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Das Dorf und Hansi



Vor fast fünfzig Jahren war sie aus der großen Stadt Berlin als kleines Mädchen mit den Geschwistern und Eltern im Dörfchen angekommen und verbrachte unbeschwerte Kindertage.
Vierhundert Seelen lebten ruhig und zufrieden, arbeiteten in der Regel bis auf wenige Ausnahmen in den Ställen und auf den Feldern. Es gab ein ehemaliges großes Gutshaus, in dem viele Familien nach dem Krieg eine Wohnung fanden. Ein breiter Zufahrtsweg mit Kopfsteinpflaster führte zum Haupteingang des Hauses, rechts und links waren die Stallungen und Lagerräume, im hinteren Teil des Gutshauses befand sich der Saal. Man nutzte ihn für Festlichkeiten und für Kinovorführungen. Hinter dem Gebäude hatte man früher verschiedene sehr schöne Teiche angelegt, in denen man bei Bedarf im Sommer auch badete oder im Winter Schlittschuh laufen konnte. Das war nicht schlecht und sehr unterhaltsam, zumal sich unmittel-
bar hinter den Teichen ein parkähnliches Gelände ausdehnte, welches ebenfalls für Festlichkeiten gerne genutzt wurde. Für Jung und Alt gab es somit kaum Grund für Langeweile.

In diesem Dorf gab es zudem eine Schule, eine Kirche und das Sozialgebäude, in dem man das Mittagessen für wenig Geld einnehmen, Bücher ausleihen, den Friseur aufsuchen (einmal die Woche) und sich zu den diversen Dorffesten nach den Klängen einer dorfeigenen Combo im Tanze vergnügen konnte. Vieles war hier möglich, sogar ein Zimmer für Gäste war hier für den Notfall zu mieten, kein Problem. Man war stolz auf den kleinen Laden, der alles Wichtige im Sortiment führte, für das Große musste man sich halt in die Stadt bemühen. Der Bus fuhr einmal am Tage hin und am Nachmittag zurück. Das war in Ordnung, fanden die Dorfbewohner.

Die Welt schien einigermaßen in Ordnung bis Hansi sich im Dorfteich ertränken wollte.

Hansi war einer der Lehrlinge, die in dem Haus am Teich wohnten. Er wurde zuweilen ein wenig gehänselt, weil er anders war, weil er die Mädchen nicht so liebte wie es sich in seinem Alter gehörte. Nein, er suchte schon auch ihre Nähe, ihre Freundschaft, er liebte sie jedoch irgendwie anders, schien es. Er wollte so sein wie sie. Dann und wann zog er sogar ganz gerne Mädchenkleider an, denn er wäre gerne selbst ein Mädchen, viel lieber als ein Junge und er sang leidenschaftlich Schlager, kannte jeden Text und wusste genau, was Mode war, welchen Tanz man tanzte und wer mit wem ging. Er konnte sehr gut nähen und stricken auch.
Die Jungs hielten ihn für reichlich meschugge.

Hansi war eigentlich einer der Lustigsten. Die Mädchen mochten ihn. Natürlich nicht für die wirkliche Liebe. Dafür schien Hansi kaum brauchbar, glaubten sie. Doch da irrten sie sich wirklich, denn Hansi würde ein Mädchen glücklich machen können, wenn sie nur wollen würde. Das wusste er und er hatte sich auch schon eines der Dorfmädchen ausgespäht. Es wusste nichts von Hansis Interessen, Neigungen und Plänen. Das erwählte Mädchen lachte manchmal ein bisschen mit und über Hansi, wie es halt alle taten. Hansi sagte nichts aber er merkte, dass sie auch über ihn lachte. Das tat weh, denn er wusste eigentlich nicht warum. Er war freundlich, immer gut gelaunt, wenn Menschen in seiner Nähe waren, er war hilfsbereit und freigiebig, ehrlich und redete niemals hinter dem Rücken anderer. Hansi war ein guter Junge.

Eines Tages fasste sich Hansi ein Herz und fragte das Mädchen, warum es immer so komisch lacht, wenn er allen etwas vorsang und sich dabei manchmal ein Kleid anzog, um den Schlagersängerinnen ähnlicher zu sein. Er wollte es nur besonders gut machen und ihr, nur ihr wirklich gefallen.
„Du hast eine Meise Hansi“, sagte sie und tippte an seine Stirn, “aber du gefällst mir nicht so, na du weißt schon. Ich kann niemals mit dir gehen, falls du das irgendwie denkst. Du bist behämmert aber du bist witzig, deshalb lachen wir.“

Hansi war von dem, was das Mädchen sagte, sehr betroffen. Er war völlig deprimiert. Er war tödlich getroffen. Das hätte er nicht gedacht. Hatte er doch immer geglaubt, man würde ihn mögen, wenigstens die Mädchen, die ja nicht so gemein waren wie die Jungs, die von Haus aus gemein waren.

Es ließ ihm fortan keine Ruhe mehr, was sie sagte. Er hatte also eine Meise und war behämmert, kein Mädchen würde deshalb je mit ihm gehen, er würde alt und einsam sterben. Er würde einsam sterben, behämmert und mit einer Meise. Hansi fand die Gedanken daran täglich unerträglicher. Und wie er wieder einmal in dem Haus am Teich alleine im Zimmer hockte, aus dem Fenster starrend, erblickte er eine Ente, deren Kopf im Wasser des Teiches verschwunden war. Er stand auf, ging aus dem Haus und schnurstracks in den Teich hinein. Es war Feierabend, die Jugendlichen saßen auf den Bänken am Teich und lachten.

Das kleine Mädchen stand rein zufällig auch am Teich um den Enten zuzuschauen. Sie sah Hansi, wie er in den Teich marschierte. Mit Sachen! Alle lachten. Hansi war in der Mitte des Teiches angekommen. Es war nicht sehr tief, nicht tief genug. Er bückte sich, um den Kopf ins Wasser zu stecken. Alle lachten. Hansi blieb lange unter Wasser. Das kleine Mädchen entschloss sich zu schreien. Sie rief „Hansi, Hansi, du musst jetzt wieder auftauchen!“
Es dauerte noch ein bisschen, dann kam er hoch…und fiel um. Das kleine Mädchen schrie nun noch lauter. Die anderen lachten immer noch aber einer sprang in den Teich, um Hansi heraus zu holen. Hansi weinte leise vor sich hin, ließ sich aber an Land führen. Er trottete ins Haus. Er hatte gesehen, dass sein Mädchen auch gelacht hat.

Am nächsten Morgen fand man Hansis leblosen Körper im Hofteich, der ein wenig tiefer war. In der Mitte konnte Hansi nicht mehr stehen. Nun lachte keiner mehr über Hansi.

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Tag der Veröffentlichung: 11.09.2010

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