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Im Internat



Das klingt streng. Jugendliche hatten sich einzufügen und mussten sich dem Reglement einer Internatsordnung unterwerfen, eines mit Vorschriften und Verboten gespickten Werkes, welches von einer frustrierten Heimleitung und ähnlich gestimmten Erziehern mit allen Konsequenzen erarbeitet und von Gott weiß wem abgesegnet wurde.
Ich sollte nun mit meinen 15 jungen Lenzen in ein solches Internat, zumindest für die Woche. An den Wochenenden durfte ich nach Hause kommen. Es gab sicher Heime oder Internate ganz unterschiedlicher Güte. Meines war am Rande einer mecklenburgischen Kleinstadt ein Bollwerk der besonderen Art.

Das Haus war ein altes Gutshaus, leicht umgebaut für die Unterbringung von Jungen und Mädchen. Nun, das besagt einiges. Die Internatsschüler wurden aufs Sorgsamste bewacht Es gab Erzieher der strengen Art und die Vorschriften waren ehern also nicht von Pappe, die Zimmer mehr als spartanisch, was allerdings keineswegs störte. Wozu Komfort, wenn das Leben lustig war?

Besuche waren unerwünscht und der gestattete Ausgang hielt sich in Grenzen. Er war sehr abhängig von Zucht und Ordnung. Also wer sein Bett nicht ordentlich machte oder es an der Schrankordnung mangeln lies, der wurde schon mal mit einer empfindlichen Ausgangssperre bestraft. Man führte über alles, was geschah akribisch Buch. Nichts blieb der Heimleitung verborgen, denn sie mussten ja aufpassen, die Jungen und Mädchen schliefen unter einem Dach. Da waren Zimmerrundgänge nötig, auch zu unchristlichen Zeiten. Nachtdienst hatte immer einer.
Wir trachteten natürlich ständig danach, die Heim-
ordnung zu unterwandern und die gestrengen Vor-
schriften zu umgehen.

Allein diese Mühe, die übrigens bis auf ein paar Streber und Schleimer, fast alle einhellig aufwendeten, war irgendwie zum Schießen. Man glaubt ja immer in dem Lebensabschnitt, die Alten, sprich die Erzieher, sind vertrottelt und würden nichts merken.
Ich denke, sie haben auch mehr als einmal alle Augen zugedrückt und uns gewähren lassen, möglicherweise wollte sie auch ihre Nerven schonen, denn eine Riesen-
gruppe von Halbwüchsigen konzentriert auf engem Raum, war damals sicher auch eine gewisse Herausforderung für die Erwachsenen.
Wir wohnten zu acht in einem Raum. Jeder hatte einen Tisch, einen Stuhl, das Bett und den Spind, einen schmalen Schrank, zur Verfügung. Für die Schuhe und die Gummistiefel gab es ein gesondertes Regal. Ja, jeder brauchte auch ein Paar Gummistiefel, wir waren nämlich nicht nur Oberschüler sondern auch noch nebenbei gewissermaßen Lehrlinge in der Landwirtschaft.

Die Ausbildung nannte sich Abitur mit Berufsaus-
bildung. Wir erwarben also zugleich mit dem Abitur auch einen Facharbeiterbrief. Deshalb hatten wir auch mitunter neun Stunden Unterricht am Tage, weil ja die Woche praktische Berufsausbildung irgendwie zu kompensieren war. Wir schafften dieses schon aber es war auch viel zu büffeln, manchmal die ganze Nacht, was allerdings verboten war. Selbst das Lernen war verboten, denn wenn es zur Nachtruhe geklingelt hat, dann wurden die Lichter gelöscht. Da mussten halt die Taschenlampen herhalten. Man durfte sich dabei nicht erwischen lassen, denn wir saßen oft zu dritt oder viert in den Betten, um uns Vokabeln oder sonstwas abzuhören.
Mädchen durften um Gottes Willen nicht in einem Bett sein, das war hochgradig unmoralisch. Wir empfanden das nicht als unmoralisch, wollten wir doch nur lernen. Tatsächlich nur lernen, ich schwöre, dass es so war.

Die Zimmer wurden mittels Kachelöfen beheizt, das besorgten der Gärtner und die Putzfrau. Für das Putzen der Zimmer waren wir allerdings alleine zuständig und es musste ordentlich geschrubbt werden. Wir hatten dunkles Linoleum, man musste also auch bohnern. Wie schön, jeder durfte mal kräftig mit der Bohnerknolle durch den Raum. Abends wurden deshalb die Stühle hochgestellt, damit der Zimmerreinigungsdienst morgens, bevor wir zur Schule trabten, noch einmal überbohnern konnte. Man sah auf diesem bescheuerten Fußboden jedes Haar. Das gab Abzüge, denn die Sauberkeit der Zimmer wurde bepunktet. Schließlich standen wir im Wettbewerb. Das ordentlichste Zimmer in allen Belangen, da waren noch das Bettenmachen und die Schrankordnung, waren alle Kämme sauber und auch die Gummistiefel gewaschen, erhielt freie Arbeitszeit und eine Torte.
Freie Arbeitszeiten war was Feines. Man konnte entscheiden, wann man in die Stadt gehen oder wann man lernen wollte. Das war Freiheit pur!
In diesem Internat schrillte zu jedem erdenklichen Anlass die Klingel. Sie ertönte zum Wecken, zum Frühstück, zum Mittag, zum Abendbrot und zum Beginn und zur Beendigung der Arbeits- und Lernzeiten. Das nervte schon sehr. Wir hassten diese Klingel.
Im Speisesaal saßen wir an Achtertischen. Die Tisch-
dienste hatten die Tische zu decken und abzuräumen. Jeder hatte mal das Vergnügen. Es gab auch Einteilungen zur Küchen- und Gartenfron, so nannten wir das.
Bevor wir essen durften, mussten wir hinter den Stühlen stehen und warten bis einer der Erzieher ein herzhaftes „Guten Appetit“ grölte. Wir schrieen im Chorus Brüllus unsere Dankesformel und setzten uns zum Mahle. Das Essen war recht gut und leise Unterhaltungen bei Tisch waren gestattet. Der Saal dufte nur tischweise verlassen werden. Anschließend ging es durch die feuchten Wiesen auf einem Trampelpfad zur Schule, das war eine kleine Abkürzung. Wir gingen alle zu Fuß, ein Gefährt hatte kaum jemand.
Das hört sich bis jetzt reichlich schlimm an. Für mich und für die meisten anderen auch war es aber gar nicht so sehr furchtbar. Wir fügten uns im Großen und Ganzen in die gewollte Ordnung und hatten dennoch eine Menge Spaß.
Es gab weder Drogen noch Gewalt, auch Alkoholismus war überhaupt kein Thema. Es wurde in der Nacht zuweilen Karten gespielt oder geschmökert, manchmal kam man nicht zur vorgeschriebenen Zeit vom Ausgang rein, was eigentlich das häufigste Vergehen war, aber ansonsten gab es nur ganz lächerliche Verstöße.
Es war eine sehr Musik orientierte Schule, in der jeder Junge, die Möglichkeit bekam, ein Musikinstrument zu erlernen. Als Mädchen wurde man, sofern die Stimme es zuließ, in den Chor aufgenommen. Ich fand es sehr merkwürdig, dass nur die Jungen, ein Instrument spielen durften. Nun, es war ein Blasorchester, was ständig mit Nachwuchs aufzufüllen war, den Mädels traute man offensichtlich keine Puste zu. Ich war aber nicht energisch genug, um mich da durchzusetzen also wurde ich eine Choramsel.
Schlecht war das auch nicht, aber man musste Texte lernen, was mir nie besonders behagte. Beim Singen als solches, fiel ich weder positiv noch negativ auf. Eine Solistin war ich nie, beim Kabarett singen, war natürlich ganz was anderes, da gab es kein Halten.
Ich wollte immer ein Musikinstrument spielen, am liebsten Klavier. Das war nicht möglich, denn meine Eltern haben sich erst viel später ein gebrauchtes Klavier gekauft, worauf meine jüngere Schwester spielen sollte, die aber nicht die geringste Lust dafür verspürte. Sie war bockig ohne Ende deswegen und meine Mutter brauchte Nerven, um sie zum Üben zu bewegen. Heute sieht meine Schwester die Sache mit anderen Augen. Wie immer. Die Erleuchtung kommt, wenn alle Messen gesungen sind.

Jede Woche am Dienstag räumten wir nach dem Abendbrot den Speisesaal um, denn wir durften tanzen. Es gab eine Schülerband, aber auch Tonbänder und Plattenspieler. Nach Abnahme der Titel, es durfte nämlich nicht nur „Westmusik“ gespielt werden, die DDR- Schlager sollten immer dabei sein, ging es sofort los. Es wurde getanzt bis zum Abwinken, das war 23.00 Uhr. Die Beziehungskisten brodelten. Allerdings war Vorsicht geboten, die Heimleitung wachte ja peinlichst über Zucht und Ordnung. Hin und wieder verschwanden die Pärchen mal in den Internatspark und Garten, um dann glücklich lächelnd sich wieder ganz harmlos unter die Tanzenden zu mischen.

Man duldete gnädig dieses „ Luftschnappen“. Nach der Veranstaltung wurden jedoch alle Haustüren fest verschlossen. Wer dann nicht zur rechten Zeit drin war, hatte hochgradig mit Ärger zu rechnen. Es gab als Strafe Verweise, Meldungen an die Schule und an die Eltern, zusätzliche Gartenarbeitsstunden, Dusch- und Waschräume scheuern etc. oder eben die verhassten Ausgangssperren. Bei harten Verstößen drohte der Rausschmiss aus dem Internat oder gar die Entfernung aus der Schule. Das kam kaum vor.

Manchmal wurden Mädchen schwanger. Das wurde nicht toleriert. Sie mussten uns verlassen. In meiner Klasse gab es keinen derartigen Fall. Wir waren ziemlich brav, es passierte einfach nicht. Man war ja aufgeklärt. Na ja, was man so aufgeklärt nannte, es sprach sich so allerlei herum.
Ich hatte immer so allerhand kleine Liebschaften, aber war vorsichtig oder ängstlich, lies nie mehr als Knutscherei zu. Man ging Arm in Arm ins Kino, tanzte, spazierte durch den Park und alberte umher. Das war alles.
Manche Mädchen rühmten sich mit einem festen Freund. Das war allerdings die Ausnahme. Nach dem Abitur würden wir sowieso in alle Winde zum Studium zerstreut, also was sollte der Quark mit einem festen Freund. Man ging eben nur mal mit einem. So hieß es jedenfalls damals.
Studieren wollten wir alle. Es gab insgesamt immer ausreichend Studienplätze, kostenlos für den Student. Für jeden Abiturienten war gesorgt. Es hieß, dass man manchmal seine Wünsche, was die Richtung betraf, ein wenig verändern müsse. Ich nahm das nicht sehr ernst.
Irgendwie wusste man, was kam. Es war gewissermaßen vorher bestimmt. Man erhielt ein nicht zurückzu-
zahlendes Stipendium sowie einen Schlaf- und Arbeits-
platz in einem der preiswerten Studentenwohnheime. Das stimmte und die Zimmer waren weitaus besser als die Räume, die ich vom Internat her kannte. Ich war nicht verwöhnt. Bücher gab es in den Bibliotheken und erschwingliches Essen in der Mensa. Man würde also studieren und besser leben als im Internat, hätte unendliche Freiheiten. Es würde nun nicht mehr klingeln. Man würde kommen und gehen können nach Belieben. Eine völlig neue schöne Freiheit erwartete uns.
Wir wussten das alle und ein jeder sah mehr oder weniger beruhigt seiner geregelten Zukunft entgegen. So war das in meinem Umfeld. Es gab kein nennenswertes Aufbegehren, keine Revolten, keine Drogen oder Ähnliches und keine Kriminalität. Ich hörte nichts von solchen Dingen in meiner unmittelbaren Umgebung. Wir alle waren wohlbehütet und fühlten uns auch irgendwie wohl. Das mag woanders, vielleicht in den Großstädten sich etwas weniger harmlos zugetragen haben, aber mir ist diese Welt bis zu dem Zeitpunkt nie begegnet.
Der Drang in andere Länder zu fahren, an Massen-
veranstaltungen teilzunehmen, welcher Art auch immer, war in mir weitestgehend nicht vorhanden. Ich war in den Ferien zu Hause, ging ein wenig in der Land-
wirtschaft als Erntehelfer arbeiten oder fuhr mal für eine Woche an die Ostsee. Immer schön lieb und brav! Manchmal fuhren wir mit der Klasse in Städte mit kulturhistorischem Hintergrund aber sonst träumte ich in schulfreien Zeiten mit meinen Büchern im Garten meiner Eltern. Null Problemo!

Schnell verging die Zeit und es galt nun allmählich, sich Gedanken zu machen, was für eine Studienrichtung eingeschlagen werden sollte. Für mich keine Frage, Zahnmedizin natürlich! Das wollte ich doch schon immer. Notgedrungen musste man noch eine zweite Richtung ins Auge fassen. Tja, da war eventuell die Chemie oder was mit Biologie, vage Vorstellungen. Für mich gab es keinen Zweifel, dass ich Zahnarzt werde würde und zwar in Berlin. Oh, jugendliche Einfalt!

Die Bewerbung ging raus und dann vergingen Ewigkeiten, bis sich die Hochschule meldete. Ich wurde zum manuellen Test geladen, außer mir noch 150 andere. Unter diesen sollten 50 geeignete Leute herausgesiebt werden. Kein Grund, dass ich mir Sorgen machte, es erschütterte mich nicht, denn mir war klar, dass ich auch dieses meistern würde, was ich auch habe. Leider kommt ein großes Aber, mein Leistungsdurchschnitt war gut, aber nicht sehr gut. Es reichte halt nicht, es gab Bessere, die das Rennen machten. Die Hiobsbotschaft wurde mit einer enormen zeitlichen Verzögerung überbracht, so dass für die anderen in Frage kommenden Studienrichtungen bereits alle Messen gesungen waren. Die Welt brach nunmehr das erste Mal zusammen. Abgelehnt, wie grausam!

Die Eltern äußerten eine für mich damals unverständliche Meinung, die auch eine reichlich frustrierende Wirkung ausübte. Sie sagten, ein Abiturient wäre ein Nichts und ich müsse unbedingt ein Studium aufnehmen, was auch immer es sei. Die Erlernung eines „einfachen“ Berufes käme nicht in Frage, da nach der langen Schulzeit und der erfolgreichen Reifeprüfung nur und ausschließlich eine Hochschulausbildung ins Kalkül zu ziehen wäre. Leider wurde ich nicht mit Vorschlägen dabei unterstützt, vielleicht dennoch meinen Traumberuf zu erlangen.

Mein Vater, seines Zeichens Hauptbuchhalter, der im Fernstudium seinen Abschluss erkämpfte, meinte, ich könne ja ebenso in die Betriebswirtschaft gehen und wäre somit später flexibel einsetzbar, was natürlich auch nicht von der Hand zu weisen war. Es interessierte mich bloß nicht. Das war der Haken. Hat wohl nicht sehr gezählt mein persönliches Verhalten zu dieser Berufswahl. Auch war mein Kampfgeist scheinbar total zerschmettert. Der Widerspruchsgeist, der Ehrgeiz, sich einfach Wünsche zu erfüllen, schien nicht sehr entwickelt, mehr die Eigenschaft einer einsichtigen, vernünftigen und folgsamen Tochter, pflegeleicht wie immer.
Das war ich wohl mein Leben lang, pflichtbewusst, vernünftig, berechenbar. Immer schön das tun, was erwartet wird, niemals abweichen vom geraden Weg, einfach durchziehen die Linie, die vorgezeichnet durch die Hand anderer.
Dies hat mitunter Sicherheit gegeben und auch Selbstbewusstsein, eine Möglichkeit zu existieren und sich als Frau allein durchs Leben zu schlagen. Aber war ich glücklich?


Tja, und so sieht mein Internat heute aus. Nichts ist mehr so, wie es war. Die Zeit fließt dahin.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009

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