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Die Treppe



Moni möchte eigentlich gar nicht nach oben. Sie ist bodenständig und weiß, wo sie hingehört. Doch einmal konnte sie es wirklich nicht vermeiden, dennoch eine Treppe nach oben zu steigen, so verlockend erschien das, was sie oben vermutlich erwarten würde.
Die Treppe mutete wie eine uralte Schlosstreppe an, die vielleicht in eine wundersame Märchenwelt führte, in der man wahrscheinlich seine Sorgen vergisst und der Alltag nicht mehr grau ist.
„Ja, es gibt dort ganz sicher keinen Alltag. In den Märchen ist ja schließlich auch nie vom Alltag die Rede“, dachte Moni hoffnungsvoll.
Manchmal glaubte sie an die Existenz von Märchen, wenn auch höchst selten. Das letzte Mal war sie noch ein kleines Mädchen und sie war damals davon überzeugt, dass es ein Dornröschen gäbe und der gute, mutige Prinz sie wach geküsst hätte. Später irgendwann hatte sie dann doch alles wieder verworfen. Gute, mutige Prinzen gab es einfach nicht und zum Wachwerden klingelt unbarmherzig und brutal der unmögliche und verhasste Wecker.


Märchen sind einfach nur gut zum Einschlafen. Mehr steckt da bestimmt nicht dahinter. Sie hatte ihren Kindern immer welche zur Nacht vorgelesen. Die Kinder konnten allerdings davon nicht genug bekommen. Nun las sie bereits ihrem Enkel vor.

Moni stand nun klopfenden Herzens vor der Treppe und zögerte.
„Man kann eigentlich nicht einfach nach oben marschieren, alles neben und hinter sich lassen, ohne zu wissen, ob es oben auf der Treppe wirklich so märchenhaft, so märchenhaft schön ist. Am Ende gibt es wieder eine herbe Enttäuschung“, gab ihr Verstand zu bedenken.
Moni presste die Lippen zusammen. Sie fühlte sich aber trotz ihrer aufkommenden Zweifel von dieser wundersamen Treppe und dem hellen Licht nach der letzten Stufe fast magisch angezogen. Sie setzte also behutsam einen Fuß auf die erste Stufe und wie von selbst, fast schwebend gelangte sie problemlos zur vorletzten Stufe, jetzt bloß keinen Blick zurück werfen. Es gab ohnehin keine Möglichkeit umzukehren, warum auch? Ist man einmal in seinem Leben im Aufwärtstrieb, dann geht es auch hoch. Schließlich wünschte man sich genau diesen Weg, diese rasante Bewegung. Der Sog ist atemberaubend und irgendwie herrlich.

Machen es nicht alle so? Gehen nicht die Menschen Stufe für Stufe nach oben, dem Lichte entgegen, in der Hoffnung, etwas ganz Besonderes zu gewinnen? Moni versuchte sich für ihr Streben in eine märchenhafte Welt irgendwie ein paar Rechtfertigungen zurechtzuzimmern. Schließlich hatte sie ja während des Aufstiegs niemanden behindert, keiner kam scheinbar dabei zu Schaden.
Ja, und keiner hatte davon abgeraten oder hatte sie gebeten dazubleiben. Man hat sie einfach steigen lassen. Jeder entscheidet selber und schließlich hat auch jeder die Konsequenzen zu tragen. An die dachte Moni jetzt überhaupt nicht.

Erst einmal nach Oben gelangen, es waren nur noch wenige Schritte. Sicher wird es ganz wundervoll sein im Märchenland der Reichen und Schönen, im Garten der unbegrenzten Fantasien.
Am Ende der Treppe angekommen, entdeckte Moni eine Pforte. Sie war angelehnt. Und sie dachte an ein Gedicht, an Verse, die sie einst in einer schlaflosen Nacht aufschrieb:

Der Zauber hinter der Pforte



Schön ist das Unbekannte.
Vermuten wir doch eine Fülle berauschender Blumen im unendlichen Garten Eden.
Wir durchstreifen ihn im Banne betörender Düfte.

Wir wollen im Zauber dieser wundervollen Welt verweilen,
vergessen, verwunschen sein auf ewig.

Bis wir eine Pforte entdecken, die sich wie von selbst öffnet…

genug der Blumen und Düfte…sie sind so vergänglich.

Gar wundersame Klänge, nie vernommene liebliche Töne, eine Musik voller Leben verheißt die Welt hinter der Pforte…
Eine Musik, die so unsterblich ist wie in all den phantastischen Träumen ersehnt.
Unvergänglichkeit, ewige Schönheit, Erfüllung für alle Sinne wird uns durch einen einzigen Schritt zu teil werden…und wir wagen es.

Wir wollen im Zauber dieser wundervollen Welt verweilen,
vergessen, verwunschen sein auf ewig.

Bis wir eine Pforte entdecken, die sich wie von selbst öffnet…

bedenkenlos schreiten wir hindurch.



******

Plötzlich klingelte der Wecker. Der Zauber löste sich auf.
Die Realität hatte wieder einmal gesiegt. Moni war wieder unten. Nein, Moni war nicht traurig.
"Wenn die Träume zu schön werden, dann sollten sie enden", dachte Moni und verrichtete alles, was für einen guten Tagesbeginn nötig war.
Ein kleines Problem schien nur darin zu bestehen , dass sie es nicht geschafft hatte, die Treppe vollends zu besteigen und die gute Moni sich somit nicht im Oben umschauen konnte.
Vielleicht war aber auch genau das ein Segen für die Fantasie, quasi ihre Rettung. Vielleicht kommt aber auch ein neuer Traum, der alles aufklärt.
Doch Moni wusste, dass nur die Wirklichkeit sagen kann, was geschieht. Alles Andere bleibt Wunschdenken. Und genau das beflügelt, neue Treppen zu besteigen.

Impressum

Texte: Bilder von Helga Siebecke
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2009

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