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Die traumlose Frau



Sie hatte schon lange aufgehört zu träumen. Die Träume hatten sie verlassen. Nicht plötzlich, nein ganz allmählich, fast schleichend. Sie haben sich einfach hinweg gestohlen. Alle Träume hatten sich in Nichts aufgelöst.

Lange war ihr das nicht bewusst gewesen, denn sie hatte keine Zeit sich darüber zu wundern. Es waren immer ungeheuer viele Pflichten vorhanden und sie wurde durch diese komplett ausgefüllt. Da war kein Platz mehr für Träume.
Träume muss man jedoch pflegen, ihnen Zeit und Raum gewähren. Gibt man sich ihnen nicht hin gleich einem liebenden Partner, dann werden sie immer dünner, bis sie eben völlig weg sind. So einfach ist das.

Nun stand sie vor dem Nichts. Sie schaute eines Abends in den Spiegel und betrachtete ein wenig verwundert das nichts sagende, graue Gesicht, welches sie leer wirkend und abgrundtief müde anblickte.
„Das bin ich doch gar nicht“, murmelte sie, während sie sich mechanisch ihr Haar bürstete.
Sie begab sich langsam ins Bett und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.

Lange änderte sich nichts, alles war vorhersehbar. Ihre Lebensplanung schien abgeschlossen, ohne Träume. Sie funktionierte auch ohne diese.
Darüber wunderte sich niemand. Man erwartete stets, dass sie alles perfekt im Griff hätte. Das Leben musste klappen. Ob die anderen ihr nahe stehenden Menschen ihre Traumentleerung bemerkten? Nein, alle waren mit sich beschäftigt.

Eines Tages bemerkte sie, dass sie funktionierte fast ohne zu essen. Doch sie wusste, auf Dauer würde nichts zu essen, Schäden hervorrufen. So zwang sie sich das Nötigste zu sich zu nehmen, doch es schmeckte nicht. Der Genuss am Essen war ihr auch abhanden gekommen.

Eines Abends als sie sich ausgezogen hatte, warf sie einen zufälligen Blick in den Spiegel und erblickte nur einen dunklen Schatten. „Das bin ich doch nicht“, murmelte sie und begab sich teilnahmslos ins Bett. Doch der erwartete traumlose Schlaf blieb aus. Sie lag stundenlang wach, war aber todmüde.
Der Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen. Er blieb einfach fern, obwohl sie sich sehr viel Mühe gab einzuschlafen. Der Schlaf hatte sie also auch verlassen.

Eines frühen Morgens stand sie wie immer völlig entnervt, wie gerädert auf und versuchte, mit einer Tasse Kaffee den harten Tag zu beginnen. Sie rührte mechanisch in der Tasse. Plötzlich legte sie abrupt den Löffel weg, nahm die Tasche, setzte sich in das Auto, um zur Arbeit zu fahren. Es war der letzte Tag. Der Tag der Schlüsselabgabe.

Die von alten Bäumen gesäumte, vertraute Landstraße schien an diesem Tag kurviger als sonst. Eine der Kurven hatte sie nicht nehmen können…

Nachtrag:
Als sie blinzelnd Helligkeit wahrnahm und ein köstlicher Duft von frischem Kaffee ihre Nase berührte, hatte sie das Gefühl gleichwohl in einem, als auch aus einem Traum zu erwachen.



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Tag der Veröffentlichung: 09.04.2010

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