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Der Höhepunkt nach fünfzig Jahren



Es sind inzwischen unendlich viele Jahre vergangen seit ich das kleine Dorf verließ, um zu studieren, zu heiraten, Kinder zu bekommen, meinen Berufsweg zu gehen. Was alles in diesen schier unendlichen Jahren passierte, soll nicht Gegenstand dieser Erzählung sein, es würde den Rahmen sprengen.
Ich habe mich entschlossen das Dorf meiner Kindheit aufzusuchen, mein Mann sollte mehr wissen als nur ein paar Geschichten und ich wollte erfahren, wie ich diesen Ort mit den Augen einer Erwachsenen sehe und wertschätze. Natürlich sieht so ein Dorf nicht mehr so aus wie früher, das war mir im Voraus schon klar, dennoch so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Die Schule war nicht wieder zu erkennen, der damals ansehnliche Backsteinbau war schlecht mit grauem Mörtel verputzt und etliche Anbauten verschandelten das Haus. Im ehemaligen Dorfteich stand ein hässliches Haus, das sich „Ihre Kette“ nannte, offensichtlich ein Laden, der alles Mögliche zum Kauf anbot. Das Sozialgebäude, welches früher für viele Dorffeste Räumlichkeiten beinhaltete, war leer, absolut rott und mit Brettern vernagelt. Den größten Jammer empfand ich als ich das Schloss erblickte. Es war eine Ruine, die Stallungen und Scheunen neben der Hauptzufahrt ebenso. Der Park, die Teiche, nichts war wieder zu erkennen. Alles rettungslos verwildert. Traurig und enttäuscht bin ich durch das Dörfchen gegangen und resignierend musste ich es verlassen. Hier war nichts so wie früher. Es war nur schrecklich.
Am Ende des Dorfes angekommen, wollten wir schon diesem Ort schnell den Rücken kehren, da winkte mir eine alte Frau zu. Erstaunlicherweise rief sie meinen Namen als ich stehen blieb. Ich schaute ihr ins Gesicht und überlegte krampfhaft, wer sie wohl sein mochte. Wer wohnte gleich hier am Ende des Dorfes in diesem Häuschen?
Sie lächelte: „Ich bin doch Tante Hilde“, sagte sie. „Du kennst mich wohl nicht mehr, meine Liebe?“
Ja, doch, dachte ich hoch erfreut und ging auf die alte Frau mit ausgestreckter Hand zu. Meine Mutter gab dem Sohn von Tante Hilde früher Nachhilfeunterricht, jetzt wusste ich, wer sie war. Ich war hier dann und wann und erhielt immer ein Stückchen Kuchen, etwas Schmalzgebäck war immer da für mich. Tante Hilde stand auf, sie saß wie früher auf der Bank vor dem Haus, um ins Haus zu gehen. „Warte mal kurz!“ sagte sie freundlich. Kurz darauf erschien sie mit einem Teller auf dem ein paar Schmalzkuchen lagen, goldgelb in Zucker gewälzt. „Willst Du einen?“
Ich konnte nicht widerstehen und griff etwas verlegen grinsend zu.
„Du guckst jetzt wie früher“, meinte sie und forderte uns auf, sich mal kurz mit auf die Bank zu setzen. Sie fragte dies und das und hörte aufmerksam zu.
„Ja, hier hat sich auch allerhand entwickelt. Manches ist besser, vieles ist schlechter, nichts ist wie früher aber wir leben irgendwie und es muss ja auch immer weiter gehen. Du warst der Höhepunkt des Tages, “ sagte sie zu mir gewandt zum Abschluss und lächelte dabei wie früher. Das hatte sie zu mir als Kind auch immer gesagt und ich war dann furchtbar stolz.
Ich war der Höhepunkt des Tages, gerührt biss ich in den Schürzkuchen. Wer hätte das gedacht, ich war es immer noch…obwohl so vieles geschah…oder tragischerweise halt auch nicht…


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Tag der Veröffentlichung: 12.09.2010

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