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Erinnerungen an Papa



Wir nannten ihn immer so, auch mit über Fünfzig noch. Die vertraute Anrede blieb bis zu seinem für mich sehr schlimmen Tod. Ich weiß nicht wie er sein Altern, seine Krankheit wirklich wahrgenommen hat. Demenzkranke sind schwierig.

Mein Vater war kein religiöser Mensch, ganz im Gegenteil. Er sagte immer, dass es ihm egal sei, was geschähe, wenn er tot ist. Er würde leben so gut er kann und was die Erben angeht, die sollen mal für sich selber sorgen. „Nach mir die Sintflut“, sagte er.
Wir sind drei Schwestern und wir teilen seine Ansichten, also ich zumindest. Etwas zu erben, ist für mich nicht wichtig. Die Eltern sollen unbedingt ihr erarbeitetes Vermögen genießen und sich nichts vom Munde absparen für die Kinder. Nein, das wirklich nicht. Eltern sind nicht bis ins Grab ihren Kindern oder Enkelkindern verpflichtet. Das ist meine Meinung. Was sie diesbezüglich tun oder lassen ist ihre alleinige Entscheidung. Vorwürfe oder Forderungen der Nachfahren in diesem Bereich halte ich für unangemessen.

Papa erhielt ein anonymes Begräbnis. Seine Asche ruht in einer Urne auf einer Wiese. Ich bin seither nie wieder dort gewesen. Das mag für viele Menschen absurd und herzlos oder gar kalt klingen aber es scheint nur so.

Ich liebte meinen Vater und habe ihn nicht vergessen. Fast jeden Tag denke ich an ihn und stelle fest, dass ich in vielen Punkten wie er bin, nämlich ruhig, besonnen, nachdenklich aber nicht ohne Humor, gutmütig, ironisch, dickköpfig, ein wenig luschig, das aber niemals bei der Arbeit im Beruf, pünktlich, bemüht das Beste aus allem zu machen aber handwerklich unfähig, tierlieb, pazifistisch, atheistisch. Mal abgesehen davon, dass ich meinem Vater äußerlich immer ähnlicher werde.

Immer noch erinnere ich mich oft, was er mochte, was er ablehnte. Wie er sich da oder dazu jetzt äußern würde, stelle ich mir vor. Gerne würde ich ihn befragen, mit ihm lachen. Viele Themen hätte ich mit ihm heute besprochen. Warum ich dieses nicht schon zu seinen Lebzeiten getan habe, fällt mir schwer zu beantworten. Auf alle Fälle gibt es dafür keine Entschuldigung.

Mein Vater war ein politischer Mensch. Er war Mitglied der SED (ich dagegen nie), und ich bin mir nicht im Klaren darüber, wie verbunden er mit den Dogmen seiner Partei war. Er traktierte uns nicht mit seinen Anschauungen. Wir sprachen Zuhause nicht über Politik, vielleicht auch, weil Mutti sich dafür überhaupt nicht interessierte.
Ich denke aber, dass Papa auf alle Fälle links gerichtet dachte. Politisch aktiv war er nicht aber in gewisser Weise polarisiert.
Mein Vater schien mit der Zeitung verwachsen. Manchmal dachten wir, er würde sich dahinter verstecken, wollte dann in Ruhe gelassen werden. Er las überhaupt sehr viel. Er liebte große Literatur und klassische Musik. Mitunter hörten wir enorm laute Musik berühmter Komponisten durchs ganze Haus tönen. Wir nahmen es hin, keiner störte ihn. Manchmal hatte er aber auch Lust leichte Operetten-
töne zu genießen, dann durfte man schon einmal dazwischen platzen und Witze darüber loslassen. Papa war musikalisch, er konnte sehr gut singen und zur Not sogar Blockflöte spielen. Ich hasse Blockflöten. „Krampusmusik, furchtbar“, lautet mein hartes Urteil.

Ich denke, Papa war trotz seines ruhigen Wesens ein geselliger Typ. Früher auf den Dorffesten, als er noch Hauptbuchhalter des VEG war, tanzte er sogar mit mir und mit anderen Frauen aus dem Dorf. Er war ein sehr guter Tänzer. Mutti war immer irgendwie kränklich, konnte und wollte nicht so wild. Übrigens im Chor, den meine Mutter leitete, sang er auch mit. Das war früher, ich war damals Pennälerin, eine Schülerin der erweiterten Oberschule, wie es korrekt heißt. Mein Vater war ein sehr guter Rechner und liebte die Mathematik, das hat er mir leider nicht mitgegeben aber geholfen hat er mir dabei immer, auch später noch im Studium bei der höheren Mathematik. Er nahm sich die Zeit, wenn ich mal Zuhause war, denn ich lebte ja in Internaten.

Wie gesagt, Papa war ein ruhiger Mensch, meine Mutter führte meistens am Tisch das Wort. Sie war Lehrerin. Das besagt alles. Lehrer hören sich, schon vermutlich wegen ihres Berufes, gerne reden. Sie können es augenscheinlich schwer ablegen. Papa schwieg meistens. Er wird seine Gründe gehabt haben.
Ein Hausmann war er eher nicht. Papa konnte weder kochen noch backen, die Hausarbeit interessierte ihn überhaupt nicht. Es war meist eine Haushaltshilfe tätig, denn Mutti war immer körperlich schwach, Inhaberin einer Pflegestufe im Alter. Ich war ja auch da mit meiner Familie (unser Haus wurde angebaut). So funktionierte es in Papas Augen wohl ganz gut. Gutes Essen war ihm wichtig. Gesottenes und Gebratenes wollte er haben und wenn es geht, jeden Tag Kuchen zum Kaffee. Papa war ein schlanker Typ, der sich so etwas leisten konnte. Natürlich nicht sein ganzes Leben.

Er musste wie alle früher, im Krieg und nach dem Krieg, auch sehr schlimm hungern, mit großen Entbehrungen leben.
Über die schrecklichen Kriegserlebnisse, die er ohne Zweifel hatte, sprach er eher nicht. Es gab nur Andeu-
tungen. Mein Vater war als Sanitäter an der Front und später in französischer Gefangenschaft. Wie er da hingelangt war, ist mir leider nicht bekannt. Papa erzählte nur Episoden, die fast witzig klangen. Mit dem Schlimmen wollte er niemanden belasten, sagte er.

Papa hat als Fünfzehnjähriger eine Lehre als Bankkauf-
mann absolviert, später ein Fernstudium zum Diplom-Binnenhandels-Ökonom und das mit drei Kindern. Meine ältere Schwester ist von Papa adoptiert worden.
Das Studieren war sicher nicht einfach, denn der Lebens-
unterhalt der Familie musste nebenbei verdient werden. Meine Mutter war wegen der Kinder nicht berufstätig. Ihre Lehrertätigkeit konnte sie erst später wieder aufnehmen. Dennoch haben wir als Kinder, so meine Erinnerung, nichts entbehrt. Wir waren halt mit wenig zufrieden und auch glücklich. Wir hatten in Berlin-Karlshorst einen Garten, einen Hund, was will man mehr.

Papa ging mit Mutti in Berlin trotz wenig Geld, gerne ins Theater, auch ins Kino, sogar in Westberlin, was ja vor dem Mauerbau leicht möglich war. Er verkaufte im Rahmen seiner Parteitätigkeit vor Weihnachten in Groß-Berlin Weihnachtsbäume. Immerhin, eine Aktion!

Viel Zeit hatte Papa nicht für uns Kinder, doch manchmal spielte er mit uns Mühle, Dame, Halma, mit mir Schach. Das war etwas Besonderes. Abends sehe ich ihn noch am Radio hocken und Sendungen wie „Pinsel und Schnorchel“ lauschen. Das war so etwas Ähnliches wie politische Satire, glaube ich, und „Es geschah in Berlin“, eine Krimihör-
spielreihe. Einen Fernseher hatten wir erst sehr spät.

Wir sind nach Mecklenburg gezogen in ein Dorf mit vierhundert Seelen und das aus Berlin kommend. Für die Familie wäre das gut, hieß es. Man würde besser verdie-
nen, Mutti könnte wieder unterrichten, denn es gab einen Kindergarten und alles wäre auf dem Lande überhaupt viel gemütlicher und freier. Ich denke, mein Vater ist einem Parteiauftrag gefolgt. Für uns Kinder war es wirklich eine gute Entscheidung und für meine Eltern vermutlich auch, denn sie engagierten sich sehr für das kulturelle Leben im Dorf, waren unglaublich geachtet.

Papa hat immer als Hauptbuchhalter gearbeitet, war Vertrauensperson der Betriebsführung, auch Geheimnis-
träger, er war korrekt, genau und verlässlich.
Ein kumpelhaftes Verhältnis mit den Leuten war eher undenkbar. Ich denke, er hielt Distanz für besser. Mit dem Vorgesetzten hatte er hin und wieder Differenzen, meinte Mutti. Er hatte sicher dafür triftige Gründe. Mein Vater war ein sehr guter Rhetoriker, zuhause hielt er sich zurück, redete niemals gestelzt. Im Beruf wusste er sich zu behaupten und sehr gut auszudrücken, ruhig, kompetent, verständlich.

Nach der Wende stand auch für meinen Vater die Welt offen. Er bezog eine recht ordentliche Rente, die ihm viele Reisen in die Welt ermöglichte. Mutti ist nur anfangs ein bis zweimal mitgefahren, dann war es ihr zu anstrengend. Papa reiste alleine und er genoss es. Manchmal brachte er mir etwas Schönes mit. Nun, ich hatte auch viele Pflichten im Haus und Garten zu erfüllen, hatte mir ein Mitbringsel quasi verdient. Geschenke machen konnte er aber nicht wirklich. Ich glaube Papa war auch ein wenig geizig und ein Buchhalter bis zum Schluss. Er führte ein Haushalts-
buch und alles auf den Pfennig genau. Darüber konnte ich nur schmunzeln.

Über seine Vergangenheit, seine Familie sprach mein Vater nur sehr sparsam und nur nach Aufforderung, dann erzählte er stets Dasselbe. Somit weiß ich hier so gut wie gar nichts. Ach, hätte ich doch mehr gefragt.

Das eheliche Leben meiner Eltern war für mich tabu. Es schien immer sehr in Ordnung, man stritt sich nicht, ging respektvoll miteinander um. Körperlichkeiten sahen wir äußerst selten, man umarmte sich nicht, Zärtlichkeiten tauschte man vor den Kindern sowieso nicht aus. Dennoch vermeinten wir immer, dass alles in Ordnung sei, dass meine Eltern eine gute Ehe führten, 50 Jahre lang. Plötzlich trennten sie sich. Papa zog aus unserem großen Haus aus. Er wohnte nun ganz woanders. Ich verstand nun nichts mehr, war wie vom Donner gerührt. Das Eheleben meiner Eltern bleibt tabu. Es war ihre Entscheidung und ich mochte nicht Partei ergreifen, mich nicht zwischen den Eltern entscheiden müssen. Es war ihr Wille. Ich war sehr, sehr traurig und betroffen. Papa liebte ich trotzdem. Doch was weiß ich wirklich? Die Frage stelle ich mir so oft vergeblich. Ich kann nun nichts mehr nachholen und werde keine Antworten erhalten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Gedanken widme ich meinem Vater

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