Das Haus in Finnland
Es war nun schon tiefer Nachmittag, aber noch sehr warm. Es würde lange hell sein. Eine kleine Stunde Erholung nebst Erfrischung war nun für alle sehr willkommen.
„Hier müssen wir halten, näher kann ich nicht heran fahren. Nehmt eure Badesachen mit, “ sagte Volker, „da vorne ist er schon“, und zeigte in die Richtung, wo vermutlich der See lag. Sprach’s und verschwand im Unterholz.
Die Frauen kramten ein wenig in ihren Reisetaschen und förderten erstaunlich schnell ihre Badeanzüge und zwei kleine Handtücher zu Tage. Dann gingen sie zügig Volker hinterher.
Der See lag vor ihnen, von Bäumen und blühenden wunderschönen Sträuchern umgeben und an der Spitze konnte man durch eine Öffnung über ausgedehnte Wälder in weites Land blicken. Man war also auf einer Anhöhe. Die Sonne stand genau über der fantastischen Öffnung, die in ein scheinbares Traumland zu schauen gestattete. Der See glitzerte verführerisch und lockend, ein sanfter Luftzug kräuselte das glasklare Wasser, am anderen Ufer schwammen einige Wasservögel. Gila schaute in den wundervollen Himmel, musste an einen kleinen Text denken, den sie mal verfasste. Der Himmel kann Menschen immer wieder mit Azur und seinen weißen Wolken begeistern. Man blickt einfach nach oben und fühlt sich beschwingt, gut gelaunt, Sorgen treten in den Hintergrund, Wolken regen immer die Fantasien an und verleiten zu träumen.
Wolken
Ziehen scheinbar langsam unter dem blauen Himmel dahin, wechseln ständig die Form und verändern ihre Farbe, willkürlich anmutend.
Mein Augenpaar wandert langsam mit und begleitet die abenteuerlichen Formen bis sie aus dem Blickfeld verschwunden sind. Aber der träge Wind lässt neue Gebilde vorüberziehen, die an eigentümliche Fabelwesen erinnern oder ganz plötzlich auch andere Assoziationen bewirken. Ein Zusammengleiten und Auseinanderfließen der besonderen Art, zeitlich kaum einzuordnen, nicht vorhersehbar, wechselhaft, immer neu, faszinierend.
Das große Spiel der Elemente, das gewaltige Spiegelbild eines ganzen Lebens.
Völlig ungerührt, unbeteiligt schweben sie erhaben über mir und ich spüre aus meiner Perspektive die Grenzen des menschlichen Seins.
Seltsam ist nur, dass ich die Botschaft freundlich, gelassen ja völlig selbstverständlich aufnehme und in diesem Moment sich die Gedanken absolut ruhig und natürlich verselbständigen.
Gila löst sich und schaut auf das andere nahe Ufer.
Plötzlich tauchte dort eine Gestalt auf und winkte. Es war Volker. Ansonsten war keine weitere Seele zu erblicken. Die Frauen zogen schnell ihre Badesachen an und gingen über einen winzigen Sandstrand in das erfrischende Wasser. Der See war nicht sehr tief. Man konnte den Grund sehen. Er wirkte irgendwie zivilisiert, fast wie künstlich angelegt, dennoch wieder ganz natürlich. Es war ganz still, nur das leichte Plätschern der nun auch an das andere Ufer schwimmenden Frauen. Dort wartete lächelnd Volker.
„ Ich möchte euch etwas zeigen“, sagte er, „kommt mit.“
Gila und Rina kamen an Land, schritten wieder über einen kleinen Sandstrand vorsichtig hinter Volker her. Sie liefen über weiches Moos zwischen den Bäumen und duftenden Sträuchern.
„ Es ist ein angelegter Weg“, flüsterte Gila Rina zu.
„ Ob hier etwa einer wohnt?“
Volker hatte die Frage gehört und wies auf eine vor ihnen liegende Lichtung. Darauf stand ein niedriges recht großes Gebäude, wie ein kleines Schloss anmutend, nur dass es ganz aus Holz bestand, versehen mit wundersamen Schnitzereien. Es duckte sich förmlich, die Fenster waren fast zu ebener Erde, alle mit stabilen Läden versehen. Es gab diverse Türmchen, Erker, Nischen. Alles wie im Märchen, sehr traditionell, doch sehr neu aussehend. Sie gingen um das Haus herum und vor dem breiten Eingangsbereich stand eine ältere, grazile, sehr schlanke Frau mit langen weißen Haaren, die von einem Reifen gehalten wurden. Sie trug ein leichtes, langes sehr schönes dunkelgrünes Kleid. An den Armen dezenter Silberschmuck, um den Hals ein weiches Tuch in der Farbe des Kleides.
Sie lächelte Volker an und sagte: „ Wie schön, Volker, dass du wieder einmal hereinschaust. Wir haben uns lange nicht gesehen, leider ist Karl nicht zu Hause. Er bringt Studenten zum Flughafen. Oh, und du hast sogar Besuch mitgebracht. Stell mir doch deine Begleitung bitte vor. Ihr seid über den See gekommen, “ sagte sie wieder lächelnd, „ein schönes Fleckchen Erde, nicht wahr.“
„ Das sind Rina und Gila aus Deutschland. Sie wollen Pertti besuchen. Ich bringe sie nach Ivalo. Und das ist meine Freundin Karla“, sagte Volker strahlend, und zu Rina und Gila gewandt:
„Sie ist mit Karl mein Geheimtipp nur für ganz außergewöhnliche Urlauber. Sie sind mein Märchen in Finnland. Ich bringe sonst kaum jemanden hier her. Aber bei euch will ich eine Ausnahme machen.“ Und dabei lächelte Volker Rina verdächtig lange an.
„ Da ist was im Busch“, dachte Gila, „warum sollte Rina nicht auch mal in einen hineinkriechen. Na ja, eher denn umgekehrt.“ Gila grinste verstehend. Vielleicht hatte ja Rina Volker das Leben gerettet mit ihrer beherzten Tat.
Karla fragte die Frauen, ob sie denn schon einmal ein traditionelles finnisches Haus gesehen hätten, sie würde es ihnen bei Interesse gerne zeigen. Vielleicht, wenn sie eine kleine Erfrischung zu sich genommen hätten. Volker nickte den Frauen zu. Schon kam Karla federnden Schrittes mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit einem tiefblauen Getränk standen. Es schmeckte super.
„Das ist ein reiner Waldfruchtsaft. Ich stelle ihn selber her. Er ist aus dem vergangenen Jahr. Die diesjährige Beerensaison beginnt erst zögernd. Ach, setzt euch doch.“
Auf der überdachten Holzterrasse standen zwei bequeme Holzschaukelstühle, ein großer stabiler rustikaler Tisch mit mächtigen Füßen und eine ebenso stabile Bank, auf der Volker und Karla Platz nahmen. Eine große weiße Katze lag bereits auf ihr. Sie rührte sich nicht. „Hast du nicht auch so eine?“ sagte Gila, „ die ist uns vergangene Nacht aufs Kopfkissen gesprungen.“
„Ja,“ sagte Volker gedehnt, „das ist eigentlich Tarjas, sie hat sie dagelassen, diese Hexe und seine Mine verdunkelte sich unmerklich. Karla lächelte fein:“ Sie ist eine Tochter jener, “ und zeigte auf ihre Katze.
„Volker hat manchmal kein gutes Wort für Hexen. Möchtet ihr nun das Haus von innen sehen?“ Sie stand auf, wartete keine Antwort ab und begab sich ins Haus.
Die Frauen folgten ihr zögernd aber immer neugieriger werdend. Zunächst erschien es etwas dunkel, die Läden waren zum Teil geschlossen. „Es ist wegen der Hitze, “ rief Karla, “so bleibt es angenehm frisch.“
In den Nischen, an den Wänden waren überall Bücher, auch sehr viele uralt aussehende Bände. Die Räume gingen ineinander über, Türen gab es nicht. Ein wunderschöner großer Essplatz in einem Erker, nicht weit davon, fast inmitten der Räumlichkeiten der Küchenbereich mit einem großen modernen Herd und einem mit Kohle beheiztem, auf dem große Töpfe standen. In diversen Regalen gab es unendliche Gefäße mit Gewürzen, die auch getrocknet unter der Decke befestigt waren. In den offenen Schränken gab es allerlei keramisches Geschirr, Küchenutensilien schön mit vielen frischen und trockenen Sträußen dekorativ angeordnet. Von der Küche führte eine steile Treppe nach unten.
„ Unten sind die Vorratsräume und unser Maschinenraum“, sagte Karla lachend, „wir sind auch modern, Karl ist ein großer Techniker und Bastler.“
Im Wohnbereich gab es gemütliche Sessel, Sofas mit Felldecken, großen Kissen, ein Klavier, auch andere Instrumente, alte, sehr schöne, große Bilder mit zum Teil abstrakten Motiven, sehr seltsam, ein wenig melancholisch wirkend, etwas düster. Teppiche lagen auf guten Holzdielen, ein paar Stufen führten in das Arbeitszimmer, einem geräumigen Bereich mit einer modernen großen Computeranlage. Im Innensektor des Haus gab es auch gewissermaßen einen Wellnessbereich, die Sauna, die in keinem finnischen Haus fehlt, sanitäre Einrichtungen, eine Ruhezone, darüber wölbte sich eine Glaskuppel, viele grüne Pflanzen.
Das Haus war mit vielen Lampen ausgestattet, Altes und Neues gut kombiniert, und es standen Kerzen in den unterschiedlichsten Leuchtern überall gut verteilt herum. Ein schönes Haus mit vielen Details, alle liebevoll mit außerordentlichem Geschmack zur Geltung gebracht. Es schien sich hier die Tradition mit der Moderne gepaart zu haben. Über allem lag eine unglaubliche Harmonie und Ruhe, aber auch ein Hauch von Melancholie und geheimnisvoller Kraft, die aus der Vergangenheit zu kommen schien. Die Frauen betrachteten stumm und beeindruckt dieses merkwürdige Haus, deren Inhalte und seltsamen Details sie nicht so schnell erfassen konnten.
Eine ganz besondere Ausstrahlung ging von der Küchenregion aus mit ihrer finsteren Treppe in den Keller, in den sie auch nicht geführt wurden.
„Wir sind ständig am Bauen, „ sagte Karla, „ganz besonders der untere Bereich ist noch lange nicht fertig. In der langen, eiskalten Polarnacht, wenn wir mitunter abgeschnitten sind, dann wird es immer lebensnotwendiger, dass alles funktioniert. Wir haben oft Gäste, müssen also mit allem gut versorgt und ausgestattet sein.“
Gila und Rina bedankten sich für die Hausbesichtigung und waren allerdings wiederum auch froh, wieder im Freien zu sein. Volker meinte, man müsse nun auch wieder aufbrechen, denn es war noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen. So gingen die drei den gleichen Weg zurück, winkten einmal freundlich zurück, um dann durch den kleinen hellen See zu schwimmen, genossen dabei noch einmal den unvergleichlichen Ausblick, dann stapften sie durch den weißen Sand, durch die Büsche zum Auto. Das finnische Haus würden sie nicht vergessen, insbesondere den untere Bereich nicht, den sie nicht besichtigen durften. Was mag wohl dort alles im Verborgenen schlummern, fragten sie sich immer wieder.
Texte: Cover Bild Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Auszug aus "Die Reise"