Etwas Wichtiges vergessen
Sie hatte seit geraumer Zeit so ein seltsames Gefühl. Jeder kennt es, denn fast jeder hat es schon einmal unangenehm verspürt. Es ist das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
So durchstreifte sie das ganze Haus, den Garten, die Nebengebäude, um dieses vermeintlich Vergessene zu entdecken. Dieses blieb hartnäckig im Verborgenen. Sie war schon ziemlich kribblig, denn die Reise stand bevor. Nein, keine Reise, ein Umzug. Also eine ganz riesige Sache, mit der auch eine große Reise in ein neues Leben verbun-
den war. Das Land sollte von Nord nach Süd mit allem Hab und Gut im Gepäck durchquert werden. Man darf also nichts Wichtiges vergessen.
Sie hatte sich wochenlang vorbereitet, die Familie, die erwachsenen Kinder waren geteilter Meinung, mussten sich aber zähneknirschend ihrer Entscheidung beugen. Sie wollte in ein Abenteuer abdriften, alles aufgeben, verkaufen, auflösen, wegwerfen. Sie wusste, was sie plante: den Neubeginn! Alle waren versorgt, kamen allein zurecht. Der Hund war in guten Händen, die Katze würde der Nachfolger nehmen, das Haus war verkauft, die Oma würde mit ihr gehen.
Der Freund würde beim Umzug helfen. Seinetwegen das Abenteuer, die große Liebe vermochte ihrer Entscheidung den nötigen Optimismus zu verleihen. Sie beflügelte das waghalsige Unterfangen. Das alte Leben wanderte in den Sperrmüll. Wirklich, denn die neue Wohnung war nicht so groß, um das Mobiliar eines ganzen Hauses aufnehmen zu können. Manchmal hat sie beim Wegschmeißen ein bisschen geweint aber nur ein bisschen, denn was können wohl Möbel gegen die Liebe ausrichten. Nichts. Sie werden wertlos.
Als sie die Hundeleine mit Hund den neuen Besitzern in die Hand gab, versteinerte ihr Gesicht. Im Auto der Hunde-
züchter wartete ein Rüde. Ihre Hündin tänzelte aufgeregt.
Sie wird auch glücklich, dachte sie als sie das noch vorhandene Futter verschenkte.
Alles war vorbereitet, verpackt. Sie hatte aber ein seltsames Gefühl, etwas vergessen zu haben.
Am späten Abend wollte sie dem neuen Eigentümer die Schlüssel übergeben. Der erschien ohne seine Familie, seine Miene verhieß Unheil. Der notarielle Kauf würde annulliert werden, eröffnete er. Er hätte es sich anders überlegt, es gäbe plötzlich ein besseres Objekt, die Kosten müsse er wohl dafür tragen. Der Mann stand auf, versuchte ihr die Hand zu geben. Sie schaffen das schon.
Ihr Gesicht versteinerte. Sie nahm die Katze auf den Arm und dachte, was mache ich bloß mit ihr? Das neue Leben fing ja gut an.
Sie hatte vergessen, dass auch alles ganz anders kommen kann. Das geschieht immer wieder. Sie würde das nie wieder vergessen. Das neue Leben nahm jedenfalls seinen Lauf und sie mit ihm.
Texte: Ttelblattcover von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2010
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