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Das Dorf und Reini



Die Familie lebte schon ein paar Monate im Dörfchen. Sie waren aus Berlin direkt zugezogen und waren dabei, sich so allmählich einzugewöhnen. Für das kleine Mädchen gab es sehr viel Neues, zum Beispiel die kleine Dorfschule, in der sie bis zur sechsten Klasse von fünf Lehrern abwechselnd unterrichtet wurde. Die Besonderheit bestand darin, dass zwei Altersgruppen Unterricht in einem Raum erhielten. Die eine Gruppe hatte sich leise zu beschäftigen, während die andere dem Lehrer zuhören musste. Das war schon absonderlich, zumal auch einige überalterte Schüler auf den hinteren Bänken saßen. Sie waren mehrfach sitzen geblieben, hieß es. Reini gehörte auch zu diesen Schülern, alle nannten ihn Opi.
Reini wurde von seinem Opa erzogen, die Oma war schon gestorben und die Eltern ebenfalls. Der Opa hatte ein paar Schweine, Kaninchen, Hühner, Gänse, Enten und einen kleinen Garten. Er wohnte mit seinem Enkel in einer Schnitterkate. Bequemlichkeiten gab es nicht, weder ein Bad, geschweige denn eine Wassertoilette. Man musste auf ein Plumpsklo im Garten gehen.
Reini hatte vor der Schule viele Pflichten. Er musste die Tiere füttern und im Sommer oft noch ein bis zwei Stunden zum Rübenverziehen aufs Feld. Das war hart. Reini schlief mit dem Kopf auf der Bank und konnte dem Unterricht wenig folgen.
Manchmal hatte Reini an den Waden dicke Striemen und manchmal gab die Lehrerin ihm ein Sitzkissen. Das kleine Mädchen fand das sehr merkwürdig. Die anderen Kinder meinten, dass Reini dann vom Opa bestimmt wieder Schacht bekommen hätte. Warum, fragte sich das Mädchen? Warum bekommt Reini bloß andauernd Kloppe und warum muss er vor der Schule soviel arbeiten? Kinderarbeit ist doch verboten. Sie beschloss das dem Opa einmal zu sagen.

Lange dachte sie darüber nach, wie sie es anstellen müsste, um nicht am Ende auch noch Senge zu beziehen, was sie als sehr schlimm aber eigentlich als unmöglich wähnte. Die anderen Kinder machten einen Bogen um den Opa und hielten gar nichts von der Idee, mit dem Alten zu sprechen. Der würde sofort schreien und seinen Gürtel schwingen, um sie zu verdreschen, so wie er es immer mit Reini tat, sagten die Kinder.

Das kleine Mädchen hatte Mitleid mit Reini, denn sie selber brauchte weder vor der Schule noch nach der Schule zu arbeiten. Sie war immer ausgeschlafen und konnte aufpassen, sie durfte nach den Schularbeiten spielen und war nur für die Ordnung in ihrem kleinen Zimmer zuständig, welches sie mit der Schwester teilte. Die Mutti war als Lehrerin tätig und genoss großes Ansehen. Der Opa würde es bestimmt nicht wagen, ihr etwas zu tun.
Sie musste etwas unternehmen, sonst würde Reini wieder sitzen bleiben. Am Ende würde er ewig auf der letzten Bank im Klassenzimmer hocken und schlafen, von dem Sitzkissen ganz zu schweigen.

Reinis Opa saß am Sonntag auf der Bank vor seiner Kate und rauchte. Reini war Löwenzahnstechen für die Karnickel. Der Opa sieht gar nicht so böse aus wie er so dasitzt, dachte das kleine Mädchen und stellte sich mit etwas Abstand vor ihm hin. „Guten Tag“, sagte sie laut. Der Opa schaute sie erstaunt an. „Tach auch“, antwortete er und wartete.
„Ich wollte Reini ein bisschen bei der Arbeit helfen“, sagte sie fest. Der Opa schaute noch erstaunter. „Warum?“ fragte er nun.
„Weil er immer so müde ist und gar nicht in der Schule richtig aufpassen kann und ich muss ja nicht morgens und abends arbeiten und Reini soll nicht noch einmal sitzen bleiben,“ sprudelte das Mädchen heraus, ging aber vorsichtigerweise einen Schritt zurück.
Der Opa runzelte die Stirn und sagte eine Weile nichts, schaute kurz auf seine Taschenuhr und zeigte anschließend in Richtung des Hausgartens. „Er ist da hinten.“
Das kleine Mädchen ging zu Reini in den Garten und zupfte mit ihm Butterblumenblätter bis der Korb voll war. Der Junge verzog keine Miene, sagte aber anschließend: „Dankeschön!“ Das kleine Mädchen hopste davon und freute sich. Sie hatte dem Opa alles gesagt und Reini ganz viel geholfen. Jetzt würde alles gut werden, dachte sie.

Am nächsten Tag erschien Reini nicht in der Schule. Zwei Polizeiautos erschienen am Abend im Dorf und standen vor der Kate, in der der Opa mit Reini wohnte, ein geschlossener Zinksarg wurde heraus getragen und in ein drittes größeres Fahrzeug geschoben.
Die Leute erzählten, dass er mit einem Brotmesser in der Brust in seinem Bett aufgefunden wurde. Die Nachbarin hatte vorbei geschaut, weil die Schweine nicht gefüttert wurden. Sie beobachtete immer alles. Reini war verschwunden.
Manche Leute widersprachen. Sie meinten der Opa wäre einfach so gestorben, er hätte es ja mit dem Herzen.
Aber wo war Reini? Im Nachbardorf brannte in der folgenden Nacht eine Scheune gänzlich nieder. Man fand etwas später die verkohlten Reste eines Ruck-
sackes, einer Gürtelschnalle und einer Taschenuhr. Das Gerede nahm kein Ende und Reini blieb ver-
schollen.



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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2010

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