Keiner merkt etwas
Sie beginnt mit sich selber zu sprechen.
„So ein schöner Tag, ich hab’ mir extra den Strohhut aufgestülpt und ein Kleid angezogen, welches an der Figur keine Zweifel aufkommen lässt und trotzdem stehe ich hier und warte, was sicher reichlich blöd wirkt auf jeden, der hier vorüber geht…wie bestellt und nicht abgeholt eben.“
Sie ist erbost, über sich selber, über ihn, über die vertane Zeit. Er liebte es, wenn sie ihn erwartete.
Ein leichter Wind lässt ihr blondes Haar ins Gesicht fliegen, das Kleid ist ein wenig durchsichtig. Die Nachbarin gegenüber hat es kopfschüttelnd bereits missbilligt, denn ihr Gatte machte sich im Vorgarten rein zufällig zu schaffen und bekam wie immer Stielaugen. Die Frau mit dem Strohhut musste deshalb schon wieder grinsen, denn sie hatte die Reaktion der Nachbarn amüsiert registriert.
Typisch, die Alte gönnte ihrem Mann rein gar nichts. Da kam sie schon angewackelt und scheuchte den armen Mann ins Haus.
„Nö, so würde sie sicher nie sein. Eifersucht mag ja normal sein aber bitteschön in Grenzen“, dachte sie und stand immer noch unterhalb der Haustürtreppe auf dem Bürgersteig. Um nicht so linkisch und unsicher zu wirken, verbarg sie die eine Hand in der Tasche des Kleides und legte die andere Hand auf die Säule neben der Treppe, die sich sehr warm anfühlte, denn es war warm. Es war Sommer. Sie liebte den Sommer. Sie liebte es, leicht bekleidet herumzulaufen. Was ist dabei, alle tun es, die nicht so prüde sind wie gewisse Leute. Außerdem wollte sie ihm gefallen. Sie wollte ihm unbedingt gefallen. Er war ein toller Mann, glaubte sie.
Jetzt hörte sie endlich das bekannte Motorengeräusch seines Autos und beobachtete wie er ausstieg, noch einen Blick in das eigene Spiegelbild im Autofenster warf, seine Reisetasche vom Rücksitz nahm und schließlich sie nun endlich zu bemerken geruhte aber er lächelte nicht. Komisch! Was hatte er? Sie winkte ihm zu und ging ihm ein paar Schritte, nun doch erfreut, entgegen. Es war Freitag, das Wochenende stand bevor, das Wetter war super, sie würden zwei Tage miteinander verbringen können.
„Dein Kleid ist durchsichtig“, sagte er zur Begrüßung. „Der Nachbar wird’s gesehen haben!“ Er schien darüber verärgert, entschloss sich aber trotzdem ihr einen kleinen Kuss zu geben. „Du hast Lippenstift aufgelegt?“ meinte er noch und er sah sie an als wäre das sehr verwerflich.
„Ich wollte für dich schön sein“, sagte sie allmählich ärgerlich werdend. Er kam später als vereinbart und machte ihr nun auch noch diese lächerlichen Vorwürfe.
Es war ja nicht das erste Mal, dass er so reagierte, wenn sie sich hübsch machte und bemerkte, dass dieses auch andere Leute sahen. Er sah in jedem Mann einen potenziellen Nebenbuhler. Heiß kam es ihm hoch, wenn er sich vorstellte, dass seine Freundin anderen Männern gefiel und sie es womöglich auch noch genoss. Vermutlich flirtete sie deshalb immer, um ihn zur Weißglut zu bringen. Sicher macht sie sich nur deshalb so zurecht. Er hatte eine Mordswut und wusste diese kaum zu verbergen, dabei hatte er sich so sehr auf dieses Wochenende gefreut.
Sie stand da in ihrem weißen, etwas transparenten Kleid, braungebrannt und lächelte ihn an. Der rote Lippenstift leuchtete. Sie ahnte nicht, was wirklich in ihm vor sich ging.
Sie ist schuld.
„Komm ins Haus“, ordnete er an. Die hohe grüne Haustür stand noch offen. Er ergriff ihren Arm und schob sie vor sich her. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen. Die Tür fiel ins Schloss. Die Fenster wurden kurz darauf rechts und links der Haustür geräuschvoll geschlossen. Keiner würde etwas hören.
Sie ist schuld.
Keiner merkt etwas.
Texte: Bild Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2010
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