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Ausflug in die Vergangenheit



Eines Nachts, ich war bereits lange im Bett, schlief aber wie immer nicht, starrte apathisch an die Decke, hörte ich, dass Menschen unsere Wohnung betraten. Es waren auch Frauen dabei. Man war offensichtlich nach einem Kneipen-
besuch wohl noch nicht geneigt nach Hause zu gehen und war zum Absacker bei uns gelandet. Es war nicht das erste Mal, meistens ging dann der Besuch bald wieder und mein Mann kam dann in sein Bett. Diesmal kam er nicht, obwohl ich die Leute gehen gehört habe. Ich wartete merk-
würdigerweise völlig ruhig und aufmerksam.

Dann stand ich auf, ich sah einen Lichtschein, die Wohnzimmertür war angelehnt, also schlich ich an den Türspalt und riskierte einen kleinen Blick in der Annahme, mein Mann würde auf dem Sofa eingeschlafen sein. Er war sehr wach und eine Frau war mit ihm ebenfalls sehr munter beschäftigt. Auf meinem Sofa! Das war es, dachte ich. Das ist die Krönung. Ein Zeuge muss das sehen. Diese Sau, jetzt noch in meiner Gegenwart mein Sofa zu besudeln (als wenn dieses Sofa wertvoll gewesen wäre), das schlägt dem Fass den Boden aus, waren meine Gedanken. Ich ging leise aus dem Haus und holte meine Schwiegermutter aus dem Bett, sie wohnte ja in der Nähe. Ich musste ihr unbedingt zeigen, was ihr saubrer Sohn wert ist, außerdem beabsichtigte ich bei ihr den Rest der Nacht mit meiner Tochter zu verbringen. Für mich war klar, dass ich keine Nacht mehr mit diesem Mann in einer Wohnung verbringen werde.
Als wir wieder in meiner Wohnung anlangten, waren die zwei immer noch kräftig zu Gange, bemerkten uns erst als meine Schwiegermutter sich keifend auf das Paar stürzte, ihrem Sohn rechts und links wie einem kleinen Jungen ein paar ordentliche Ohrfeigen versetzte, die Sachen der Frau auf die Straße, aus dem Fenster schmiss. Sie zerrte und schob die verdatterte Frau völlig nackt aus der Woh-
nungstür.
Ich stand fassungslos im Zimmer und aus heutiger Sicht könnte man sich fast kaputtlachen, wenn die Sache nicht bitterer Ernst gewesen wäre.
Inzwischen war unser Kind wach geworden und brüllte. Ich bin also in das Kinderzimmer gerannt, mein Mann hatte sich nämlich gefangen und schrie seine Mutter an und begann sie zu traktieren, ich kannte seine Gewalttätigkeit. So kümmerte ich mich um das Kind, packte hastig einige Sachen in eine Reisetasche, ging mit der Kleinen auf dem Arm in das Wohnzimmer und bedeutete meiner Schwiegermutter, dass es besser wäre nun zu gehen. So geschah es. Wir gingen. Ich wollte nur weg und wusste, dass ich nun nie wieder kommen würde.
Als ich später in größter Verzweiflung befindlich in ihrem Gästebett lag, überkamen mich ganz merkwürdige Träume.

8.Traum

Ich beobachte mich selber, sehe mich handeln, hin und her laufen, mit anderen Menschen sprechen. Ich versuche Kontakt aufzunehmen, um den Dingen eventuell eine Wendung zu geben. Ich weiß nämlich, was zu tun ist, aber das Wesen, welches auch ich zu sein scheine, nimmt mein Bemühen einzugreifen nicht wahr. Es ist als würde ich mich aus einer merkwürdig, losgelösten Welt selber betrachten können. Ich habe ständig das Gefühl zu wissen, was im nächsten Augenblick geschieht, jedoch ohne es verhindern zu können. Ich bin aus mir herausgetreten und betrachte bereits erlebte Ereignisse, das verwundert mich nicht, denn es wird vermutlich nur ein Erinnern sein.
Bis alles sich verändert, denn ich sterbe, jedoch wider allen Erwartungen schmerzt es nicht. Ich sehe, wie ich sterbe. Ich weiß genau, dass das nicht sein kann, denn ich bin ja lebendig. Dennoch werde ich eingesargt, ich bemerke die Dunkelheit um mich, fühle die Beerdigung und sehe ihr gleichzeitig wie von Ferne ganz gelassen zu. Es ist als wenn ich meinem Tod keine ernsthafte Bedeutung zumesse.
Aber ich bin nicht religiös, bin nicht gläubig. Ich weiß, dass ich lebe, nur alle anderen halten mich für tot. Das scheint für mich eine sehr wichtige Erkenntnis zu sein, keine beängstigende eher eine beruhigende. Im Traum fürchte ich mich nicht vor dem Tod, eher ängstigen mich die Lebenden, die sich über ein Sterben ständig hinwegsetzen, den Tod nicht achten, sich mit ihm nicht beschäftigen. Sie haben sehr viel mit sich zu tun.
Ich bin irgendwie froh, für sie tot zu sein.



Oft glaubt der Mensch mit seinem Tode wären seine Probleme gelöst. Natürlich spielt man gewöhnlich nur mit diesen Gedanken, denn ernsthafte Überlegungen setzen schier unfassbare Hoffnungslosigkeit voraus und den zweifelhaften Mut, Hand an sich selber zu legen.
Es gibt doch Instinkte, Selbsterhaltungstriebe, sie zu überwinden kostet eine Menge, eigentlich alles, nämlich das Leben. In dem Moment bedeutet es uns nichts. Aber es ist nur ein Moment, der nächste Augenblick könnte schon eine andere Sichtweise hervorbringen, eine positivere vielleicht. So gedacht wäre der Freitod überhaupt nicht nötig. Es gibt einen Grund, weiter zu machen.
Dennoch wird das logische Denken in kritischen Phasen offensichtlich ausgeschaltet. Man glaubt also DAS wäre ein Ausweg, der absolut sichere und endgültige Ausweg. Dazu kommt manchmal die Religion, die so oft alles Mögliche nach dem Tod verheißt. Oft ist dadurch das ganze Leben in Frage gestellt und ein Dasein auf dieser Erde eigentlich überflüssig. Ist es doch meistens voller Qual, ungelöster Probleme, nur ein Jammertal.

Dennoch gibt es etwas, was uns beflügelt alles auszuhalten, was uns entschädigt, was uns schließlich befähigt, buchstäblich mit der Faust auf den Tisch zu hauen und unserem Leben eine Wende zu geben. Es muss in uns sein und es muss reifen, der Leidensdruck muss es förmlich aus uns herauspressen.
Sicher können andere Menschen im Bösen wie im Guten, eigenartigerweise beides gleichermaßen, dabei sehr hilfreich sein. Aber letztlich müssen wir die Geburt alleine bewerkstelligen, genauso wie das Meistern des Todes. Um wirklich erfolgreich zu sein, muss in unserem Kopf absolute Klarheit darüber herrschen, will ich neu leben, selbstverständlich auch mit Problemen, sie zu lösen versuchen oder einfach sterben. Die Alternative wäre nur ein Dahinsiechen, welches schlimmer zu sein scheint als beides, das Leben und das Sterben. Nicht nur weil es ständig weh tut, nein, weil die Hoffnung fehlt.

Ich denke heute oft über den Tod nach, früher tat ich das niemals.
Unlängst sahen wir eine mehr oder weniger wissenschaftliche Sendung über die todesnahe Forschung. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, eine Aussage darüber beweisen zu können, ob es eine Daseinsform nach dem körperlichen Tod gäbe. Viele jahrtausendalte, religiöse Richtungen sprechen davon und die Menschen glauben daran, weil diese Vorstellung tröstet, auch die Angst nimmt. Der Nachweis ist offen. Wenn Menschen, die an den Schwellen des Todes standen, die klinisch Tod waren aber reanimiert werden konnten, über ihre „Erlebnisse“ sprechen, dann weiß man immer noch nicht, ob alles nur ein Ergebnis der Hirnarbeit sei. Denn obwohl den Messungen ent-
sprechend, das Hirn nicht arbeitet, angeblich nicht arbeiten kann, schließt man Hirntätigkeit nicht aus. Medizintechnisch ist nur der Nachweis derzeit nicht aufzeichenbar. Nur der Mensch kann berichten, was ihm widerfuhr. Inwieweit es sich nur im Gehirn abspielte oder tatsächlich stattfand ist nicht nachgewiesen.

Das ist für mich ein hoch interessantes Thema. Träume im Todesnahbereich! Wie real sind sie? Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren. Nicht in diesem Leben. In welcher Dimension könnte sich ein „Leben“ nach dem Tode abspielen? Meine Vorstellungskraft über den drei-
dimensionalen Raum hinaus gehend, hält sich sehr in Grenzen. Hier ist natürlich wie bei vielen Menschen leider immer nur der Wunsch Vater der Gedanken. Was ist daran aber falsch? In meinem Verhalten in diesem gegen-
wärtigen Dasein werde ich dadurch nicht beeinträchtigt, eher bestärkt das Jetzt zu nutzen und bewusst zu erleben. lIch glaube an kein Danach.

Die Angst vor dem Tode beschränkt sich ausschließlich auf die eventuellen Leiden davor und den Augenblick des Sterbens an sich. Jeder Mensch muss diesen Moment auf seine individuelle Weise erleben. „Erleben“ mag jetzt etwas unpassend formuliert sein, aber dennoch wird der Sterbende diesen so wichtigen und alles entscheidenden Augenblick wahrnehmen. Ob er schmerzhaft, schaurig oder erlösend schön ist, wer vermag darüber etwas Definitives sagen? Wieder ins Leben Geholte sprechen über ein weißes Licht und angenehme Empfindungen. Das macht Mut! Ich bewundere Menschen, die es geschafft haben, nicht nur ihr Leben zu meistern, sondern auch ihrem Tod gelassen entgegen zu sehen, bzw. wenn sie mit der Angst, die sich mit dem Sterben immer verbindet, umzugehen verstehen. Dazu gehört viel spirituelle Geistesgröße.

Dieses über den Dingen stehen spielt im wahrsten Sinne des Wortes eine nicht unerhebliche Rolle. Die große Angst vor körperlichen Schmerzen, die Furcht davor, rein gar nichts mehr zu sein, nichts mehr erleben zu dürfen, einfach im Dunkel, wie in einem tiefen traumlosen Schlaf ohne je erwachen zu können, zu versinken, sie bewegt aufs Heftigste unsere Gemüter, wenn wir denn überhaupt den Mut haben darüber nach zu denken.

Ich wage es nicht, mit meiner Mutter über das Sterben zu sprechen, jedenfalls nicht mit dieser Intensität. Ich finde es makaber, einen alten Menschen mit diesem Thema zu belegen, obwohl es ihn mit Sicherheit noch viel mehr als jüngere Leute bewegen dürfte. Wahrscheinlich ist dies eine unangebrachte Scheu, aber sie ist wohl irgendwie anerzogen. Könnte ich als Mensch, dessen Tage gezählt sind, darüber emotionslos oder besser ohne noch mehr Angst zu bekommen, zwanglos sprechen? Selbst dies wage ich nicht mit Bestimmtheit vorher zu sagen. Aus heutiger Sicht bin ich versucht zu glauben, dass ich, falls ich auch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte wäre, dazu bereit sein könnte, wenn es denn jemanden überhaupt interessiert. Freiwillig bietet man das Thema eher nicht an.
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Scheinbar verselbständigt sich mitunter alles, kleine Anlässe bringen sozusagen den Stein ins Rollen, beenden eine unerklärliche Lethargie und die Ereignisse beginnen sich zu überschlagen. Tatsächlich überschlagen sie sich nicht wie von selbst, sondern nur weil wir sie immer wieder anstoßen, die treibende Kraft ist nun endlich unser Mut, nach vorne zu schauen und deshalb die Gegenwart anzufeuern, sich zu verändern. Manchmal dauert es bis zu diesem Punkt eine halbe Ewigkeit, ich bin ein Spezialist für Ewigkeiten.

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Ausflug in die Vergangenheit



Fast sieben Jahre einer Ehe waren vergangen. Sie waren nicht glücklich; so hatte ich mir das Zusammensein mit einem Mann nicht vorgestellt. Hatte ich wirklich alles versucht, warum war mir mein Leben so entglitten? Was ist falsch gelaufen, was hätte ich anders machen müssen? Ich habe mir später so oft diese Fragen gestellt, mich nächtelang zermartert, mich mit Albträumen geplagt, obwohl klar ist, dass die Vergangenheit deshalb nicht beeinflussbar wird. Sie ist geschehen, ein Jammern hinterher ist so sinnlos und überflüssig wie nichts anderes es nur sein kann; und doch, möglicherweise kann ich wenigstens daraus lernen, wenn ich mir nur einer Schuld, meiner Fehler bewusst werden würde. Die Verdrängung alleine bringt auf Dauer nicht die erstrebenswerte Befreiung und es besteht die Gefahr, wieder in ein ähnliches Messer zu laufen. Natürlich gibt es Messer ganz erheblich unterschiedlicher Art. Das Leben hält sie in bunter Vielfalt stets für uns bereit. Ich wollte nun darauf achten, dass ich wenigstens eine Gabel zu handhaben weiß, mit der ich dem Messer ein Stück Fleisch vorlege; allerdings nicht das meine.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.12.2008

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