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Elfi



In den Sechziger Jahren trugen fast alle Mädchen Zöpfe, manchen hatten darüber hinaus noch so einen kleinen Hahnenkamm gesteckt. Sie hatte weder Zöpfe noch einen Hahnenkamm, sondern einfach einen kurzen Haarschnitt, wie ihn freche kleine Berliner Mädchen halt hatten. Jetzt wohnte man allerdings in einem kleinen Dorf im tiefsten Mecklenburg, indem alles anders war, nicht nur die Haartracht der Kinder und alten Omas.

Die Kinder mussten den Eltern unbedingte Gehorsamkeit zeigen, sonst blühte ihnen Sonstwas, hieß es. Sie verstand erst nicht, was dieses Sonstwas sein könnte, bis sie im Turnunterricht, diverse blaue Flecken und Striemen an den Körpern mancher Kinder sah. Wenn man nicht artig ist, gäbe es Schacht, sagten die Kinder. Das kleine Mädchen kannte diesen Begriff auch nicht aber man klärte sie schnell auf.
Die Eltern verkloppten also regelmäßig ihre Kinder, musste sie tief bestürzt zur Kenntnis nehmen.

Ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und einem Hahnenkamm hatte auch beängstigend viele blaue Flecke. Nach dem Warum befragt, meinte sie, dass ihre Mutter gerne möchte, dass sie die Bibel auswendig lernen soll. Jeden Tag ein bestimmtes Pensum, welches sie am nächsten Tag aufzusagen hätte. Der Pastor würde sich freuen und es würde nicht schaden.

Das kleine Mädchen wunderte sich sehr und schüttelte etwas altklug den Kopf. Man musste ja schon in der Schule hin und wieder ein Gedicht auswendig lernen. Sie fand das ausreichend. Über die Bibel konnte sie natürlich nichts sagen, denn sie musste als Lehrerkind nicht vor dem Unterricht in die Bibelstunde zum Pastor. Noch in Berlin wohnend war sie die ersten zwei Schuljahre allerdings auch in der Christenlehre aber dort musste man keine Bibel auswendig lernen. Man bekam vorgelesen und darüber hinaus bunte Jesusbilder geschenkt. Das war zu ertragen.

Elfi tat ihr furchtbar leid. Sie würde diese dicke Bibel niemals auswendig können, soviel war gewiss. Ob Elfis Mutter vielleicht ein bisschen bekloppt ist, dachte sie. Was kann man da machen? Bekloppten ist meist nicht zu helfen, doof bleibt doof, war ihre Meinung. Sie hatte diese Art, ein Urteil zu fällen aus Berlin mitgebracht. Das kleine Mädchen war jetzt 11 Jahre alt und dazu erzogen, gegen Unrecht etwas zu unternehmen. Sie hat die Mutter oft genug sagen gehört, dass man nicht zulassen darf, dass Kinder geschla-
gen werden. Man muss etwas unternehmen, meinte dann der Vater und er schaute dabei sehr ernst.

Mutti muss da unbedingt einen Elternbesuch machen, dachte sie. Die Mutter sagte zu und meldete sich als Lehrerin zum Besuch an.
„Hast Du es gesagt?“ fragte das kleine Mädchen. Ja, nun wäre alles gut, versicherte die Mutter. Elfi würde keine Haue mehr bekommen.
„Ja, und muss sie immer noch die ganze Bibel auswendig lernen?“ schrie das Mädchen. Die Mutter hob die Schultern. Das wäre das Gebiet des Pastors, meinte sie noch.
Der Pastor war ein sehr großer dicker Mann, der immer schwarze Sachen an hatte. Er lächelte selten, er war streng. Die Kinder meinten, dass es besser sei, wenn man das machte, was er sagte.
Das kleine Mädchen hatte ein wenig Angst vor dem Mann, denn schließlich war sie ja nie in seiner Bibelstunde und deshalb wohl auch vermutlich wenig beliebt, dachte sie zumindest.

Es musste etwas geschehen. Elfi hatte ihr gesagt, dass sie immer noch Bibelsprüche auswendig lernen muss, jeden Tag, wenn auch die Mutter sie nicht mehr vermöbeln würde. Doch zur Strafe müsse sie nun immer die Kanin-
chenställe ausmisten, wenn sie ihr Pensum nicht beherr-
schen würde.

Das kleine Mädchen wollte nun unbedingt etwas unter-
nehmen. Sie erkundigte sich bei den Kindern, wo sie die Bibeln hinlegten, wenn die Stunde vorbei war.
Sie wartete bis alle Kinder aus dem Raum im Pastorenhaus gekommen waren, der Pastor ging danach immer in die Kirche, seine Frau war mit ihren kleinen Kindern beschäf-
tigt. Die Luft war also rein.

Das Mädchen schlich sich in den Raum, Türen wurden damals nie abgeschlossen, ihr Herz klopfte bis zum Halse hinauf. Fünfzehn schwarze Bibeln lagen in einem Regal. Sie steckte so schnell sie konnte, die Bücher in ihren Schul-
ranzen und in den Turnbeutel. Dann rannte sie mit der doch erheblichen Last in die Schule, die neben dem Pasto-
rengebäude stand. Atemlos saß sie endlich auch in der Schulbank, die Bibeln noch im Schulranzen.

Die Lehrerin betrat den Raum und die Stunde begann. Die Lehrerin war die Mutter der kleinen Diebin, sie ging durch die Reihen. „Legt die Hefte mit den Hausaufgaben auf die Bänke“, sagte sie. Das kleine Mädchen kramte in der vollen Schulmappe. Das Heft war weg. Es war wohl unter den ganzen Büchern versteckt. Die Mutter stand nun an ihrer Bank, um ihren Strich unter die schriftliche Hausaufgabe zu machen.

„Na, wo ist dein Heft?“, fragte sie streng. Das Mädchen stotterte, wurde ganz rot und sagte, sie hätte das Heft Zuhause vergessen aber sie hätte die Hausaufgaben ganz bestimmt erledigt. Die Mutter, die ihrem Kind in der Schule streng aber gerecht begegnete, sagte dass sie dennoch leider einen Eintrag nicht vermeiden könne. Das Mädchen atmete hörbar auf und das kam ihrer Mutter irgendwie verdächtig vor. Ihr Kind hatte etwas zu verbergen, soviel war sicher. Aber was?
In der Pause strömten alle Kinder hinaus.
„Du bleibst hier“, sagte die Lehrerin zu ihrer kleinen Tochter. „Du hast gestern Deine Mappe gepackt. Ich habe es gesehen. Öffne jetzt die Schultasche, es muss darin sein.“
Die Kleine öffnete ihre Mappe und musste nun alles beichten, was sie verbrochen und warum. Das war nicht so einfach, denn sie ahnte, was die Mutter festlegen würde.
„Du gehst jetzt sofort zum Pastor und lieferst die geklauten Bibeln wieder ab. Du sagst ihm, was du damit erreichen wolltest, er wird Dich schon nicht fressen.“
Und so geschah es. Das kleine Mädchen musste zum Herrn Pastor, um die Bibeln wieder abzuliefern. Alles schien umsonst. Elfi und die anderen Kinder vermutlich auch, würden weiterhin daran ackern, die Bibel einmal auswen-
dig zu können.
Der Pastor saß lesend an seinem riesigen Schreibtisch und hörte erstaunt, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Ein kleines Lehrerkind stahl also Bibeln, um zu verhindern, dass die Elfi und die anderen Bibelverse auswendig lernten.
„Und Elfi hat deswegen immer Haue bekommen und jetzt muss sie die ganzen stinkigen Kaninchenställe alleine ausmisten!“, sagte die Kleine noch und sie nahm dabei ihren ganzen Mut zusammen.
„Hm, äh, “ der Pastor räusperte sich, “ dann werde ich wohl mit Elfis Mutter sprechen müssen.“ Pause. Das Mädchen trat von einem Fuß auf den anderen.
„Du hast es scheinbar gut gemeint“, …es folgte nun eine längere Predigt über das Thema Stehlen und der Notwen-
digkeit Bibelverse zu lernen. Er ging auf und ab und schien das kleine Mädchen kaum zu bemerken. Sie überlegte, ob sie einfach leise abhauen könne. Der Herr Pastor schien sehr vertieft. Als sie sich ganz unauffällig der Tür näherte, ergriff er fest ihren Arm und sagte streng:
„Du bleibst hier und hörst dir an, was ich zu sagen habe. Du musst noch sehr viel lernen.“
„Ich muss doch wieder in die Schule“, wagte sie noch zu erwidern aber er erlaubte es nicht.
Schließlich war er schwer atmend zum Schluss gekommen. Er würde daraus eine donnernde Predigt für den nächsten Gottesdienst formulieren.

„Du kannst gehen“, hörte sie endlich und ließ sich dieses nicht zweimal sagen.
Sie hatte inzwischen den Handarbeitsunterricht verpasst. "Gott sei Dank!“, dachte das Mädchen, denn dieses Unterrichtsfach mochte sie überhaupt nicht. Sie hatte es schon fertig gebracht, Stricknadeln zu verbiegen und damit die Handarbeitslehrerin, die Frau des Direktors, zur Verzweiflung gebracht, was aber wieder eine ganz andere Geschichte ist …

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Tag der Veröffentlichung: 02.01.2011

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