten, die diese Region den Menschen schenkte.


Inzwischen war der Winter ausgebrochen und Gustav musste sich nachts gleich mit zwei Hemden wärmen, außerdem entschloss er sich, tags die dicke Unterhose anzuziehen, die er in Bratislava einem Bekannten für 120 Kronen abkaufte. Klara war nun beruhigt, denn Gustav würde in der Fremde nicht frieren. Gustav teilte Klara überdies lächelnd mit, dass er auch an warme Strümpfe gedacht habe. Sie müsse sich wahrlich keine Sorgen machen.

Was macht man nun am Abend, wenn alle Schreibarbeiten erledigt sind? Gustav entschloss sich ins Kino zu gehen, wo es wenigstens warm war. Filme wie „Blackbeard the pirate“ und „The man who passed the trains going by“ waren im Angebot, inhaltlich nicht gerade geistige Höhenflüge, doch die Kinos waren baulich außergewöhnlich modern. Man hat nämlich keinen Vordermann, der einem die Sicht nimmt, denn das Ganze ist amphitheatermäßig angeordnet. Im Kino verhalten sich die Besucher äußerst unbekümmert: sie rauchen, essen und ab und zu hört man ein Kleinkind schreien. Man unterhält sich auch laut und ungeniert mit weiter entfernt sitzenden Bekannten, von den begleitenden Kommentaren zum jeweiligen Film ganz zu schweigen. Man beachte dabei, dass sich nur die Besser-
gestellten den Kinobesuch leisten können. Gustav muss lernen, sich das Wundern abzugewöhnen, was nicht ganz einfach ist.

Gustav wohnte nun inmitten der Stadt und streifte umher, um möglichst viel zu sehen, anfängliche Hemmungen hatte er überwunden. Die Sprache der Menschen auf den Straßen, ihre Art mit dem ganzen Körper unentwegt zu quasseln und das so laut und ungeniert wie möglich, hatten Gustav als eher ruhigen Menschen am Anfang sehr verwirrt.



Wenn man erstmalig durch die endlos langen Basarstraßen streift und sich mühevoll durch die ungeheuren Menschen–und Warenansammlungen windet, dann bekommt man ein wenig Angst bzw. Hemmungen, meint er.
Jeder schreit aus vollem Halse so laut er kann, um seine Waren anzupreisen und los zu werden oder seine Dienste anzubieten. Das Ausschreien der Waren scheint lebensnotwenig, selbst die Kinder, die auch etwas verkaufen möchten, brüllen, egal ob jemand Notiz nimmt oder nicht, auch wenn die Straße ziemlich leer ist, schreien sie.
Man kann bei jeglichem Handwerk zusehen, egal ob beim Rasieren, bei der Anfertigung von Kesseln oder beim Schlachten von Hammeln, alles ist für den untrainierten Basargänger befremdlich, doch sehr faszinierend.
Gustav bemerkte, dass jeder jeden auszunehmen trachtete, solange man Geld beim Kaufwilligen vermutete. Alles darf ausgiebig begutachtet und angefasst werden und den verlangten Preis muss man nicht akzeptieren. Es wird gehandelt auf Teufel komm raus.
Heute ist das auch für uns nicht mehr neu. Durch die weltweite Reiselust der Menschen kennt man diese Art des Einkaufes inzwischen recht gut und sucht sie auch Zuhause in Deutschland anzuwenden. Damals in den Fünfzigern war alles noch fremd und undenkbar für den gesitteten Mitteleuropäer, der aus seinem Kaff noch nie herauskam. Erst allmählich begann die Reiselust, ermöglicht durch das Wirtschaftswunder, die Deutschen in der Bundesrepublik in die Welt, auch in den Orient, zu tragen. Die Leute im Osten mussten mit den Ostblockstaaten als Reiseziel vorlieb nehmen.

Gustavs Briefe erzählten den Daheimgebliebenen von einer für sie fremden, geheimnisvollen Welt, die ängstigte aber auch Neugierde weckte. Vaters bzw. Opas Unternehmungsgeist, sein Mut, auch seine Leistung brachte ihm in der ganzen Familie mehr als größte Hochachtung ein. Wir waren stolz auf ihn und ich bin es heute noch.

Die Regenzeit begann, was auch mit tagelangen Gewittern verbunden war und starken ewig anmutenden Regenfällen. Eine neue Erfahrung.
Gustav beginnt allmählich das Verhalten der Menschen kennen zu lernen, auch ihre verwirrende Gestik. Eine kleine Kopfbewegung leicht nach oben zum Beispiel, die bei uns ein „Ja“ signalisiert, bedeutet dort das Gegenteil.
„Die Sorge um den Menschen“, die man bei uns sehr oft, manchmal auch sehr scheinheilig in den Mund nimmt, die gibt es dort nur für die eigene Person, allenfalls noch für die Familie, wobei die Familie im Orient einen sehr hohen Stellenwert innehat.
Ein fehlender Kanalisationsdeckel auf dem Bürgersteig, der einen Sturz in drei Meter Tiefe ins fließende Wasser zur Folge haben könnte, beunruhigt niemanden. Jeder hat auf sich selbst zu achten. Vorsichtsmaßnahmen sind nicht vorgesehen.
Ein anderes Beispiel sind die gänzlich fehlenden Kranken-
versicherungen, auch soziale Einrichtungen jeglicher Art sucht man vergebens. Die Ärzte verlangen horrende Summen. Ein Besuch kann schon einmal 50 Pfund (62,50 DM) kosten. Die Altersvorsorge muss jeder selber treffen. Ein Rentensystem fehlt. Man sollte lieber nicht alt, arm und krank werden oder sein, schließt Gustav lakonisch zusammen fassend seine Überle-
gungen.

Ich werde ernst beim Lesen dieser Schlussfolgerung, denn bei aller Besserstellung und unserem viel gepriesenen sozialem Netz, auch heute noch ist es mehr als fatal, alt, arm und krank zu sein. Inzwischen sind sechzig Jahre verflossen und ich muss sagen, nicht alles hat sich zum Guten gewandelt.

Gustav hatte Glück, denn zu seiner Zeit war an Bürgerkrieg nicht zu denken. Er erlebte einen faszinierenden Aufschwung, doch
„während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) war die Stadt in einen muslimischen Westen und einen christlichen Osten geteilt.
Im Juli 1982 drang Israel in den Libanon ein und zwang die PLO in diesem Libanonfeldzug am 21. August zum vollständigen Rückzug. Der Westen Beiruts wurde 10 Wochen lang belagert und bombardiert. Der Abzug der PLO wurde unter Aufsicht durch eine multinationale Schutztruppe, überwiegend amerikanische und französische Soldaten, durchgeführt. Am 17. September 1983 beschoss die US Navy erstmals Stellungen der Syrer in der Nähe von Beirut. Die multinationale Friedenstruppe verließ allerdings 1983 den Libanon, nachdem am 23. Oktober 1983 bei zwei Bombenanschlägen auf die multinationalen Hauptquartiere, die der Hisbollah zugeschrieben werden, 241 US-Soldaten und 58 Franzosen getötet wurden. 1985 richtete Israel eine Schutzzone im Vorfeld der israelischen Grenze ein. Bei einem Autobombenanschlag am 8. März 1985, der dem schiitischen geistlichen Führer Scheich Muhammad Hussein Fadlallah galt, wurden 80 Menschen getötet und 256 verletzt. Im Oktober 1990 endete der Bürgerkrieg. Beirut wurde über weite Strecken wieder neu aufgebaut.“

(Quelle wikipedia)

Treffend formulierte der libanesische Schriftsteller Raschid al-Daif die Stimmung bei der Bevölkerung von Beirut während des Krieges: "… Der Krieg war dann aber kein Kampf von Arm gegen Reich, sondern von Arm und Reich gegen Reich und Arm. Palästinenser bekämpften sich untereinander, Syrer kämpften mit Palästinensern gegen Christen, dann mit Christen gegen Palästinenser. Schließlich die Christen untereinander und gegen die Drusen, alle miteinander und gegeneinander – wer sollte das verstehen?
Am Ende haben wir über die gelacht, die versucht haben, die Zustände zu analysieren."
Am 13. Juli 2006 griff Israel im Verlauf des Libanonkrieges 2006 den Flughafen der Stadt an. Bei diesem und weiteren Luftangriffen wurden viele Libanesen getötet. Im weiteren Verlauf der Bombardements wurden viele Stadtteile Beiruts, vor allem im Süden der Stadt, zerstört. Darüber hinaus wurde ein großer Teil der regionalen Verkehrsinfrastruktur durch Bomben und Raketenangriffe zerstört oder schwer beschädigt.

Mein Großvater ist 1974 gestorben. Er musste den Beginn des langen und blutigen Bürgerkrieges nicht miterleben, die folgenden Kriegswirren und die Interventionen anderer Mächte auch nicht. Das wäre für ihn alles mehr als schmerzlich. Wenigstens das ist ihm erspart geblieben.

Doch zurück in die Zeit des Aufschwungs. Wir sind im Februar 1954, Gustav sitzt an seinem Schreibtisch in einer neu eröffneten Bank im Armenierviertel und plant in der Essenspause einen kleinen Gang am Meer, um danach wieder bis zwanzig Uhr fleißig zu arbeiten. Der Jahresabschluss will und muss akribisch vorbereitet werden. Aus dem Spazierausflug wird nichts, denn es gießt wie aus Kannen, die Straße ist zu einem gelben reißenden Strom geworden, durch den die Autos gerade noch so fahren können. Mensch und Esel haben keine Chance, sie werden vom Regen und den Fontänen der Autos gnadenlos überschüttet. Gustav wird später mit dem Auto heimgebracht, muss aber, um ins Haus zu gelangen, durch knietiefes, schnell strömendes Wasser waten. Der Anzug ist nass und ihm ist kalt, 14 Grad sind nicht viel. Es ist aber Frühling, die Pflanzenwelt signalisiert es, dennoch scheint es auch Herbst zu sein, da neben der Orangenernte auch die unglaubliche Kohlernte im vollen Gange ist, die Köpfe sind riesig.
Entsprechend den Unterschieden in der Landschaft des Libanon ist auch das Klima sehr unterschiedlich.
An der Küste herrscht mediterranes Klima mit trockenen, warmen Sommern und feuchten, regenreichen Wintern. Im Gebirge herrscht ausgesprochenes Gebirgsklima, wobei auch hier der Hauptniederschlag im Winter fällt und dann hauptsächlich in Form von Schnee.
An der Grenze zu Syrien herrscht ein trockenes Steppenklima, welches den Übergang zum Wüstenklima des südlichen Syriens und Jordaniens bildet. In Beirut liegen die Temperaturen am Tag bei durchschnittlich 18 °C im Januar und bei 30 °C im Juli und August. Im Dezember und Januar gibt es durchschnittlich 11 Regentage in Beirut, während der August im Allgemeinen völlig trocken bleibt.

Gustav plante nun Veränderung. Nach erfolgreicher, guter Arbeit in Beirut hatte man ihm eine sehr gute Stellung in Bagdad angeboten. Das beschäftigte ihn nunmehr täglich aber er musste sich in Geduld üben und abwarten. Das war nicht so einfach wie es sich anhörte.
Gustav vernimmt auch von einem Aufstand der Drusen in Syrien, dem Nachbarland und beginnt sich Sorgen zu machen aber man beruhigt ihn; man hätte hier andere Probleme. Der Polizei-
kommandeur Beiruts wurde durch einen jungen und energischen Kapitän abgelöst, der die Macht der Taxichauffeure und der Bettler-und Kinderräuberbanden brechen soll.
Gustav glaubte indess, dass auch die vielen amerikanischen Filme Gift für die harmlosen Gemüter sind. Darüber hinaus will man damit beginnen, die Bevölkerung zu entwaffnen, auch die Waffenscheine zu entziehen.
Man schießt ungeniert und allerorten am hellen Tag hauptsächlich auf Vögel und behängt sich mit der Beute von oben bis unten, um sie zu verkaufen.
Gustav schreibt, dass der „zivilisierte“ Europäer seinen Festbraten etwas dezenter tötet. Ich entdecke hier jedenfalls auch Kritik und die mit Recht, denn die Jagd ist für mich nicht unbedingt etwas Ehrenwertes. Die Vogeljagd ist in der arabischen Welt allerdings Tradition.

Im März hockt Gustav immer noch in Beirut. Ob die Sache mit Bagdad wohl noch klappt?
Gustav genießt in vollen Zügen den Frühling und will sich nicht verrückt machen. Es gibt im hochgelegenen Garten der amerikanischen Universität wundervolle Plätze, die Bänke stehen inmitten blühender Büsche, Pflanzen und Bäumen und er beobachtet wie kleine Eidechsen sich sonnen, lässt den Blick von plastisch nahe scheinenden bebauten Höhen zum zartblauen Meer mit seinen vielen Buchten und Felsen schweifen bis die Levantinerjungen in einer Kollegpause, laut in allerlei Sprachen schnatternd, stören. Dann sucht Gustav schnell das Weite. Er liebt auch sehr die Ruhe.
Doch damit sollte es am nächsten Tag, am Sonntag, auch vorbei sein. Gustav nahm auf Drängen seiner Wirtsleute an einer Hochzeit nach griechisch-orthodoxem Muster teil.
Der Bräutigam erwartete vor der Kirche die Braut, die natürlich mit Verspätung aber laut hupend (also das Auto hupte natürlich) mit Gefolge anrückte. Drei Popen in gelbseidenen Gewändern und den für diese Konfession typischen „Angströhren“ stehen ebenfalls vor der Kirche. Aber dann ging es los.
Das Brautpaar, ungeniert umringt von Besuchern, wobei ein bärtiger Kerl den Singsang der Popen fortwährend mit einem für Gustavs Ohren viehischen Gebrumme von Kyrie-Eleyson würzt und das wie ein Automat, unbeteiligt scheinend. Das Paar erhält sodann von einem Popen Kränze auf den Schädel gestülpt. Die beiden Kränze sind nicht unbedingt passend und mit einem Band verbunden. Die hinter ihnen Laufenden haben zu tun, die Kränze immer wieder auf die Köpfe zu quetschen. Man lacht aber.
Die Popen palavern noch ein bisschen und lassen einen Singsang ertönen, dann küsst das Paar die Bibel, anschließend wird es mit Bonbons beworfen, muss sich allerdings in Abwehr-
haltung begeben, damit nichts ins Auge geht. Alle Gäste defilieren danach am Brautpaar gratulierenderweise vorbei und erhalten am Ausgang ebenfalls eine Bonbonniere.
Hier an dieser Stelle möchte ich zitieren, wie Gustav das Ereignis zusammenfasst:

„Meiner Empfindung nach war die Sache recht banal. Die Evangelischen machen es viel schmalzvoller. Aber das richtet sich wohl nach dem Volkscharakter.
Welch unendliche Geduld muss doch der liebe Gott aufbringen, um all diesen Aberglauben und Unsinn in seinem Namen zu dulden, ohne, zumindest dem Kyrie…,nicht mit dem nackten Hintern, falls er einen solchen hat, dazwischenzufahren.
Aber ich urteile ja nur wie ein schwacher Mensch.“
Nun, dem möchte ich nichts hinzufügen.

Es ist Aschermittwoch, der mardi gras, vor dem man noch einmal gründlich feierte, auch Sünden aller Art beging und anschließend hoffte, durch das Einhalten einer bestimmten Speisefolge die Gunst des Allmächtigen wieder zu erringen. Gustavs Wirtin errichtete einen auf geschmacklich unterster Stufe stehenden Hausaltar, vor dem sie in einer Hand eine Zigarette haltend, Kreuze schlagend vor den grellen Heiligenbildchen aus Pappe, auf Vergebung hoffte.
Gustav beobachtete das Treiben teils belustigt, teils kopf-
schüttelnd.

Im Irak



Im Juni ist es nun soweit, Gustav siedelt nach Bagdad in den Irak um. Alles hat geklappt und das Abenteuer Orient geht weiter. Er leidet zunächst unter der Hitze von 40 Grad und steht, wie er schreibt, ständig unter Wasser. Klara erfährt, dass alles fünfmal so teuer ist wie in Beirut und in der Wäscherei würde man sein Zeug mit einem „dummen Gesicht“ schlicht versauen. Die Hemden hätten nach der Wäsche große braune Flecken, die nicht mehr verschwinden und „liebe Klara“, schreibt er, „meine Sachen verkommen hier und niemand stopft mir meine Strümpfe. Du könntest so viel helfen, wenn du hier sein könntest,“ schließt er jammernd seinen Brief. Doch dann hat er augenscheinlich seinen Humor wieder gefunden, auch die Gabe, alles positiv zu sehen, denn er fügt einen Satz hinzu, indem er anmerkt, dass er hier wirklich im Gegensatz zu Berlin „schön puschen“ kann und das obwohl er eigentlich nicht genug für die hiesigen Verhältnisse trinke. Der arme Gustav, Bagdad ist nicht ganz einfach zu erobern.

„Bagdad, persisch: „Geschenk Gottes“ ist die Hauptstadt des Irak und des gleichnamigen Gouvernements. Sie ist mit 5,4 Millionen Einwohnern (2010) eine der größten Städte im Nahen Osten. In der Metropolregion, die weit über die Grenzen des Gouvernements hinausreicht, leben 11,8 Millionen Menschen (2010).
Die Stadt ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes sowie Sitz der irakischen Regierung, des Parlaments, aller staatlichen und religiösen Zentralbehörden sowie zahl-
reicher diplomatischer Vertretungen. Bagdad ist der bedeutendste Verkehrsknotenpunkt Iraks und besitzt zahlreiche Universitäten, Hochschulen, Theater, Museen sowie Baudenk-
male.“ (Quelle Wikipedia)
Nach der Niederschlagung eines landesweiten antikolonialen Aufstands durch britische und indische Soldaten, in deren Verlauf zahlreiche Menschen getötet wurden, löste Großbritannien im Herbst 1920 aus dem Osmanischen Reich die Provinzen Bagdad, Mosul und Basra heraus und verschmolz sie zum heutigen Irak. Der Völkerbund sanktionierte diese Maßnahme und übertrug Großbritannien das Mandat über den Irak.
Am 23. August 1921 wurde unter britischer Kontrolle das Königreich Irak mit Bagdad als Hauptstadt errichtet. Am 3. Oktober 1932 wurde das britische Mandat aufgehoben und der Irak erlangte seine formelle Unabhängigkeit. Die Briten sicherten sich allerdings eine wirtschaftliche Sonderstellung und behielten einen starken politischen Einfluss.
Der Widerstand innerhalb der irakischen Bevölkerung gegen die starke Rolle Großbritanniens war groß. Mit der Unterstützung Deutschlands beseitigten Offiziere am 1. April 1941 die probri-
tische Regierung.
Im Juni 1941 brach eine Welle von arabisch-nationalistisch motivierten Pogromen gegen die ortsansässige jüdische Bevölkerung aus. Es starben in Bagdad 179 Menschen jüdischen Glaubens, zahlreiche Häuser und Geschäfte im jüdischen Viertel wurden zerstört. Die britischen Einheiten verharrten in den Außenbezirken und unternahmen nichts. 1951 und 1952 verließen fast alle Bagdader Juden über eine Luftbrücke nach Israel den Irak. Als Gustav 1954 in Bagdad eintraf schien alles ruhig und in Ordnung.
Das Klima machte ihm allerdings schwer zu schaffen, in Beirut war alles viel leichter zu ertragen.
Bagdad besitzt ein trockenes subtropisches Klima und ist in Bezug auf die maximalen Temperaturen eine der heißesten Städte der Welt. In den Sommermonaten zwischen Juni und September steigt die durchschnittliche maximale Temperatur auf 41 bis 43 Grad Celsius, begleitet von starker Sonnenstrahlung: Regen ist während dieser Zeit des Jahres äußerst unwahrscheinlich. Temperaturen über 50 Grad Celsius sind nicht unbekannt, und auch in der Nacht sinken diese selten unter 24 Grad Celsius.
Die Luftfeuchtigkeit ist sehr gering und liegt in der Regel unter zehn Prozent. Staubstürme aus den Wüsten im Westen sind im Sommer ein normales Ereignis. Sie finden an durchschnittlich 20 Tagen im Jahr statt.
Im Winter, zwischen Dezember und Februar, beträgt die maximale Temperatur durchschnittlich 16 bis 18 Grad Celsius. Die minimale Temperatur im Januar liegt bei etwa vier Grad Celsius im Mittel, aber auch Werte unter null Grad Celsius sind nicht selten in dieser Jahreszeit. Die jährliche Niederschlagsmenge von durchschnittlich etwa 148 Millimeter fällt fast ausschließlich im Zeitraum von November bis März.
Im Gegensatz zu Beirut spricht man im bankgeschäftlichen Leben nur englisch und Gustav regt sich auf, dass ihm im Englischen die Schimpfworte fehlen, um sich über Verschiedenes ordentlich Luft machen zu können. Doch das lernte er auch und zwar schneller als erwartet.
Erleichtert stellte er fest, dass man nunmehr in der Bank einen Aircooler hat und wenn man von der Straße in die Räumlichkeit tritt, dann komme einem eine gefühlte „Eiseskälte“ entgegen. Komischer weise überfällt Gustav auch ein Frösteln, wenn er am Abend seine Wohnung betritt, obwohl am Thermometer 37 Grad abzulesen sind. Gustav klagt nun über andauernde Muskelkrämpfe und rheumatische Schmerzen an verschiedenen Körperstellen, was er auf die Propeller zurückführt, die ständig laufen.
„Die Nächte werden nun nicht mehr kühler, alle schwitzen, auch die Beduinen“, konstatiert Gustav und tröstet sich, dass es am Tage in der Bank auszuhalten sei.
Gustav beschließt die Stadt mit einem Bus zu durchfahren, doch schnell steigt er wieder aus, denn die Ledersitze, die keinerlei Ausdünstung zulassen, erzeugen sofort unvorstellbare Schweiß-
ströme. Kurz man ist klatternass und auch dreckig. So geht er ein paar Schritte zu Fuß, doch die Hitze ist so mörderisch, dass die Haut schmerzt, es sind 50 Grad im Schatten, keine Wolke am Himmel, nur ein Wüstenwind streift die Gesichter, doch Abkühlung bietet der gewiss nicht. Gustav ist froh wieder Zuhause unter seinem Propeller zu sein aber die Nacht wird es auch wieder in sich haben. Etwas kühler wird es erst morgens gegen 3.00 Uhr.
Der Lärm von Hunden, Radios, Nachtvögeln, sogar Mücken, Eseln und Kühen, aber auch und in erster Linie die entsetz-
lichen Schauertöne der Muezzins, der Popen, wie Gustav alle vereinheitlichend betitelt, die abends um 23.00 Uhr und morgens um 3.30 Uhr Allah preisen und zum Gebet rufen, begleiten den Schlaf des braven Mannes permanent und unerbittlich.
Gustav gewöhnte sich mit der Zeit an Vieles und schläft sogar, Verdauung und Nieren funktionieren, denn das Bier schmeckt und man isst stets sehr gute Sachen. Gustav hatte immer Probleme mit dem Herzen, doch hier hat er kaum Beschwerden, was er als seltsam empfindet. Eher sind es die Erkältungen, die auch die Einheimischen heimsuchen, die nerven und sehr lästig sind. Man speie und rotze ungehemmt nicht schlecht in der Gegend herum. Darüber hinaus veranlasse der viele Staub jedermann „tiefsinnig“ die Nase von Borke öffentlich zu befreien. Kurz man popelt ungeniert und Gustav übt sich im Ignorieren dieser Gewohnheit, an der sonst anscheinend niemand Anstoß nimmt.
Gustav kauft in einem schönen Geschäft Tee und Datteln, die es in Hülle und Fülle gibt, um die Familie Zuhause zu beschenken und er freut sich auf einen schönen Abend am Tigris. Es ist Freitag, der Sonntag der Bagdader, man plant frisch gefangenen Fisch am offenen Palmenfeuer zu braten und mit den Fingern zu essen. Ein junger Major der Kavallerie aus dem Nachbarhaus fährt Gustav und ein paar andere Nachbarn an den Fluss.
Das wären so die hiesigen Erlebnisse aus Tausend und einer Nacht, schließt Gustav seinen Brief, den er noch in der Nacht schreibt. Er tippt immer noch fast täglich Briefe an Klara und Hedwig, nicht zuletzt mit der Hoffnung verbunden, auch entspre-
chend reichlich Antworten zu erhalten. Frau und Tochter erfüllen ihm diesen Wunsch, dadurch wird Vieles erträglicher.
Bagdad ist nicht unbedingt der Himmel auf Erden aber Gustav verdiente scheinbar recht gut und lernte Land und Leute kennen. Das war ja auch sein erstrebtes Ziel. Man kann nicht immer nur eitel Sonnenschein erwarten, obwohl es den im wahrsten Sinne des Wortes genau in Bagdad mehr als reichlich gibt. Soviel ist sicher. Es ist Ende Oktober, alles blüht im schönen Garten, in dem sieben Riesendattelpalmen stehen, voller Früchte, Rosen, Geranien, Feuerlilien und zwei Meter hohe Bananenstauden erfreuen Gustav, wenn er auf seiner geräumigen, überdachten Terrasse im bequemen Sessel seinen Tee einnimmt. Das entschädigt für Vieles, auch für das recht kleine Zimmer, welches er hier bewohnt.
Es ist nachmittags und man glaubt, es käme Nebel auf aber den gibt es hier nicht. Die Temperatur ist immer noch bei 36 Grad im Schatten also tatsächlich noch aushaltbar. Nein, es sind in der Ferne ungeheure Staubwolken, die von der Wüste her aufgewir-
belt bald die Stadt erreichen. Sie verdunkeln die Sonne und man muss alles schließen, dennoch dringt der Staub durch alle Ritzen. Das ist nicht schön. Schlimmer noch sind die kleinen unsicht-
baren, mückenflohartige Biester, die leicht juckende Stellen verursachen, wenn sie zuzwicken. Man muss sie vor dem Schlafengehen „wegflitten“, damit man Ruhe hat in der Nacht, schreibt Gustav. Ich weiß nicht, was wegflitten ist, aber scheinbar vertreibt es diese Viecher.
Man muss sich mit der Hitze und allen Umständen arrangieren. Gustav beschließt, sich einen Tropenhelm zu kaufen und bereut die Anschaffung nicht, wenn man damit auch reichlich deppert aussehen würde, schreibt er. Das Ding würde gegen die Hitze auf der Birne goldwert sein.

Die Zeit vergeht ohne besondere Vorkommnisse und Gustav bereitet sich nun auf den ersten Winter in Bagdad vor und besorgte sich vorsorglich eine gute Wolldecke. Bislang konnte man ja nur unter einem Laken schlafen. Auch beabsichtigte er sich in dem kleinen Zimmer etwas gemütlicher einzurichten. Somit wurden eine große Fußmatte und Vorhänge angeschafft, was der Mitbewohner des Hauses übernahm. Er sei ja ganz nett und sehr hilfsbereit, schreibt Gustav, wenn man auch geistige Interessen bei ihm völlig vermisst. Egal, er umsäumte die große Fußmatte und befestigte die Vorhänge, braun mit Bildern „Christoph Columbus entdeckt Amerika“, sie waren offensichtlich sein Geschmack. Gustav hatte ihn leichtsinnigerweise mit der Beschaffung des Stoffes betraut. So kann es kommen. Darüber hinaus brachte er als besonderes „Schmankerl“ einen veritablen Nachtopf von seinem Einkauf mit, der wäre sehr preiswert und vielleicht könne man ihn brauche, man wisse ja nie.
Mit Herrn Ki., so nennt Gustav seinen Mitbewohner, durchstreifte er zuweilen auch ganz gerne die Souks, Marktstraßen, die es zu Tausenden gibt. Hier tobt der Orient wie er leibt und lebt: enge Passagen, erfüllt von Geschrei, Staub, Dreck, Fliegen, Menschen aller Kostümierungen und Fahrzeugen nebst Reitern auf Eseln und Pferden. Dazu kommen Lastenträger in Hülle und Fülle, mit und ohne Karren. Es gibt alles zu kaufen, was das Herz begehrt. Nur hygienische Gedanken darf man nicht hegen. Man wendet sich so nur mit Schaudern von den Lebensmitteln ab, die da zum Verkauf ausliegen. Doch die Bevölkerung konsumiert. Gustav denkt noch kurz darüber nach, wo wohl dieses Menschen-
gewimmel seine Bedürfnisse erledigt, vermutet, dass auch dieses irgendwie auf der Straße stattfindet, gesehen hat er es allerdings nicht.
Es ist nun November, die Luft wird feuchter, die Erkältungen scheinen sich auszuweiten, denn die Leute entledigen sich ihrer Naseninhalte, bei uns nennt man das Charlottenburger, auf höchst widerwärtige Weise aus den Fenstern, den Autos oder einfach auf dem Boden, wo sie gerade stehen oder gehen. Man muss aufpassen, beklagt sich Gustav und ist ungemein froh, in einer ordentlichen Bank zu arbeiten. Allerdings nimmt hier die Arbeit zu und die Leute sind ständig „tired“, sie sind müde, wollen schlafen. Gustav ist genervt. Außerdem beginnt die Regenzeit endgültig. Es gibt ständig Gewitter, die von wolkenbruchartigen Regenfällen begleitet werden, Teile der Stadt stehen bereits unter Wasser, der Tigris wird überlaufen, heißt es. Man heizt mit Petroleum. Die Jahreszeit ist mehr als ungesund, fasst Gustav zusammen, aber man müsse sich einrichten.
Den Weihnachtsabend verbringt Gustav auf Einladung der deutschen Gesandtschaft, wo u unter einem echten deutschen Baum viel Gutes gegessen und getrunken wurde, dennoch verlief der Abend sehr prosaisch. Er fühlte sich nicht ganz gesund, eine Riesenerkältung mit Schnupfen und allen üblen Begleitumständen hatte ihn nun auch gepackt. Die Leute husten überall in die Gegend, kein Mensch hält sich die Hand vor den Mund, die öffentlichen Verkehrsmittel sind überfüllt. Kurz, man steckt sich an. Gustav versucht das Fahren in ihnen zu vermeiden, obwohl das Fortkommen mit einem Auto auch nicht problemlos verläuft. Die Straßen sind oftmals lange blockiert, man braucht Geduld.
Die „Tram“ sei ein Kapitel für sich, ein symptomatisches. Alles, was auf der Treppe steht oder hängt, zahlt nichts. Man kann also nicht einsteigen, obwohl im Inneren der Wagen noch Platz ist. Die Wagenführer achten nicht auf die Passagiere und reden wie alle ununterbrochen auch mit den Händen, lassen also das Lenkrad los, auf den Serpentinenfahrten im Gebirge bekommt ein Neuling dabei Bauchschmerzen und das nicht genug, wer aufbegehrt, kann damit rechnen, dass er am Ende der Fahrt vom Chauffeur Prügel bezieht. Gustav bezeichnet den Verkehr und dessen Regelungen als Skandal Nummer 1.
Auf den Bürgersteigen spielt sich ähnlich Haarstäubendes ab. Nachts muss man über Schlafende steigen und am Tage kann es leicht passieren, dass jemand eine Herde Truthühner zwischen den Passanten herumführt, während ein anderer gebrauchte Kämme ausbreitet, um sie wohlfeil anzubieten. Es ist manchmal äußerst schwierig, auf dem Bürgersteig unbehelligt seinen Weg zu finden.
Vorschriften werden stets in aller Gemütsruhe umgangen, festgesetzte Termine nicht eingehalten. Das wäre eben der Orient, erklärt man Gustav, wenn er deswegen ganz fuchtig wird. Auf der einen Seite gäbe es die jüdische Hast und auf der anderen Seite die orientalische Faulheit. Das sei schon immer so gewesen. Man hebt lächelnd die Schultern.



Es bleibt aber nicht alles wie immer. Außenpolitisch löste sich der Irak von seinen westlichen Bindungen: Im März 1959 erfolgt der Austritt aus dem Bagdad-Pakt mit England, der Abschluss eines Beistandspakt mit der Vereinigten Arabischen Republik schließt sich an.
Auch Gustavs Zeit im Orient geht seinem Ende zu. Sein Vertrag mit der Bank ist erfüllt. Gustav könnte nun eigentlich ruhig und verdient in den Rentenstand eintreten. Er will nun auch wieder nach Deutschland, um endlich wieder mit seiner lieben Klara gemeinsam, ruhig und glücklich, in einem gemäßigten Klima, kulturvoll den Lebensabend zu verbringen. Klara braucht ihn, sehnt sich nach Normalität aber in erster Linie ist es der jüngste Sohn, den es nach Sao Paulo in Brasilien geschäftlich verschla-
gen hat. Er ist dort in höchster Bedrängnis, er braucht Gustavs Einsatz und Hilfe, doch das ist wieder eine neue Geschichte.
Nachwort



Das Buch titelt „Was weiß ich schon vom Orient?“
In erster Linie gaben mir die Briefe meines Großvaters tiefe Einblicke in das Leben in den benannten Regionen in den Fünfziger Jahren. Unaufgeregt, unspektakulär zeigt sich ein Alltag, der mit unserem nicht vergleichbar ist. Allein die klimatischen Bedingungen bilden einen großen Unterschied, doch die sind es nicht allein. Unsere westliche Zivilisation hatte auch damals schon einen anderen Entwicklungstand, unser Wohlstand hatte mit dem Leben der ärmeren Libanesen oder Iraker nicht viel zu tun, die Auffassungen auf sozialem Gebiet auch nicht. Tiefe Kluften lagen dazwischen.
Das vorliegende Buch zeigt Ausschnitte aus dem Leben früher, welches sich heute vermutlich ganz anders gestaltet, auch mag der Anblick der Straßen, des Verkehrs, der Geschäfte heute sehr davon abweichend sein, dennoch wird sich das Leben der Ärmeren vermutlich immer noch nach althergebrachten Mustern darstellen. Es gab seither viel Krieg, viel Zerstörungen, Machtwechsel, die Golfkriege, Einmischungen Fremder, doch das war nicht das Hauptthema meines Berichtes.
Den Orient zu begreifen, etwas über ihn zu wissen, heißt allerdings mehr als Briefe auszuwerten oder im Internet zu recherchieren. Man muss selber dort gelebt haben, dennoch bleiben die eigenen Erfahrungen stets nur Bruchstücke.
Ich weiß aber nun ein wenig mehr, durfte an den Erfahrungen meines Großvaters dank seiner Briefe teilhaben. Ich bin dankbar und erfreut, dass sie sie geschrieben wurden und über die Jahre nicht verloren gingen, denn meine Mutter hat sie stets sorgsam gehütet.
Ich bewundere auch den Mut und die Kraft, die dazu gehören mussten, sich damals in diesen Ländern über einige Jahre aufzuhalten und durchzusetzen, denn in den Fünfzigern war es beileibe nicht häufig, dass die Menschen den Schritt wagten, im Ausland zu arbeiten.
Mein Großvater bleibt für mich ein sehr besonderer und starker Mensch, den ich sehr verehre und wohl auch nie vergessen werde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Großvater Gustav Helbig gewidmet

Nächste Seite
Seite 1 /