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Siegfried



Er war ein großer, kräftiger Junge. Nein, eigentlich war er ein dickes Kind, zu dick für die damaligen Verhältnisse. Die Kinder hänselten ihn, denn die meisten waren ziemlich dünn, wenn auch nicht unterernährt wie nach dem Krieg. Sie waren halt im Durchschnitt magerer als es heute der Fall ist. Das Bild hat sich gewandelt, die Kinder bekommen heutzutage wohl zu viel Süßes und zuviel Fastfood, zu wenig Obst und Gemüse.

Siegfried war ein Einzelkind, was damals auch relativ selten zu verzeichnen war aber die Mutter hatte sich mit der Geburt dieses großen Kerls übernommen. Mehr war nicht drin. Die Frau war klein und sehr schmächtig, auch ziemlich blass und wirkte verhärmt mit ihrem kleinen Haarknoten im Nacken. Eine Schönheit war sie halt nicht und ihre ewige Kittelschürze, auch die dicken Strümpfe in den Holzpan-
tinen, ließen ihren Typ ins Groteske abgleiten. Sie war allerdings eine Seele von Frau, die sich für ihren Siegfried und ihren Mann aufopferte.

Dieser Mann, ich möchte ihn hier einmal als Herrn N. bezeichnen, war ein Pascha wie er im Buche steht. Die Frau musste ihm quasi untertan sein und hatte alles zu ver-
richten, was für ihn von Bedeutung war. Das war nicht leicht, denn er war ein Pedant. Sein Beruf verlangte dieses von ihm, sagte er immer. Er arbeitete als Finanzbuchhalter und stand zwei Frauen vor, die mit ihm in einem Büro saßen. Sie hatten ebenfalls nichts zu lachen.

Seine kleine Frau stand jeden Morgen als erster der Familie um fünf Uhr auf, noch vor den Hühnern, die sie, nachdem sie sich mit einer Trainingshose, der unvermeid-
baren Kittelschürze und den Holzpantinen notdürftig bekleidet hatte, mit hoher glockenreiner Stimme zu wecken pflegte. Zuvor öffnete sie natürlich die Klappe. Die Nachbarn vernahmen im Sommer und im Winter in aller Hergottsfrühe dieses Hühnerrufen. Küüüüken, Küüüüüken, Küüüüüken ertönte es solange bis alle Hühner draußen waren. Dann holte sie rasch die Eier aus dem Stall, um Mann und Sohn das Frühstück zu bereiten.

Herr N. und Siegfried wurden erst geweckt, wenn der Tisch in der Küche gedeckt war. Während sie sich abwechselnd wuschen, was nur in der Küche möglich war und der Toilettengang zum Plumpsklo auf dem Hof erledigt wurde, schmierte die Frau die Brote, einen Berg für Siegfried und einen für den Vater. Die Schuhe hatte sie schon am Abend zuvor geputzt, auch die Kleidung für den Tag für Vater und Sohn bereit gelegt. Sie hoffte alles zur Zufriedenheit erledigt zu haben.
Erst stiefelte der Vater ins Büro, danach fuhr Siegfried los. Er besuchte die Schule im Nachbardorf und fuhr wie alle anderen gleichaltrigen Kinder mit dem alten klapprigen Fahrrad cirka acht Kilometer über Land. Das war im Winter kein Zuckerschlecken.
Frau N. stand dann immer mitten auf der Dorfstraße und winkte ihrem Siegfried mit einem Taschentuch nach bis er verschwunden war. Manchmal rief sie im gleichen Tonfall wie der Weckruf für die Hühner:
„Süüügfrüüüd fahr nüüüücht so schnell!“
Die kleineren Kinder, die noch in die Dorfschule gingen, hörten es und äfften sie oftmals sehr frech und gehässig nach, wenn sie Siegfried auf dem Fahrrad sahen. Siegfried ertrug es lächelnd, er war ein gutmütiger Junge.

Jeden Morgen, wenn alle weg waren, legte die Frau die dicken Federbetten in die Fenster zum Lüften, anschließend schleppte sie alle Läufer nach draußen um sie auf die Klopfstange zu wuchten, sie mit all ihrer Kraft zu klopfen und zu bürsten. Das war eine sehr schwere Arbeit.
Die kleine Tochter des Hauptbuchhalters, dem Chef des Herrn N., hatte längst verwundert bemerkt, dass die kleine Frau täglich alle Teppiche rausschleppte und klopfte. Ihre Mutti benutzte einen Staubsauger, die Teppiche wurden nur im Winter, wenn Schnee auf der Wiese lag, dort so ausgiebig geklopft.

Sie ging also eines Tages früh rüber auf den Hof, die anderen Kinder waren derweil beim Pastor zur Bibelstunde, um zu ergründen, was es mit dem Teppichklopfen auf sich hätte.
Frau N. klopfte und griff sich hin und wieder an den Rücken. Ganz schmal waren ihre Lippen und ihr Gesicht schmerz-
verzerrt.
„Tut ihnen was weh?“, fragte das kleine Mädchen mitleidig. Die kleine Frau sah völlig erstaunt innehaltend auf das Kind, welches sie fragend ansah.
„Es ist nichts, nur der Rücken eben“, sagte sie dann langsam.
„Habt ihr denn keinen Staubsauger?“, fragte die Kleine.
„Nein“, antwortete sie gedehnt. „Das muss ich schon selber erledigen. Das moderne Zeug geht bloß kaputt und kostet Strom, meinte sie noch, um sich dann wieder noch emsiger und verbissen ihrer Arbeit zu widmen.

Das Mädchen sagte noch leise „…und ihr schlimmer Rücken?“ aber die Frau hörte nicht mehr hin, sie hatte zu tun.
Das kleine Mädchen hatte eine dicke Falte auf der Stirn. „Siegfried könnte doch Teppichklopfen“, dachte sie, der hat viel mehr Kraft. „Aber det faule Aas kommt nich drauf“, schimpfte die Kleine und fasste einen Plan.

Nach der Schule begab sie sich in das Büro, indem Herr N. und Papa arbeiteten. Sie wollte Papa daran erinnern, dass Mutti Geburtstag hatte und er bitte nicht zu spät Feier-
abend machen dürfe. Sie ging also durch das Büro von Herrn N., grüßte freundlich, alle waren in ihre Arbeit vertieft, in Papas Büro und trug ihre Bitte vor. „Setz dich kurz mal draußen an den Tisch und warte einen Augen-
blick. Aber störe Herrn N. und die Frauen nicht. Ich rufe, dich, wenn ich hier fertig bin.“ sagte er in Gedanken vertieft.
Die Kleine setzte sich auf einen Stuhl, um mit einer der Frauen doch ein kleines Gespräch zu beginnen.
„Gibt es hier eigentlich einen Staubsauger“, fragte sie scheinheilig.
„Ja, natürlich“, antwortete die Frau verwundert. „Der Direktor hat doch einen großen Teppich in seinem Büro. Wieso willst du das wissen?“
„ Darf man sich den auch mal ausborgen?“ wollte die Kleine noch wissen. „Es ist doch so schwer, jeden Tag die ganzen Teppiche an der Klopfstange zu klopfen. Manche Frauen sind nämlich nicht so stark.“ Fügte sie noch laut an.
Herr N. schaute hoch und erbat sich endlich Ruhe. Er hatte alles genau verstanden und gedeutet. Jeder wusste, wen das Mädchen meinte.
Dann rief Papa und das Mädchen entfernte sich rasch, um zu hören, was Papa wollte. Es ging natürlich um den Geburtstag. Wie immer konnte er nicht rechtzeitig weg.
Am nächsten Tag verlief alles wie gehabt. Die Hühner wurden geweckt, Siegfried erhielt ein herzliches Nachwinken, die Betten erschienen in den Fenstern und lautes Klopfen erschallte. Dann war Ruhe. Etwas vorzeitig, schien es. Aber keiner bemerkte das.
Als die Kinder aus der Schule kamen, es hatte angefangen zu Nieseln, hingen die Betten immer noch aus den Fenstern. Das kleine Mädchen fand das sehr komisch. Sie beschloss mal nachzuschauen, ob auch alles in Ordnung sei. Sie ging also um die Ecke auf den Hof. Auf der Klopfstange hingen noch zwei Läufer. Auch komisch! Die Haustür war angelehnt. Das Mädchen klopfte und öffnete die Tür, um einzutreten. „Frau N., sind sie da?“, rief sie. Nichts. Die Kleine zog ihre Schuhe aus und ging durch das Wohnzimmer. Hier war auch niemand. Doch dann blickte sie durch die geöffnete Tür in das kleine Schlafzimmer und sah die kleine Frau am Boden liegen, der große Läufer neben ihr.
Plötzlich öffnete die Frau ihre Augen, sah das Kind und sagte leise: „Komm mal her. Du musst unbedingt die Betten aus den Fenstern nehmen.“
„Soll ich nicht lieber ihren Mann holen?“ fragte die Kleine. „Nein, nein“, rief die Frau mit schreckensgeweiteten Augen. Siegfried muss ja gleich kommen.“
Und da kam er auch schon. Auch ihm schwante Unheil als er die Betten im Regen in den Fenstern liegen sah. Er schmiss sein Fahrrad in den Hof und eilte ins Haus. Das kleine Mädchen zerrte an den Betten.
„Mutti, was ist denn hier los, was ist passiert?“
„Ich kann mich nicht bewegen, bin mit dem Teppich gestürzt. Was wird der Papa bloß dazu sagen?“
„Ich hole jetzt Hilfe“, sagte Siegfried energisch. Einer der Nachbarn hatte einen Trabbi, der wird Mutti in die Stadt fahren, hoffte er. Und so kam es. Der Nachbar, der ein paar Häuser weiter wohnte, ein Rentner, holte ohne lange zu fragen sein kleines Auto aus der Garage und kam kurz darauf auf den Hof gefahren. Siegfried war stark, das war nicht zu übersehen. Er trug seine schmächtige Mutter zum Auto und ab ging es. Danach nahm er die anderen Läufer von der Stange und schloss die Fenster. Das Mädchen hatte inzwischen die dicken Betten reingeholt.
„Danke.“ sagte Siegfried schlicht „Du hast was gut. Ich muss jetzt dem Papa sagen, was hier passiert ist, sonst rastet der aus. Der rastet sowieso aus.“ meinte er noch resigniert. Siegfried kannte den Papa nur zu gut.

Der große dicke Junge begab sich gemächlich zum Büro seines Vaters. Er würde alles über sich ergehen lassen und Mutti war ja jetzt irgendwie in Sicherheit. Siegfried war ein wenig stolz auf sich. Er hatte selbständig Hilfe geleistet, schließlich wollte er Feuerwehrmann werden und die fragen nicht lange, wenn ein Mensch in Not ist.

Das kleine Mädchen war auch mit sich zufrieden. Sie hatte etwas unternommen. Das war wichtig.
Siegfried wurde Feuerwehrmann und Herr N. kaufte einen Staubsauger. Der Fortschritt hatte nun auch seine Familie erreicht. Seine kleine Frau wurde wieder gesund und musste nunmehr weder täglich Teppichklopfen, noch am Abend seine Füße waschen. Herr N. hatte sich entwickelt.
„Man muss die Frauen nicht alles machen lassen.“ verkündete er bei passenden Gelegenheiten. Einige Männer nickten, manche hielten sich bedeckt.


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Tag der Veröffentlichung: 09.01.2011

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