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Maler, Fotografen, Psychologen, Ärzte sowieso, schauen zunächst in die Gesichter der Menschen, um sie zu ergründen, um herauszufinden, wer hier vor ihnen steht, liegt oder sitzt.
Das Gesicht ist der Anfang einer langen Wanderung durch Täler und über Höhen, bis in die tiefsten Höhlen des menschlichen Körpers. Jede Ecke, jeder Winkel wird beleuchtet, ausgelotet und gedeutet. Das Interesse ist riesig und die Gründe dafür so unterschiedlich wie Unterschiede nur sein können.
Obwohl das Treiben mit und über den Menschen über Jahrhunderte währte, zuweilen bereits ausufert in jedweder Hinsicht, ist der Mensch noch lange nicht erkannt und vollends ausspioniert. Ja, man hat da so einige Verallgemeinerungen gefunden aber die Individualität bleibt erhalten. Dank unseres Gesichtes. Nein, natürlich dank unserer DNA, dank unserer Fingerabdrücke, dank unserer Augen. Zum Glück! Und noch.
Wenn ich auch das dumpfe Gefühl nicht loswerde, dass wir immer mehr zur Nummer werden und dies trotz unseres einzigartigen Gesichtes. Vermutlich geht es auch nicht anders. Jedes Dokument, welches unsere Identität nachweist, hat eine Nummer und man ist damit irgendwo gelistet. Jeder weiß, wie viele Chips, Ausweise, wie viele geheime Wörter, Identnummern, Codes, Pseudonyme, Tan und Pins man braucht, um sich einzuloggen, um kaufen zu können, um mitzumachen, nötig sind. Jeder Quarkbecher hat Nummern, die uns verwirren oder inzwischen absolut kalt lassen. Die Welt ist eine Nummernwelt. Ich bin kaum erschrocken, eher gelassen, denn man ist dem Ganzen einfach ausgeliefert. Man merkt es, wenn die Papiere abhanden gekommen sind, wie auch immer. Das kostbare Mäppchen mit allen Ausweisen und Kreditkarten ist weg. Dann stehen wir Kopf, müssen reichlich zappeln und bluten bis wir wieder nachweisen können, dass wir es sind. Unser gutes Gesicht nützt uns dabei überhaupt nicht. Wir brauchen Papiere mit gültigen Nummern, ansonsten sind wir Freiwild. Das ist die eine Seite, die amtliche und somit furchtbar wichtige.

Doch es gibt noch andere Augenblicke, die uns eigentlich noch viel bedeutsamer erscheinen, weil hier Entschei-
dungen getroffen werden, die unser Leben verändern und zwar grundlegend. Ein gültiger Ausweis, das Vorhanden-
sein aller Chips, die allerbeste Hausnummer nützen in dem Fall erst einmal gar nicht. Die Nummernwelt tritt zurück, zumindest für einen Augenblick und dies im wahrsten Sinne des Wortes.
Wenn zwei Menschen sich begegnen, wenn sie sich anschauen, wenn sie ihr Gesicht betrachten und das Signal kommt, der oder die ist es, dann denkt man nicht: „Oh, hat er auch einen gültigen Ausweis?“ Nein, davon wird der Funke nicht beeinträchtigt. Das kommt eventuell alles erst viel, viel später. Alle Nummern der Welt werden in unterschiedlichster Reihenfolge erst so nach und nach wieder zur Geltung gebracht, was natürlich von Fall zu Fall auch dramatische Folgen haben könnte. Dann geht die Suche weiter nach dem richtigen Gesicht und alles beginnt aufs Neue.
Damit habe ich leider noch nicht geklärt, was nun mehr Bedeutung hat, unsere Identität oder der Augenblick der schicksalhaften Begegnung?

Ja, ist denn diese Frage überhaupt wichtig und könnte sie jemanden interessieren? Zunächst frage ich mich dies, als alle Papiere gestohlen waren und man merkt, was man ohne sie bewirken kann, nämlich gar nichts. Die Legiti-
mation in einer Gesellschaft ist damit wohl auf Deutsch gesagt im Arsch. Man kann und darf sich von der Num-
mernwelt nicht entfernen, man muss sich damit abfinden, dass man einfach ein ganz kleines Nümmerchen in dieser Welt ist und nicht einen Deut mehr. Das System der modernen menschlichen Gesellschaft baut sich darauf auf und wir sind ein Bestandteil. Immerhin!

Trotzdem bin ich so froh, dass es diesen anderen Augen-
blick, den Blick ins Gesicht, erst recht den zweiten und dritten Blick in das Innere noch gibt und sich daraus so viel entwickeln kann, was außerhalb jeder Identitätsnach-
weise in wunderbarer Vollendung abläuft, wenn man Glück hat. Nämlich genau daraus schöpfen die Menschen die Kraft, die nötig ist, um sich in der Nummernwelt zu recht zu finden. Vielleicht ist diese Form ja der einzig wahrhafte Identitätsnachweis, den man allerdings nicht jedem x-beliebigem Kontrolletti geben möchte. Deshalb also diese ganze Nummernarie. Es geht nicht anders. Man kann nicht jedem in die wahre Identität Einblicke gewähren. Da sind wir pingelig, aber die Regierung möchte immer mehr. Aus Sicherheitsgründen, sagen sie. Sie wollen am liebsten wissen, was wir denken. Irgendwann gibt es dafür den passenden Chip. Die ganz große Nummer. Davon bin ich überzeugt, aber ich werde das Desaster nicht erleben, diesen Fluch der seelenlosen Technisierung.

Ungleich leichter haben es die Tiere, die gesellschaftlich leben. Sie haben keinen Ausweis und müssen sich keine Nummer merken, die zu einem Login führt, doch sie leben auch geordnet und es gibt Regeln und Rangordnungen. Jeder weiß, was er darf und was nicht. Jeder hat seine spezielle Aufgabe zu erfüllen und genau das passiert auch, ohne jede Nummer. Die Sache funktioniert, scheinbar reicht hier das Sehen des Gesichtes oder des Körpers. Man betrommelt sich kurz mit den Fühlern und Wupp, man weiß, wen man vor sich hat. Es heißt ja, dass die Tiere nicht denken können, somit will auch niemand wissen, was so eine Ameise denkt. Die Gefahr eines heimtückischen Terroranschlages besteht nicht. Man schützt sich nur vor den natürlichen Feinden so gut es geht.

Nun, ich möchte deswegen nicht unbedingt in einem Ameisenvolk leben, auch nicht in einem Bienenstock aber über verloren gegangene Papiere muss sich hier gewiss keine Biene Sorgen machen, aber sie muss ja auch nicht zum Automaten, um sich Geld zu holen damit sie nicht verhungert und einen Führerschein, um von A nach B zu fliegen braucht sie auch nicht.
In der großen Welt der Nummern zu leben oder besser gesagt, leben zu müssen, ist nicht ganz einfach und es wird immer komplizierter, sich rauszunehmen. Die Zahlen-
kombinationen markieren unsere Wege, Computer finden unsere Worte, orten die Geschäfte, die wir aufsuchten, um ein Paar lausige Socken zu erwerben.
Über den gesetzlich zugestandenen Datenschutz lachen die Hühner, denn es gibt keinen, auch wenn die Großen ständig lauthals darüber gackern. Hin und wieder muss mal einer Farbe bekennen und nach längerem Drängen, bekennt der Übeltäter sich auch schuldig, entschuldigt sich sogar mit Krokodilstränen im Auge aber es wird weiter belauscht was das Zeug hält.

Die Angst ist groß, dass die menschlichen Ameisen, sich in ungewünschte Richtungen bewegen. Und hin und wieder tun sie das sogar, wenn auch oft von skrupellosen Leuten dafür missbraucht.

In der Welt der Nummern zählt ein Gesicht nicht. Das ist traurig aber nicht zu ändern.
Nachdem ich leider zu diesem Schluss kommen musste, beschließe ich, wieder Gesichter zu malen. Grade und ganz bewusst deshalb.
Denn ein Gesicht und das, was dahinter steckt, sollten nie an Bedeutung verlieren.







Das Gesicht verschwimmt....

Impressum

Texte: Bilder von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009

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