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Ausflug in die Vergangenheit

Kindheit und Jugend



Man versucht sich, wenn Ruhe einkehrt in ein turbulentes Leben und man willens ist, vergangene Zeiten gewissermaßen gedanklich noch einmal zu durchschreiten, an wesentliche Dinge zu erinnern. Das ist nicht ganz einfach wie sich herausstellt, denn vieles ist da in irgendeiner Schublade tief vergraben und will einfach nicht klar erscheinen. Man muss also richtig angestrengt nachdenken.

So geht es mir mit den Kindheitserinnerungen, die ja nun wirklich weit zurück liegen. Es war allerdings eine richtig gute Zeit und es sind ausschließlich glückliche Tage gewesen, wenn auch meine Mutter immer sagt, ich wäre oft und ernsthaft krank gewesen, so dass sie Sorge hatte, mich durchzubringen. Das ist mir überhaupt nicht bewusst. Meine Kinderkrankheiten habe ich nur sehr verschwommen in Erinnerung und schmerzhaft schon gar nicht.


Ich bin ein Nachkriegskind, das zweite, in schlechten Zeiten geboren, ob ich gewollt war, ist fast zu bezweifeln, denn meine Eltern heirateten als ich bereits unterwegs war und es ging ihnen finanziell nicht sehr gut, was allerdings das Schicksal der meisten Menschen damals war. Man musste sich größte Mühe geben, um die Familie satt und gekleidet zu bekommen. Meine Mutter war bereits dreißig Jahre und hatte keine Arbeit, bzw. keinen Babysitter, war also Hausfrau, hatte eine Menge Probleme zu meistern.

Ich bemerkte davon natürlich nichts und genoss eine schöne Kindheit. Ich schien rein gar nichts zu registrieren, nicht mal die Tatsache, dass meine Mutter sieben Jahre später noch ein Kind bekam. Natürlich nahm ich mein Schwesterbaby zur Kenntnis aber mehr nicht, sie war klein und zu nichts zu gebrauchen, man konnte mit ihr nicht spielen, und man sollte leise sein in ihrer Gegenwart, das war für mich unmöglich. Meine Mutter hatte nun noch weniger Zeit, so ging ich meiner Wege, fand das aber nicht sonderlich traurig, hatte ich doch immer Freunde genug und einen Hund. Ich hatte Spaß und alles, was ein lebenslustiges und fröhliches Kind benötigt, war vorhanden.

Fragen nach dem Woher der kleinen Kinder hatte ich nicht. Sie waren eben plötzlich da und erweckten nicht im Geringsten mein näheres Interesse. Somit wuchs ich völlig unaufgeklärt, lange naiv bleibend, aber in einer für mich heilen Welt, behütet heran. Ich wusste nicht einmal wie erwachsene Menschen nackt aussahen, meine Eltern zogen sich nicht vor den Kindern aus, sie zeigten sich niemals unbekleidet, tauschten vor uns auch kaum Zärtlichkeiten aus, allenfalls ein flüchtiger Kuss beim Verabschieden, was schon viel war. Die Badezimmertür wurde stets verschlossen. Die augenscheinliche, vielleicht aber auch nur scheinbare Lieblosigkeit, auch sexuelle Verklemmtheit im Beisein der Kinder, bemerkte ich damals natürlich nicht. Wie sie allerdings wirklich alleine miteinander umgingen, weiß ich bis heute nicht und wage auch nicht meine Mutter darüber zu befragen, denn es ist mir peinlich.

Früher schien es nicht wichtig. Komischerweise hatten die anderen Kinder diesbezüglich auch keine Fragen, die kamen später.
Wir hatten, obwohl in Berlin wohnend, das Glück einen wunderschönen Garten zu besitzen und einen großen sehr lieben Schäferhund, der mein bester Freund war. Eine Hündin, die einfach alles über sich ergehen ließ. Sie hatte eine unendliche Geduld mit den sicher auch mal groben Kinderhänden.

Es gab natürlich auch Kinder in der Strasse, mit denen ich spielte und gewisse Streiche verübte, die aus heutiger Sicht so harmlos und nett waren, wie sie von glücklichen Kindern auch nur kommen konnten. Wir verübten Klingelstreiche und steckten mitunter Knete in Schlüssellöcher. Das aber nur bei Leuten, die immer mit uns was zu meckern hatten, wenn wir mal durch den Hausflur tobten.

Ich war ein kleines freches Großstadtkind und wurde nach einer langen Gelbsucht zur Erholung aufs Land zu mir völlig fremden Leuten nach Oberhessen geschickt. Das war noch vor dem Mauerbau möglich. Weiß der Kuckuck wie das meine Eltern und Großeltern arrangierten, jedenfalls wurde ich in ein klappriges Flugzeug mit einer Reihe von anderen Kindern gesteckt und dorthin geflogen, was recht spannend war, denn man durfte zum Piloten ins Cockpit und bekam Kaugummis. Der Pilot sprach englisch und man saß sich im Flieger gegenüber. Es war wohl eine Militärmaschine für Fallschirmspringer, denke ich.

Jedenfalls hatte ich überhaupt keine Angst, obwohl erst sieben oder acht Jahre alt und noch nie von zu Hause weg. Es hat mir nichts ausgemacht, ich habe kein Theater veranstaltet beim Abschied von meinen Eltern. Nun sind meine Erinnerungen an dieses Ereignis auch schon beendet. Der nächste Ausflug nach Hessen musste mit der Bahn unternommen werden. Der Zugschaffner nahm mich wohl in Empfang und setzte mich in Gießen raus, wo mich Onkel Hugo begrüßte.

Für mich war alles so ziemlich selbstverständlich, denn ein Großstadtkind fürchtet sich vor öffentlichen Verkehrsmitteln nicht. Ich musste ja mit der S-Bahn, später Straßenbahn auch quer durch Berlin zur Schule fahren. Mein eigenartiger Ehrgeiz bestand darin, erste am Schultor zu sein. Warum dies, ist mir bis zum heutigen Tag nicht klar geworden. Ich nahm es deshalb in Kauf, eher aufzustehen und eine Bahn früher loszufahren. Jedes normale Kind würde es vorziehen, etwas länger schlafen zu können. Ich nicht!

Der Aufenthalt bei den hessischen Bauern Onkel Hugo und Tante Mia war schlicht der Knaller, denn die hatten Kühe und Hühner. Da waren Schweine und ein Pferd namens Fanny, das Brot aus dem Küchenfenster erhielt.
Unter den Hühnern war ein Eierfresser, für ein Großstadtkind eine enorme Sache. Onkel Hugo hatte den Täter mühsam ermittelt und extra eingesperrt, sicher sollte das Huhn geschlachtet werden. Ich hatte so was im Gespräch aufgeschnappt und empfand ungeheures Mitleid mit dem Tier. Also sann ich darüber nach, was zu tun wäre. Bloß weil das bescheuerte Huhn sich erwischen ließ, sollte es geschlachtet werden, eine Tatsache, die man verhindern musste.
So schlich ich mich des Nachts in meinem Nachthemdchen raus, befreite das extra eingesperrte Huhn und scheuchte es zu den anderen, was natürlich nicht ohne Gegacker abging. Meine Pflegeeltern wurden zum Glück nicht wach, habe ich gedacht und bin beruhigt und stolz auf meine gute und Leben rettende Tat wieder ins Bett gegangen, um dann morgens ganz unschuldig zu erscheinen. Natürlich wurde erstmal geleugnet als die unvermeidliche Frage kam, wer hat? Na Ja, wer würde denn so was machen, ich musste halt eine Belehrung über mich ergehen lassen aber das Huhn war erst mal dem Tode entronnen und Onkel Hugo musste von vorne anfangen mit kriminalistischem Gespür. Wie der Ausgang war, weiß ich nun wirklich nicht mehr.

Es war schon eine tolle Zeit auf dem Bauernhof und ich durfte auch mit aufs Feld. Ich glaube meine Pflegeeltern haben sehr oft über meinen kessen Kindermund gelacht, sie waren kinderlos aber gerade deshalb total vernarrt in mich und daran hat sich über all die Jahre nichts geändert. Wir haben Kontakt bis zum heutigen Tag, wenn auch die Tante Mia leider schon verstorben ist. Ich war ein weiteres Mal als Kind dort in den Ferien und es war noch schöner, da ich nun schon alles kannte auch die Nachbarkinder, mit denen ich mich angefreundet hatte. Es war eine unglaublich schöne Zeit, die ich nie vergessen werde. Ganz abgesehen davon, dass ich mich dort bestens erholte. Schließlich war das ja der Grund des Ganzen. Sicher war ich später in den Ferien auch mal in diversen Kinderferienlagern, wie man das nannte und auch das war für mich immer ein gutes Erlebnis aber nicht so prägend.

Eines Tages hieß es, wir ziehen aus Berlin nach Mecklenburg aufs Dorf. Ich war ja erst 10 Jahre alt und freute mich auf Pferde, Kühe und Hühner, hatte ich ja bei Tante Mia und Onkel Hugo in Hessen kennen gelernt. Das wird sicher lustig werden, auf dem Dorf für immer zu Hause zu sein und ein Umzug, das ist was Spannendes, dachte ich. Für meine Eltern waren es wohl der blanke Horror und die Arbeit, alles unvergleichlich nervig mit drei Kindern, das ist mir natürlich nicht aufgefallen.

Als wir ankamen, mussten zuerst für die ganze Familie Gummistiefel beschafft werden, denn die Straßen waren nicht gepflastert und auch nicht beleuchtet. Der Ort hatte wohl weniger als 300 Seelen, aber es gab eine Schule, in der Kinder bis zur 6. Klasse zu unterrichten waren. Nebenbei, meine Mutter war meine Klassenlehrerin…hm…sehr merkwürdig. Ich habe ihr aber keine Schande bereitet, da ich leicht lernte und auch im Unterricht so ziemlich artig war, na ja mal schwatzen, aber das machen doch alle.

In Breesen, so hieß der Ort, lernte ich meine beste Freundin kennen, sie ist es bis heute geblieben. Übrigens ist sie auch meine wirklich einzige sehr gute Freundin, ich glaube wir sind so was wie seelenverwandt. Wir haben einen sagenhaften Draht zueinander und absolutes Vertrauen. Es ist einfach etwas unheimlich Wertvolles, einen Menschen zu kennen, mit dem man sich so gut versteht. Wir können über die gleichen Dinge unendlich lachen und genauso über sehr ernste Sachen nächtelang sprechen. Es ist so wundervoll, dass es Menschen gibt, die so unproblematisch und herzlich sind, auf die man sich verlassen kann. Sicher gab es zuweilen Zeiten, wo wir uns ein bisschen vernachlässigten, jeder hatte seine eigenen familiären Probleme zu lösen und wir wohnten weit voneinander entfernt. Aus heutiger Sicht, spielen die räumlichen Distanzen allerdings absolut keine Rolle für Freundschaft. Man muss nur so einen Schatz pflegen und nicht gleichgültig und egoistisch nur an die eigenen Belange denken. Diese Prüfungen haben unserer Freundschaft nicht geschadet. Als wir uns nach sehr langer Zeit wieder sahen, haben wir sofort nahtlos an alles anknüpfen können.

Ich hatte in der Kindheit und später in der Jugendzeit niemals ein Problem mit anderen Kindern, ein gutes und kameradschaftliches Verhältnis aufzubauen. Geselligkeit, Spaß und ständig ein offenes Herz für lustige Streiche gehörte zu meinem Wesen. Immer ein Lachen und Singen war von mir zu hören, wo ich mich auch befand. Es war einfach selbstverständlich, dass ich einen hohen Beliebtheitsgrad für mich in Anspruch nehmen konnte und deshalb stand ich als Schülerin fast immer an der Spitze der Klasse. Es war ganz einfach, die Meinung der anderen zu vertreten und sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen. Auch die Mitschüler von meiner Anschauung zu überzeugen, stellte für mich nie ein ernsthaftes Problem dar. Es lag mir gewissermaßen im Blut alle mitzureißen und zwar ohne größeren Kraftaufwand.

Das Lernen als solches ging mir leicht von der Hand. Ich musste nicht büffeln bis zum Umfallen. Ja, ein bisschen Ehrgeiz und Fleiß war zuweilen schon vorhanden aber nicht im Übermaß. Kurz es war immer alles bestens, harmonisch und es gab einfach nichts, was die Idylle trüben konnte.

Ganz besonderes Interesse war für das Kabarettistische vorhanden und jedes Mal, wenn es eine Veranstaltung auszugestalten galt, war ich emsig dabei Texte auszudenken und mit Gleichgesinnten, was Heiteres aus dem Boden zu stampfen. Wir haben mitunter die ganze Schule zum Lachen gebracht mit unseren Sketchen, von den selbst kreierten Kostümen ganz zu schweigen. Da waren wir unermüdlich und im Vorfeld gab es schon immer eine Menge Spaß.

Auf der erweiterten Oberschule, mal kurz Penne genannt, war es für mich aus heutiger Sicht ganz besonders interessant. Nicht wegen des so tollen Lehrstoffes, nein…weit gefehlt, es war das Umfeld. Ich lebte nämlich in einem Internat in der Woche, nur zum Wochenende ging es Heim.
Warum musste ich in ein Internat? Normalerweise möchte man in kein Internat. Es war in meinem Fall notwendig, um mir später meinen Berufswunsch zu ermöglichen, denn ich wollte Ärztin werden. An der näher gelegenen erweiterten Oberschule war kein Lateinunterricht im Angebot, somit musste ich auf eine Schule, die sich räumlich weiter entfernt vom Wohnort meiner Eltern befand. Das Internat gehörte zu dieser Schule, also zog ich dort ohne Diskussion ein. Was war schon dabei. Die Eltern hatten es erwählt, also war es gut. Ich empfand es fast immer als ganz natürlich und ohne Frage gut und richtig, was die Eltern entschieden. Nie kam mir in den Sinn, alles anders machen zu wollen. Das trotzige und bockige Aufbegehren der „Halbstarken“, wie mein Vater immer zu sagen pflegte, war nie mein Ding. Ich fand keine Gründe dafür, mein Leben war in Ordnung, warum sollte ich dagegen revoltieren.

In meinem Freundeskreis gab es ebenfalls keine großen oder kleinen Revoluzzer, wir hatten keine nennenswerten Konflikte mit der älteren Generation.

Die Lebensweise unserer Eltern war für mich in Ordnung, ob ich selber später ein ähnliches Leben führen wollte oder nicht, war für mich zu dem Zeitpunkt nie Gegenstand einer Überlegung. Meine Eltern hatten, wie es schien, immer ein kulturvolles, erfülltes Leben. Sie waren aufgeschlossen für das Schicksal der Dorfbewohner und verstanden es feinfühlig und stetig auf alles, was im Dorf geschah, positiven Einfluss zu nehmen. Sie konnten sich als Großberliner sehr gut in so einem kleinen Nest etablieren. Ich glaube, sie fanden bei den Dorfbewohnern außerordentlich hohe Akzeptanz. Eigentlich war ich deshalb auch immer stolz auf meine Eltern. Sie haben dort viel bewegt. Es war eine gute Zeit. Es waren für mich fünf zwanglose, ungetrübte Jahre.

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2009

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