Wittenberg, Oktober 1517
Sollte es das gewesen sein? Nächtelang hatten sie diskutiert, Thesen aufgestellt und aufgeschrieben, die diesem gottlosen Handel ein Ende machen sollten. Anstatt das alle Welt davon erfuhr, sollten Briefe mit den Thesen verschickt werden. Briefe! Darüber könnte er lachen, wenn es ihn nicht so wütend machen würde.
Wenn diese Thesen wenigstens wieder als Stoff für Diskussionen in Bruder Martins Unterrichtsstunden dienen würden. Doch nein, dieses Mal hatte er anderes damit vor. Nicht seine Studenten sollten darüber diskutieren, sondern Bischof Hieronymus Schulz und Erzbischof Albrecht von Brandenburg sollte es dazu anregen, den Ablasshandel noch einmal zu überdenken.
Friedrich der Weise hatte in seinen Landen den Ablasshandel verboten, sodass dieser Dominikaner bei ihnen keinen Pfifferling verdiente. Stattdessen machten sich die Menschen nach Jüterbog, Zerbst oder anderen Städten auf, die in ihrer Nähe lagen und wo es ihnen möglich war einen Ablass für sich und ihre Lieben zu erhalten.
Merkte denn niemand, dass die Tinte nicht mehr wert war als das Papier auf dem es gedruckt war? Warum gaben viele ihr letztes Geld, nur damit sie selbst nicht ewig im Fegefeuer brennen mussten? Weil die Kirche es ihnen einredete, ihnen Angst einjagte.
Man konnte sich nicht einfach mit einem Blatt Papier von seinen Sünden freikaufen. Absolution bekam man nur in der Kirche, wenn man aufrichtig bereute, alles andere war Teufelswerk!
Aber es klang zu verlockend, wie dieser Hund des Papstes ihnen vorgaukelte, dass die Seele sofort in den Himmel springen würde, sobald man bezahlt hätte. Blasphemie war das!
Nur solange der Papst seine schützende Hand über diesen gottlosen Handel hielt, konnte man wenig tun. Man konnte versuchen, die Menschen vor diesem wertlosen Papier zu warnen, nur wollten diese nichts hören. Seit Jahrhunderten wurde ihnen gesagt, dass sie nach dem Tod ins Fegefeuer kämen, egal welch ein gottgefälliges Leben sie geführt hatten. Dort mussten sie ausharren bis ihre Sünden gebüßt waren. Erst wenn dies geschehen war, stiegen ihre Seelen in den Himmel auf. So etwas konnte tausende von Jahren dauern, wo der Verstorbene in der Zwischenzeit gequält wurde und keine Ruhe fand. Wenn es etwas gab, wovor sich die Menschen fast so sehr fürchteten wie vor der Hölle, war es das Brennen im Fegefeuer.
Absurd! Was brachte es, den Menschen Angst einzujagen? Gottesfürchtiger würden sie davon auch nicht werden und nach Gottes Recht und Gesetz würden sie auch nicht handeln.
Es gab eine Hölle und es gab den Himmel, alles andere war Blödsinn!
Wer seine Sünden aufrichtig bereute, kam in den Himmel, während alle anderen in der Hölle schmoren mussten. Da würde sie kein Ablassbrief vor schützen. Man konnte nicht sündigen und sich anschließend mit einer Münze von diesen Verfehlungen befreien lassen, egal wie schlimm die Schuld war, die man auf sich geladen hatte. Sollte ein Mord mit Geld ungeschehen gemacht werden? Davon wurde niemand mehr lebendig, aber die Menschen konnten sich ungestraft gegenseitig umbringen. Kurz ein Handgeld bezahlt und alles war vergessen. Das würde für Aufregung sorgen, aber der Ablasshandel war nicht anders. Dabei gehörte der Ablass der Sünden zum Bußwesen, denn der Mensch hatte für seine Verfehlungen Strafe zu erwarten. Wo käme man da hin, wenn es das nicht geben würde. Aber es konnte nicht sein, dass mit einem Ablassbrief alles vergeben und vergessen war. Dieser Hund des Papstes hatte mit diesen elenden Lügen begonnen und andere Ablassprediger setzten noch eines obendrauf, wenn sie sagten, man müsse sich fortan vor nichts mehr fürchten, denn egal was man tue, man werde sündenfrei bleiben solange man nur seinen Ablassbrief immer bei sich trage.
Mit diesen Worten köderten sie die verängstigten Gläubigen, während die verschlagenen unter ihnen sich die Hände rieben, weil sie fortan für ihr sündiges Leben nicht mehr von Gott bestraft werden konnten.
Ihre Kirche war verkommen. Jeder bereicherte sich und dachte nur an sich selbst. Gott kam erst an zweiter, dritter oder sogar erst an vierter Stelle, falls er überhaupt als wichtig erachtet wurde.
Das alles musste sich ändern. Den Menschen mussten die Augen geöffnet werden, wofür sie ihr Geld ausgaben. Nur wenn sie verstanden, würden sie sich eine Meinung bilden.
Es reichte nicht, wenn man an Höherstehende schrieb oder sich auf Diskussionen mit den Studenten einließ. Davon erfuhr das Volk nichts. Die Wahrheit würde hinter verschlossenen Türen bleiben.
Bruder Martin hatte sich seit Monaten mit dem Ablasshandel beschäftigt. Als er zweifelte, ob er das Richtige täte und seinen Glauben nicht verriete, wenn er gegen den Ablasshandel vorging, wandte er sich an ihn. Er hatte Bruder Martin bestärkt, dass man dem Ablasshandel Einhalt gebieten musste, damit die Menschen nicht vom Teufel verführt wurden. Nichts anderes war dieses Freikaufen der Seelen von den Sünden - Teufelswerk!
Bruder Martin hatte ihm seine eigenen Begründungen gezeigt, warum der Ablasshandel falsch sei. Gemeinsam hatten sie die einzelnen Punkte erörtert und neue Ideen hinzugefügt. Schließlich hatten sich Bruder Martins Studenten damit auseinandersetzen müssen.
Zu dem Zeitpunkt hatte er im Gegensatz zu seinem Mitbruder bereits gewusst, dass es nötig war, alle Menschen zu erreichen, um den Ablasshandel erfolgreich zu unterbinden. Deshalb hatte er angeregt, Bruder Martin solle seine Thesen noch einmal überarbeiten, sie kürzen, auf den Punkt kommen. So hatten sie die Nächte durchgearbeitet und am Ende waren es 95 Thesen gewesen, die den Ablasshandel verdammten.
Er hatte sie sogleich an eine der Türen der Wittenberger Kirche anbringen lassen wollen, damit alle darauf aufmerksam wurden, die des Lesens mächtig waren und es denen weitergaben, die nicht lesen konnten. In der ganzen Stadt sollten die 95 Thesen kursieren und hinaus über die Grenzen Wittenbergs und Sachsens getragen werden. Nur so konnten den Menschen die Augen geöffnet werden, damit sie begriffen, was sie wirklich taten, indem sie sich von ihren Sünden freizukaufen glaubten.
Wenn es wirklich für einen guten Zweck gewesen wäre, hätte er es noch irgendwie verstehen können, dass man für einen Ablass Geld zahlte. Aber die Münzen wanderten gewiss nicht in die Armenkasse, sondern landeten in den Taschen der Erzbischöfe, die ohnehin lieber protzten als predigten. Die waren garantiert nicht die einzigen, die sich daran bereicherten. Der Rest ging direkt an den Heiligen Vater in Rom, der diesen Handel großzügig erlaubt hatte. Der Papst saß auf seinem Thron, wurde immer fetter und machte sich keine Gedanken darüber, welch gute Werke er mit dem ganzen Vermögen tun könnte. Nein, der Heilige Vater nahm die Münzen für sich selbst. Der Bau des Peterdoms wurde damit finanziert, der sich immer noch im Bau befand. Wenn sich Fürsten, Herzöge, Könige und Kaiser prachtvolle Residenzen leisteten, warum sollte der Papst, der Stellvertreter Gottes auf Erden, zurückstehen?
Wo war die Demut geblieben? Wo die Bescheidenheit? Man brauchte kein Gold, kein Geschmeide und keine pompösen Bauwerke, um die Menschen Gott näher zu bringen. Man brauchte ihnen nur zuhören, ein Ohr für ihre Sorgen und Nöte haben. Wenn man die Menschen verstand, konnte man viel erreichen. Doch der Heilige Vater saß in Rom und kümmerte sich einen Dreck um die Gläubigen. Ihm war völlig egal, was mit ihnen geschah, schürte ihre Ängste, indem er dem allgemeinen Glauben an das Fegefeuer nicht widersprach, wo die Seelen der Verstorbenen für einige Zeit zubringen mussten, damit sie makellos, ohne Sünde, in den Himmel aufsteigen konnte. Wie sollte er sonst weiter an den Menschen verdienen, wenn er sagte, dass es das Fegefeuer nicht geben würde? Er brauchte den Peterspfennig für sein pompöses Bauwerk.
Ihnen mussten die Augen geöffnet werden und dafür würde er sorgen, egal was Bruder Martin dazu sagte. Die Obrigkeit würde dieses Problem nicht lösen. Man brauchte die kleinen Leute, um etwas zu bewegen. Das würde seine Aufgabe sein und er würde sie zu aller Zufriedenheit lösen.
Bruder Martin hatte die 95 Thesen drucken lassen, um sie zu verschicken. Er hatte ein weiteres Exemplar bestellt, um seinen Plan verwirklichen zu können. Es war zwar auf Latein, was nur eine Minderheit verstehen konnte, aber er war guten Mutes, denn die Studenten waren des Lateinischen mächtig, um die Vorlesungen verstehen zu können, und in Wittenberg war ihre Anzahl nicht besonders gering.
Sein Vorhaben würde von Erfolg gekrönt sein. Danach könnte niemand versuchen, die Schlechtigkeit des Ablasshandels unter den Teppich zu kehren. Den Menschen würden die Augen geöffnet werden und niemand würde mehr ein unbedeutendes Schriftstück kaufen, das nicht einmal die Tinte wert war, mit der man den Text geschrieben hatte.
Morgen Abend würde er sein Werk vollenden und die 95 Thesen gut sichtbar am Aushang der Wittenberger Kirche anbringen, damit alle, die des Latein mächtig waren, es lesen und weitergeben konnten. Am Tag vor Allerheiligen würden die Menschen sich darüber unterhalten und erkennen, dass der Ablasshandel ein Pakt mit dem Teufel war.
Es war alles vorbereitet. Nägel und einen Hammer hatte er bereitgelegt. Das Papier mit den 95 Thesen lag unter seinen wenigen Papieren auf seinem Schreibpult. Nun würde er noch einen Grund finden müssen, wie er abends das Kloster verlassen konnte, ohne dass man ihm den Ausgang verwehrte. Er würde sich etwas einfallen lassen und dann würde ein neues Zeitalter des Glaubens beginnen.
Hamburg, Januar 2017
An Martin Luther kam man dieses Jahr einfach nicht vorbei. Wohin man auch gehen mochte, überall fand sich etwas, was daran erinnerte, dass vor fünfhundert Jahren der Thesenanschlag an die Wittenberger Schlosskirche stattgefunden hatte. Begonnen hatte das alles bereits im vergangenen Jahr. Biografien und Abhandlungen über die Reformation waren wie Pilze aus dem Boden geschossen und stapelten sich auf den Tischen und in den Regalen der Buchhandlungen.
Karla Urban fragte sich, ob jemals für ein wiederkehrendes historisches Ereignis so ein Aufwand betrieben worden war? So sehr sie überlegte, konnte sie sich an nichts erinnern. Nicht einmal beim 200. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig war ein derartiger Aufwand betrieben worden. Im Gegensatz zum 500. Jahrestag der Reformation war die Völkerschlacht bei Leipzig kaum in die Köpfe der Menschen vorgedrungen. Es waren damals ein paar Bücher erschienen, aber die ließen sich an einer Hand abzählen. Kein Vergleich zur Reformation.
Das einzige, woran sie sich erinnern konnte, was in den letzten Jahren besonderes geschehen war, waren keine großen historischen Ereignisse gewesen. Das war einmal die Expo 2000 in Hannover oder der Baubeginn der Elbphilharmonie, die vor drei Wochen nach langer Verzögerung und enormer Kostenexplosion endlich feierlich eröffnet worden war. An ein Plakat für den Bau der Elbphilharmonie konnte sie sich noch gut erinnern, weil sie vor Jahren beinahe täglich daran vorbeigegangen war. Es hatte einen Elefanten und drei Tierpfleger gezeigt. Die Elefantin, ob es sich um Tausendschön oder eine andere handelte, konnte Karla nicht sagen, dass würde ihre Freundin besser wissen, hatte den Rüssel zur Seite ausgestreckt, weil einer der Tierpfleger einen Apfel verdeckt in der Hand gehalten hatte. Wer das Plakat nur einmal gesehen hatte, dem war es nicht weiter aufgefallen, aber sie hatte es gesehen und es jedes Mal wieder lustig gefunden, wenn sie es gesehen hatte.
Die Elbphilharmonie war endlich fertig, sie ging nicht mehr zur Schule, studierte auch nicht mehr, sondern arbeitete als Wissenschaftsjournalistin. Sie war immer noch dort beschäftigt, wo sie vor bald fünf Jahren angefangen hatte. Der Verlag war im vergangenen Jahr umgezogen und manchmal ertappte sie sich noch dabei, wie sie sich auf den Weg zum alten Standort machen wollte.
Die Arbeit langweilte sie nicht, obwohl sie in der Schule das Fach Geschichte in der Oberstufe abgewählt hatte, weil sie mit Daten und historischen Ereignissen nur wenig hatte anfangen können. Daran hatte sich eigentlich nicht viel geändert, doch jetzt forderte man von ihr nicht mehr irgendwelche historischen Ereignisse auswendig lernen zu müssen. Stattdessen musste sie einen Text über ein Ereignis, ein Volk, eine Gesellschaftsschicht oder einen Gegenstand schreiben. Dafür brauchte sie nur zu recherchieren, notierte sich das Wichtigste und schrieb dann den Text. Das war so ähnlich wie das Schreiben eines Referats und damit hatte sie nie Probleme gehabt.
Jetzt beschäftigte sie sich hauptberuflich mit Geschichte und fand es gar nicht mehr so schlimm, wie sie immer gedacht hatte. Namen und Ereignisse konnte sie sich aber immer noch schwer merken, außer sie beschäftigte sich gerade damit.
Obwohl sie inzwischen eine kleine Wohnung in Heidelberg besaß, die sie sich mit Markus teilte, war sie immer noch häufig in Hamburg, wo sie bei ihrer Freundin Isis seit ihrer Studentenzeit ein Zimmer besaß. Dorthin würde sie heute zurückkehren, weil sie morgen einen Termin in Hannover hatte. Es würde um Martin Luther und die Reformation gehen. Was auch sonst? Karla Urban würde froh sein, wenn das Luther-Jahr endlich vorbei wäre. Obwohl das Jahr noch jung war, hatte sie bereits einige Texte zu dem Thema geschrieben und es würden noch mehr werden, da sie in der Redaktion nun als Luther-Expertin galt. Das war noch eine lange Zeit bis das Thema endlich auserzählt sein würde. Es waren noch einige Monate bis zum 31. Oktober.
Der Reformationstag würde in diesem Jahr sogar ein Feiertag sein. Was das bringen sollte, wusste sie nicht. Die Katholiken würde es nicht interessieren, die Atheisten sowieso nicht und beim Rest wüsste die Mehrheit gar nicht, was eigentlich für ein Tag war. Da würde nicht einmal die ständige Erinnerung an Martin Luther und seinen Thesenanschlag helfen. Die glaubten alle, am 31. Oktober wäre Halloween. Wobei die umherstreunenden und verkleideten Kinder jedes Jahr weniger wurden. Die einzige unangenehme Begegnung, die ihre Nachbarn vergangenes Jahr an Halloween gemacht hatten, waren Horden von bis zu zwanzig Flüchtlingskindern, die sich wie die Axt im Walde benommen hatten. Das mochten Ausnahmen gewesen sein, allerdings hatten verschiedene Stellen darüber geklagt und sich aufgeregt, was Merkel für Leute ins Land geholt hatte.
Von dem Vorstoß von einigen evangelischen Bischöfen, den 31. Oktober zu einem dauerhaften Feiertag zu machen, hielt Karla absolut nichts. Nur weil ein katholisches Bundesland wie Bayern so viele Feiertage hatte, brauchten die Protestanten aus Neid nicht nachziehen. In einer Gesellschaft, wo Gott und die Kirche immer weniger eine Rolle spielten, musste den Menschen ein weiterer christlicher Feiertag nicht aufgehalst werden. Obwohl, so schlecht war ein zusätzlicher freier Tag auch nicht. Es musste nicht gerade der 31. Oktober sein. Warum nicht wieder diesen Feiertag im November reaktivieren? Wie hieß der noch? Büßertag? Irgendetwas in der Art.
Den Fragenkatalog zu Martin Luther und der Reformation hatte sie in ihrer Tasche. Eine Datei befand sich auf ihrem Tablet, falls sie wider Erwarten die ausgedruckten Seiten verlieren oder mitzunehmen vergessen sollte.
Die Wissenschaftsjournalistin war mit ihren Fragen relativ zufrieden, dennoch hatte sie vor jedem Interview das Gefühl, irgendeine wichtige Frage vergessen zu haben. Im Grunde behagte es ihr immer noch nicht, jemanden zu interviewen. Zwar wollte sie, im Gegensatz zu den Klatschjournalisten, nichts aus dem Privatleben ihres Gesprächspartners wissen, aber sie interessierte sich nicht für die Dinge, die sie frug. Mit historischen Themen konnte sie trotz allem nicht viel anfangen und mit Kirchengeschichte noch weniger. Dennoch konnte sie nicht alles über den Haufen werfen, musste mit dem zufrieden sein, was sie hatte. Sie musste sich erst einmal etablieren, einen Fuß fest im Wissenschaftsjournalismus haben, danach konnte sie entscheiden, ob sie weiter über Dinge schrieb, die sie nicht interessierten, oder ob sie zu einem anderen Wissenschaftsmagazin gehen wollte. Vor der Wahl würde sie irgendwann stehen, aber das würde gewiss noch ein Weilchen dauern. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung beendet, da war es schwer, woanders auf die Schnelle etwas zu finden, vor allem in der heutigen Zeit, wo selbst in den Printmedien jede Stelle gekürzt wurde oder die Verlage Redaktionen zusammenlegten. Sie könnte es als freie Journalistin probieren, aber dazu musste sie sich erst einmal ein Netzwerk aufbauen über das sie noch nicht verfügte. Dann lieber bei einer Wissenschaftszeitschrift bleiben, die sich mit geschichtlichen Themen auseinandersetzte. Das war besser als nichts und ihr Geld wurde jeden Monat pünktlich auf ihr Konto überwiesen. Was wollte sie mehr?
Karla stieg in die U-Bahn ein, die sie zum Haus ihrer Freundin bringen würde. Isis wollte sie ihren Fragenkatalog noch vorlegen. Vielleicht hatte ihre Freundin eine Frage, die sie morgen würde stellen können und auf die sie selbst nicht gekommen war.
Die Ägyptologin Isis Just saß an ihrem Schreibtisch, las und bewertete die Hausarbeiten ihrer Studenten, die sie in der letzten Stunde vor der vorlesungsfreien Zeit zurückgeben wollte. Weit kam sie heute nicht, denn immer wieder schweifte sie mit ihren Gedanken ab.
Oliver wollte mit ihr während der Semesterferien verreisen. Leider hatte sie absolut keine Lust dazu. Es lag weniger an ihrem Freund, als an dem Urlaubsziel. Was sollte sie in der Dominikanischen Republik? Außer Wasser und Sand würde es dort wenig geben, von den Temperaturen ganz zu schweigen. Oliver wusste genau, wie sehr sie im Sommer über die Hitze klagte und nun sollte sie sich freiwillig solch mörderischen Temperaturen aussetzen? Das konnte nicht sein ernst sein.
Allerdings war Oliver seit seiner Erbschaft nicht mehr zu normalem Denken fähig. Mit Mühe hatte sie ihn davon abbringen können, seine Stelle an der Uni aufzugeben. Nur weil er einen knapp siebenstelligen Betrag geerbt hatte, musste man sein bisheriges Leben nicht hinschmeißen. Wer hatte ihm eigentlich so viel Geld vererbt? Hatte er ihr das erzählt? Sie konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, nur dass Oliver von einer Erbschaft geredet hatte.
Das Geld war schön und gut, aber sie machte es nicht wie ihr Freund, der mit seinem Reichtum angab. Als würde er nun zu einer neuen Gesellschaftsschicht gehören, wo er viel mehr als früher auf dem Konto liegen hatte. Dabei hatte sie ebenfalls eine relativ hohe Summe auf ihrem Sparkonto liegen und einige in Aktien angelegt. Das war vielleicht nicht ganz so viel wie der Betrag ihres Freundes, aber wenigstens gab sie mit dieser Summe nicht an. Dazu bekam sie jährlich als Anteilseignerin von der Firma ihres Vaters eine feste Summe ausbezahlt mit der sie gut hätte leben können, ohne sich in ihrem Lebensstil einschränken zu müssen. Dennoch arbeitete sie, obwohl ihr ausreichend zur Verfügung stand.
An der ganzen Sache mit Olivers Erbschaft gefiel Isis am allerwenigsten, dass Oliver immer öfter davon redete, eine Familie mit ihr gründen zu wollen. Sie konnte sich nicht als Mutter vorstellen, obwohl sie bereits die dreißig überschritten hatte. Dennoch verspürte sie nicht den Wunsch nach Kindern, hatte ihn nie gehabt. Nur wie sollte sie Oliver das begreiflich machen, ohne dass er es persönlich nahm?
Gerade hatten sie sich wieder angenähert. So ein Kind würde ihre Beziehung zerstören, auch wenn Oliver gegenteiliger Meinung war. Dabei wusste sie am besten wie es war, wenn die Eltern nur wegen des Kindes zusammenblieben.
Isis starrte auf die Seite der Hausarbeit, die sie gerade durchsah. Was hatte der Student noch geschrieben? Sie versuchte sich zu erinnern, es gelang ihr nicht.
Die Ägyptologin blätterte eine Seite zurück, konnte sich allerdings nicht auf das Geschriebene konzentrieren, weshalb sie die Hausarbeit schließlich zuklappte und vom Tisch aufstand.
Ich muss hier raus, auf andere Gedanken kommen, ging es ihr durch den Kopf.
Sie ging nach unten in die Küche, wo sie sich aus ihrer Kanne frischen Ingwertee eingoss. Diesen hatten sie heute Morgen vor dem Frühstück in einem Topf aufgekocht und anschließend in die Kanne umgefüllt, wo der Tee auf Zimmertemperatur abkühlte.
Warme Getränke mochte sie nicht. Es war eine unangenehme Erinnerung an ihre Kindheit, wo sie sich morgens immer an ihrem Pfefferminztee die Zunge verbrannt hatte. So etwas prägte.
Isis saß am Tisch und blätterte gelangweilt durch die Zeitung. Die Nachrichten schienen von Trump, Putin, Erdogan und dem SPD-Kanzlerkandidaten beherrscht zu werden. Gab es nichts anderes in der Welt? 500 Jahre Reformation, das musste auch nicht sein.
Hier war noch etwas anderes: Es war kaum möglich an Karten der Elbphilharmonie zu gelangen. Wer wollte dort schon freiwillig rein? Dort gingen nur Leute hin, die damit angeben wollten, in dem teuersten Bauwerk Hamburgs gewesen zu sein, aber keine wirkliche Ahnung von Musik hatten.
Sie würde dort nicht einmal reingehen, wenn sie Karten geschenkt bekäme. Für die Eröffnung vor drei Wochen hatte die Firma ihres Vaters Karten bekommen und er hatte angefragt, ob sie dort hingehen wolle. Sie mochte klassische Musik, hatte es aber, ohne darüber nachzudenken, abgelehnt. Zu Recht, wie sie heute wusste. Die Musik des Eröffnungskonzertes war grauenhaft gewesen. Die ganze Zeit über hatte sie die echten klassischen Werke vermisst. Nichts gegen Johannes Brahms oder Felix Mendelssohn Bartholdy, aber sie hatte die echten Klassiker erwartet: Mozart, Beethoven, Puccini, Verdi. Filmmusik konnte sie sich auf einer CD anhören. Irgendwann hatte die Ägyptologin die Live-Übertragung des Eröffnungskonzertes entnervt ausgeschaltet, sodass sie Beethovens Ode an die Freude verpasst hatte, die zum Abschluss erklungen war. Traurig war sie darüber nicht.
Die Elbphilharmonie wurde gefeiert und sie verstand nicht wieso. Wie konnte man einen Saal beklatschen, der an Überakustik litt, wo man in der ersten Reihe das Husten, Niesen oder Bonbonpapier rascheln der letzten Reihe noch hörte? Nein, Isis wollte nicht ins Innere der Elbphilharmonie und auch nicht auf die Plaza, wo angeblich ein Mangel an Damentoiletten herrschte. Bisher hatte sie immer gedacht, Männer hätten eine schwache Blase.
Die Ägyptologin hörte, wie jemand die Haustür aufschloss, diese öffnete und wieder schloss. Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass Mona es nicht sein konnte. Also handelte es sich um Karla, die sich mal wieder blicken ließ.
Isis stand auf und trat aus der Küche. Aus dem Flur kam ihr die Wissenschaftsjournalistin entgegen.
"Na, lässt du dich auch mal wieder blicken?", sagte Isis anstelle einer Begrüßung.
"Hab in Hannover zu tun, da ließ es sich einrichten. Das Bahnticket von Hamburg nach Hannover und wieder zurück ist billiger, als wenn ich dort übernachte."
"Sparen sie in deinem Verlag jetzt auch schon? Ich dachte, an der Wissenschaft solle nicht gespart werden."
"Damit sind keine Zeitschriften gemeint", erwiderte Karla. "Selbst wenn in die Wissenschaften investiert wird, dann nicht in alle, sondern in vereinzelte Forschungszweige, die besonders viel versprechende Ergebnisse voraussagen. Das ist viel zu wenig, aber besser als nichts."
"Dafür steht man allerdings unter Druck, Ergebnisse zu liefern - die richtigen Ergebnisse."
"Das müssen meine Kollegen und ich ebenfalls. Ich muss meine Artikel in einem bestimmten Zeitfenster schreiben und abliefern, während du Seminare vorbereiten und Hausarbeiten korrigieren musst."
"Hör mir bloß auf", sagte die Ägyptologin und winkte ab. "Ich werde nie begreifen, warum Lektoren ihren diesen Beruf ergreifen. Tagtäglich müssen sie sich mit Texten auseinandersetzen, sie bewerten oder überarbeiten. Das wäre nichts für mich. Wenn du wüsstest, was ich manchmal für Hausarbeiten bekomme. Schrecklich, sage ich dir. Als hätte ein Erstklässler etwas verfasst. Lass uns nicht darüber reden. Was für einen Termin hast du in Hannover?"
"Ich soll wegen Luther und der Reformation einen Professor für Kirchengeschichte interviewen."
"Du als Katholikin? Ist das dein Teil, den du zur Ökumene beiträgst?"
"Sehr witzig", meinte Karla und ging in die Küche. Als sie den kalten Ingwertee sah, rümpfte sie die Nase. Den mochte sie weder kalt noch warm und gegen Erkältungen half er auch nicht. Mit Mona hatte sie sich schon darüber unterhalten, dass die Ingwerknollen voller Pestizide und anderer Giftstoffe seien. Isis wollte davon nichts hören und beharrte darauf, dass sie nur Bio-Ingwer aus Peru kaufe. Der würde im Gegensatz zu chinesischem Ingwer garantiert keine Giftstoffe enthalten.
"Die haben mich genommen, weil ich in der Nähe von Hannover wohne und so das Übernachtungsgeld spare. Das habe ich dir eben erzählt."
"Du hast es allerdings nicht als Grund genannt, warum gerade du das Interview führen sollst", meinte Isis spitzfindig.
Der Hauptgrund war es tatsächlich nicht, nur ein weiterer Ausschlag gewesen, dass niemand außer ihr das Interview führen sollte. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Kollege sie begleitet hätte, obwohl sie sich natürlich über den Vertrauensbeweis freute, dass man ihr zutraute, so ein wichtiges Interview allein zu führen.
In einer Ecke hatte Karla eine volle Sinalco-Cola entdeckt, die sie an sich nahm. Außer ihr trank niemand Limonade, auch wenn sie Isis im Verdacht hatte, dass diese sich ab und zu mal an ihrem Vorrat bediente.
"Was willst du den Professor fragen? Ob Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche gehämmert hat?"
"Natürlich, denn es ist immer noch nicht genau geklärt, wie die Thesen eigentlich bekannt geworden sind. Von diesem Thesenanschlag berichtet nur Melanchthon, der allerdings nicht dabei gewesen ist. Er kam erst später, nach dem Ereignis, nach Wittenberg. Luther selbst hat sich dazu nie geäußert."
"War man sich nicht einig, dass irgendein Pedell der Wittenberger Universität das Schriftstück an der Kirchentür befestigt hat, damit Luthers Studenten es für eine Diskussionsrunde lesen konnten?"
"Was hat ein Pedant damit zu tun?", fragte Karla ratlos, die den Begriff Pedell nicht kannte.
"Pedant? Wie... Ach, du meinst den Hausmeister. Hast du nie die Pauker-Filme gesehen? Dort wird immer vom Pedell anstelle des Hausmeisters gesprochen. Am besten zeige ich an unserem Filmabend einen Streifen aus dieser Reihe. Die sind wirklich lustig. Es gibt da noch eine Buchreihe, wo auch das Schulleben aufs Korn genommen wird, aber lesen ist nicht sehen, obwohl die Bücher genauso lustig sind."
"Wieso musst du dauernd Fremdwörter benutzen? Sag doch einfach Hausmeister und jeder weiß, was gemeint ist."
"Kein Wunder, dass jemand aussterbende Wörter bewahren will, weil es mehr von deiner Sorte gibt. Die Theorie mit dem Hausmeister kennst du also auch schon. Schade."
"Irgendwo werde ich die gelesen haben. Ehrlich gesagt, finde ich das ein wenig unlogisch. Wieso hat Luther seine Thesen öffentlich aushängen lassen, wenn er sie nur mit seinen Studenten besprechen wollte? Genauso gut hätte er die Thesen auch in seinen Unterrichtsstunden verlesen können und dann hätte man darüber diskutiert - These für These."
"Ich glaube nicht, dass Luther sich fast ein Jahr lang damit beschäftigen wollte. Nein, er wollte wissen, wie seine Meinung zum Ablasshandel ankommt."
"Nee", sagte Karla entschieden. "Warum schickte Luther seine Thesen an den doppelten Erzbischof und den für Wittenberg zuständigen Bischof, wenn er sie erst danach an die Kirchentür hängt? Ich hätte es umgekehrt gemacht. Wenn ich Meinungen einfangen will, beginne ich nicht oben und arbeite mich dann nach unten. Das ist völlig unlogisch."
"Vielleicht wollte er die Thesen auch nie veröffentlichen."
"Du meinst, jemand anderes hat das getan?"
"Ja, kann doch sein. Vielleicht hat es ein Missverständnis gegeben und die Thesen wurden ausversehen ausgehängt oder Luther hatte auf der Straße ein Exemplar verloren und jemand, der des Lesens unkundig war oder kein Latein beherrschte, befestigte es an der Kirchentür, weil er oder sie dachte, dort würde derjenige es schon finden, der das bedruckte Blatt verloren hat."
"Oder jemand hatte gesehen, dass Luther es verloren hatte."
"Kann auch sein, aber dann bringt man es eher zum Kloster, als es woanders anzubringen. Vielleicht fürchtete der Finder, auf dem Papier stehe etwas Schlimmes drauf. Nur wieso heftet die Person es dann an die Kirchentür, wo die Bekanntmachungen für die Studenten stehen?", sagte Isis nachdenklich.
"Eine fremde Person hat die Thesen öffentlich gemacht. Genau, so wird es gewesen sein", meinte die Wissenschaftsjournalistin enthusiastisch. "Nicht Luther hat die Thesen veröffentlicht, sondern jemand anderes. Das muss ich mir unbedingt notieren und daraus eine Frage formulieren. Hoffentlich werde ich für diese Theorie nicht ausgelacht."
"Sollte das passieren, sagst du einfach, dass die Theorie von mir stammt. Ich kann mit Kritik umgehen. Ich ignoriere sie einfach."
Das konnte Karla nur zu gut bestätigen. Sagte man ihrer Freundin etwas, das diese nicht hören wollte, ging es beim einen Ohr hinein und beim anderen wieder raus.
"Sag mal, funktioniert dein Drucker? Bei meinem ist die Tintenpatrone leer."
Die Ägyptologin stöhnte. Karla würde sich nie ändern und so chaotisch bleiben, wie sie schon in der Schule gewesen war.
Universität Hannover
Karla war früh dran. Während der Fahrt hatte sie sich noch einmal informiert, wo sie ihren Gesprächspartner finden würde. Auf keinen Fall wollte sie orientierungslos durch die Gegend irren und in allerletzter Minute völlig verschwitzt zum Interview erscheinen.
Dieses Szenario war ihr noch nie passiert, dafür war es allerdings ihr größter Alptraum. Danach kam gleich, dass sie ihre Fragen vergessen hatte. Dies war ihr tatsächlich einmal passiert und ein Kollege hatte ihr die Datei mit den Fragen kurz vor dem Interview mailen müssen, was ziemlich knapp geworden war. Seitdem hatte sie die Fragen auf jede erdenkliche Art und Weise dabei, falls sie den Ausdruck wieder vergessen sollte.
Dass Universitäten immer so unübersichtlich waren. Jede Fakultät befand sich woanders, als würde sie sich für die Beste halten und sei mit den anderen verfeindet.
Gut, es kam noch hinzu, dass sie keine besonders gute Kartenleserin war. Mit der Navigations-App auf ihrem Smartphone fand sie problemlos von A nach B. Leider war das im Inneren von Gebäuden nicht möglich. Dort musste jeder selbst sein Ziel finden.
Nachdem sie mehrere Minuten auf den Gängen herumgeirrt war, fand sie endlich das Zimmer von Professor Dietz. Ein Blick auf ihr Smartphone sagte ihr, dass sie fast zehn Minuten zu früh war. Da ließ sie lieber noch ein paar Minuten verstreichen. Pünktlichkeit war wichtig, aber wenn man zu pünktlich kam, wurde einem das ebenfalls negativ ausgelegt, als würde man zu spät erscheinen.
Karla kramte aus ihrer Tasche ihr Tablet und schaltete es an. Nachdem endlich der Startbildschirm erschienen war, öffnete sie nach dem Entsperren eine Datei, die sie vorhin im Zug erstellt hatte.
Seit dem Gespräch mit Isis war ihr einfach nicht der Gedanke aus dem Kopf gegangen, Martin Luther hätte vielleicht gar nicht gewollt, dass seine 95 Thesen für alle Welt sichtbar veröffentlicht wurden. Na ja, alle hätten die Thesen gar nicht lesen können, weil sie entweder Analphabeten oder nicht des Lateinischen mächtig gewesen waren. Blieben nur die Studenten, die es unter der Bevölkerung weitergegeben hatten bis es in einer deutschen Übersetzung gedruckt und im ganzen Reich verbreitet worden war.
Das musste ein unglaubliches Risiko gewesen sein, weil die Kirche mit den Thesen gegen den Ablass nicht einverstanden sein konnte, wo es doch ein einträgliches Geschäft war, den Menschen das Geld abzuknöpfen. Mit einer Veröffentlichung geriet Luther nur in Schwierigkeiten und dennoch schien er es getan zu haben.
Seinen Studenten hingegen hätte er die Thesen während seines Unterrichts vorlesen können. Bereits vor der Veröffentlichung hatte er mit ihnen über eine frühere Fassung diskutiert. Warum machte er sich die Mühe, eine gedruckte Fassung bei den Bekanntmachungen der Universität anbringen zu lassen? Genügte ihm der überschaubare Kreis seiner Studenten nicht? Wollte er noch mehr ansprechen? Hatte er tatsächlich versucht, den Papst herauszufordern? Hätte er seine Kollegen zu einem Streitgespräch anregen wollen, ohne jedem einzelnen ein Exemplar der 95 Thesen zu schicken?
"Wollen Sie zu mir?", wurde Karla von einer männlichen Stimme aus ihren Gedanken gerissen. "Sind Sie Karla Urban?"
"Ja, die bin ich", sagte sie und sah den Mann an, der sie angesprochen hatte.
Von einem Lebenslauf über ihn wusste sie, dass Hermann Dietz Anfang sechzig war und Philosophie, Neuere Geschichte und Religionswissenschaften studiert hatte.
Bereits in seiner Promotion war es bereits um die Reformation gegangen. Zu dem Thema hatte er vor zehn Jahren einen dicken Wälzer herausgegeben, der vor kurzem in einer aktualisierten Auflage neu erschienen war.
Besonders beschäftigte er sich mit dem Thema, wie Reich und Kirche auf Luther und seine 95 Thesen reagiert hatten.
"Ich bin Hermann Dietz. Schön, dass Sie bereits da sind, dann können wir gleich beginnen."
"Sehr gern", erwiderte Karla unverbindlich.
Sie wartete bis der Professor die Tür seines Sprechzimmers aufgeschlossen hatte und sie hereinbat. Ihr Tablet hatte sie immer noch in der Hand, wie sie feststellte, als sie ihre Schultertasche abnahm.
Vorsichtig legte sie es auf den Schreibtisch des Professors, während sie aus ihrer Tasche die Mappe mit ihren Interviewfragen herausnahm. Im Laufe der Zeit hatte sie sich einige Dinge angeeignet, um nicht wie eine Anfängerin herüberzukommen. Die Interviewfragen kamen in eine Mappe und ihre Tasche war bis auf wichtige Utensilien wie einen Notizblock, einen Stift, ihrem Tablet und Taschentüchern völlig leer. Nichts wirkte unprofessioneller als eine übervolle Tasche mit lauter Krimskrams.
Sie nahm ihr Tablet vom Tisch und wunderte sich, dass es noch nicht von selbst ausgegangen war. Wie seltsam. Hatte sie die Einstellungen verändert oder warum ging es nach zwei Minuten ohne Bildschirmberührung nicht aus?
Sie warf einen kurzen Blick auf Dietz und sah, wie er sie nachdenklich beobachtete.
Hatte er etwa gelesen, was ihr Tablet angezeigt hatte? Sollte er ihre wirren Gedanken zu dem Thema, ob Martin Luther tatsächlich selbst die Thesen veröffentlicht hatte oder es ein anderer gewesen war, gelesen haben? Hoffentlich nicht! Wie sollte der Professor sie für eine ernstzunehmende Journalistin halten, wenn sie sich über so etwas Gedanken machte?
Sie hätte das Tablet nie offen auf den Schreibtisch legen dürfen. Jetzt war es zu spät, um es rückgängig zu machen.
Karla aktivierte die Aufnahmefunktion ihres Smartphones und legte es auf den Schreibtisch. In der Redaktion gab es noch digitale Aufnahmegeräte, aber sie hatte noch nie eines davon ausgeliehen. Ihr Smartphone lieferte eine genauso gute Qualität ab wie die digitalen Aufnahmegeräte. Die Aufnahmedateien konnte sie später auf eine SD-Karte verschieben. So hatte sie alle sofort zur Hand, falls einer ihrer Gesprächspartner später der Meinung sein sollte, er hätte etwas nicht so gesagt, wie sie es geschrieben hatte. Vor Jahren sollte mal jemand die aktuelle Kandidatin für den ESC für unwürdig gehalten haben. Das Interview war deshalb durch ganz Deutschland gegangen und diskutiert worden. Erbost hatte sich die Person beim zuständigen Chefredakteur gemeldet und behauptet, sie hätte das nie gesagt. Die Tonaufnahme des Interviews bewies etwas anderes. Von der Klobürste hatte man seitdem nie wieder etwas gehört.
"Mit dem Anschlag der 95 Thesen hat Luther eine Art Revolution entfacht."
"Revolution kann man das nicht nennen", wurde sie von Dietz unterbrochen.
Karla gefiel es nicht unterbrochen zu werden, ließ sich ihren Unmut nicht anmerken, sondern wartete auf die Ausführungen ihres Gesprächspartners. Ihre Frage würde sie immer noch stellen können.
"Eine Revolution ist ein gewaltsamer Umsturz, wie er 1789 in Frankreich stattgefunden hat. Die 95 Thesen haben das auf den Punkt gebracht, was einige seit längerem hinter vorgehaltener Hand gesprochen hatten. Doch gegen die Kirche wagte sich niemand aufzulehnen, weil man immer den Kürzeren gezogen hat. Das war ein gefährlicher Gegner mit dem man sich am besten nicht anlegte, um nicht als Ketzer gebrandmarkt zu werden."
"Hat Martin Luther also Mut bewiesen, indem er offen den Ablasshandel und damit auch die katholische Kirche kritisiert hat?"
"Er hat nicht gewollt, dass alle Welt es erfährt, weil er sich des Risikos bewusst war, was da für Strafen auf ihn hätten zukommen können. Nur weiter zusehen wollte er auch nicht, weshalb er an den für Wittenberg zuständigen Bischof Hieronymus Schulze schrieb und an Erzbischof Albrecht von Brandenburg. Nichtsahnend, dass der zweifache Erzbischof an den Ablässen selbst gut verdiente, um seine Schulden bei den Fuggern begleichen zu können." Hermann Dietz fasste sich ans Kinn. "Wir wissen nicht genau, was Luther damals wirklich vorhatte. Vielleicht wollte er den Menschen tatsächlich die Augen öffnen, möglicherweise war die Veröffentlichung einfach nur ein Versehen. So streitbar wie er später war, ist er anfangs nicht aufgetreten. Nachdem die Thesen bekannt wurden, fürchtete er sich vor den Konsequenzen, aber nachdem selbst sein Orden hinter ihm stand, war es, als habe eine Verwandlung mit ihm stattgefunden. Er hat sich nicht mehr den Mund verbieten lassen, auch wenn andere es für besser hielten zu schweigen. Es scherte ihn nicht mehr, sich mit einem mächtigen Gegner anzulegen. Ob Papst oder Kaiser, es war ihm egal, solange Gott seine schützende Hand über ihn hielt. Ihm dürfte das Risiko bewusst gewesen sein und dennoch hat er nicht mehr geschwiegen oder einfach den Kopf eingezogen. Er wollte den Menschen die Augen öffnen, deshalb verfasste er seine Schriften auch auf Deutsch und nicht auf Latein, damit ihn jeder verstehen konnte."
"Wie kommt es, dass er seine 95 Thesen auf Latein veröffentlichte? War das nicht Umständlich, weil ein Großteil der Menschen diese Sprache nicht gesprochen oder verstanden haben dürfte."
"Genauso wie der Rest weder Lesen und Schreiben konnte, dennoch kannten viele einfache Arbeiter seine Schriften. Bei den Thesen ist es etwas komplizierter. Natürlich wäre es einfacher gewesen, diese auf Deutsch zu verfassen, aber Luther wollte erst einmal nicht die Allgemeinheit erreichen, sondern forderte ein Streitgespräch, wo über den Ablasshandel diskutiert werden konnte, ob dieser nun Teufelswerk oder Gottes Wille sei. Deshalb wurden die Thesen erst an Albrecht von Brandenburg und Hieronymus Schulz geschickt. Die beiden waren im weiteren Sinne Luthers Vorgesetzte. Er hat nichts dem Zufall überlassen."
"Würde Luther in der heutigen Zeit genauso Erfolg haben wie damals oder in der Masse untergehen?", kam die Wissenschaftsjournalistin endlich zu ihrer eigentlichen Frage zurück.
"Heutzutage gibt es viele Möglichkeiten, um Missstände aufzudecken. In einem Blog könnte Luther seine Thesen veröffentlichen oder jede der 95 Thesen einzeln auf Facebook stellen oder dieses Fotoportal benutzen. Allerdings glaube ich kaum, dass Luther damit größere Aufmerksamkeit erregen würde. Wahrscheinlich würde man ihn als Spinner betrachten und nicht weiter darauf achten, was er schreibt oder postet. Vielleicht würde man ihn auch ganz einfach bei Facebook melden, weil er christliche Werte oder was auch immer in Frage stelle. Wenn es ganz schlimm käme würde sein Account gelöscht werden.
Heutzutage ist es viel schwerer, auf etwas aufmerksam zu machen und lange genug im Gespräch zu bleiben, um längerfristig etwas zu erreichen. Sekündlich werden wir von neuen Nachrichten erschlagen, können nicht einschätzen, wie wichtig das Ganze ist. Wir filtern aus all den Sachen die Dinge heraus, die uns wichtig erscheinen. Zu Luthers Zeit hat es nicht einmal Zeitungen gegeben. Diese kamen erst ein Jahrhundert später auf. Allerdings denke ich schon, dass Martin Luther, wenn er jetzt leben würde, einen Weg fände, um sich Gehör zu verschaffen, dessen Aufmerksamkeit nicht bereits nach wenigen Tagen verebben würde. Ein Kurzfilm, eine Dokumentation, vielleicht auch ein Artikel von renommierten Kirchenrechtlern, die ihn in seinen Thesen unterstützen. Dazu markante Sprüche, die einem im Gedächtnis blieben.
So könnte er sich Gehör verschaffen, nur muss er immer wieder nachlegen, weil sonst das Interesse der Öffentlichkeit nachlässt. Vor fünfhundert Jahren hat Luther das relativ neue Medium Buchdruck für sich entdeckt und die Druckerpressen für sich genutzt, um schnell immer wieder nachlegen zu können. Heutzutage würde er stattdessen die sozialen Netzwerke nutzen."
"Waren diese Drucke nicht teuer? Ein einfacher Arbeiter hätte sich nicht einmal eine Bibel leisten können, falls er lesen konnte."
Dieses Mal hatte Karla darauf geachtet, dass sie den hohen Analphabetenanteil der damaligen Bevölkerung erwähnte. Im Gegensatz zu heute war der Anteil der Analphabeten deutlich höher gewesen, was sich erst mit der Reformation geändert hatte.
"Wegen des Preises hat Luther seine Traktate äußerst kurz gehalten. Diese ließen sich schnell drucken und waren für fast jedermann erschwinglich. Seine Werke wurden den Druckern förmlich aus den Händen gerissen und erreichten mehrfache Auflagen. Die einfachen Arbeiter konnten zwar nicht lesen, aber ihnen wurde mündlich wiedergegeben, was in den Schriften stand. Da stand irgendwo jemand und hat daraus vorgelesen. Den ganz normalen Menschen wollte Luther erreichen, der alles glaubte, was ihm die Kirche sagte und vorschrieb, ob es nun richtig oder falsch war. Diese Leute sparten sich das Geld für einen Ablass vom Munde ab, damit ihre Eltern oder andere Familienmitglieder nicht ewig im Fegefeuer ausharren mussten. Man stellte sich dies als einen ganz furchtbaren Ort vor, wo jeder für seine im Leben begangenen Sünden zu leiden hatte."
"Ist das nicht eher eine Denkweise des Mittelalters?", wich Karla nun völlig von ihrem Fragenkatalog ab, aber wenn man irgendwo nachhaken konnte, sollte man es tun. Den Rat eines inzwischen pensionierten Kollegen hatte sie nie vergessen, den er ihr in den ersten Wochen ihres Praktikums mit auf den Weg gegeben hatte.
"Dass die Seele eines Verstorbenen im Fegefeuer brennen muss, ist tatsächlich eine Erfindung der Neuzeit", gab Professor Dietz zu. Allerdings hat man es früher als gegeben hingenommen, dass die Seele im Fegefeuer gereinigt wurde. Man versuchte ein gottgefälliges Leben zu führen. Das war nicht immer möglich, aber im Großen und Ganzen hielt man sich an die Vorgaben der Kirche. Doch im Laufe der Zeit begannen sich die Menschen regelrecht vor der Hölle und dem Fegefeuer zu fürchten. Das wurde natürlich von den Priestern geschürt, vor allem nachdem in Rom beschlossen wurde, den Petersdom zu bauen und Albrecht von Brandenburg, sein zweites Erzbistum bekommen hatte. Dafür brauchte es Geld und das wollte man mit einem Ablass einnehmen, der einen selbst, Verwandte oder bereits verstorbene Familienmitglieder aus dem Schlund des Fegefeuers direkt ins Paradies brachte. Besonders Johann Tetzel brachte mit seinen Argumenten und Sprüchen die Menschen dazu, die Ablässe zu kaufen. Er ging sogar so weit zu behaupten, man sei künftig von allen Sünden befreit, egal was man getan habe und das man auch keine weiteren Sünden begehen kann, auch wenn man kein gottgefälliges Leben führen sollte. Die Menschen waren wie paralysiert. Man konnte sündigen und war dennoch vor Hölle und Fegefeuer gefeit. Durch den Ablass musste man einfach nur noch einmal zur Beichte gehen und sich von allen Sünden freisprechen lassen, schon war alles gut."
Karla wunderte sich über die Naivität der Menschen damals. Heute fürchtete sich niemand mehr vor der Hölle und das Fegefeuer war den meisten unbekannt. Jetzt galt es zu vermeiden, Opfer eines Shitstorms zu werden.
Generell kann man nicht von Mittelalter und Neuzeit unterscheiden. Die Hexenverbrennungen werden gern als mittelalterlich bezeichnet, dabei ist zu Zeiten des Mittelalters, als grob gesagt bis Ende des 15. Jahrhunderts, kaum jemand wegen Hexerei angeklagt worden. Vereinzelte Fälle mag es gegeben haben, aber mehr ging man gegen Ketzer vor, wie die Katarer, die das Leitbild der katholischen Kirche bedrohten und deshalb ausgemerzt werden mussten. Die eigentlichen Hexenverbrennungen begannen erst nach der Reformation, vor allem in Gebieten mit protestantischem Glauben. Die letzte Hexe wurde im 18. Jahrhundert verurteilt. Wir können uns nicht vorstellen, dass solch angeblich mittelalterliches Denken in der Neuzeit geschehen ist."
Karla hatte von Hexenverbrennungen wenig Ahnung. Das einzige Mal, wo sie mit dem Thema zu tun hatte, war während des Englisch-Unterrichts in der Oberstufe gewesen. Damals hatten sie ein Theaterstück lesen müssen, das in Neuengland spielte. Die Ereignisse, die dort geschildert wurden, hatten im 17. Jahrhundert tatsächlich stattgefunden. Das war auch nicht zu Zeiten des Mittelalters gewesen.
Sie begann zu frösteln. Hatte erst die Glaubensspaltung zu solchen Gräueltaten geführt?
Das wäre ein Thema für sich, was sie jetzt nicht vertiefen wollte. Vielleicht konnte sie später einen Artikel darüber schreiben. Kritik an der Reformation konnte man in einem zweiten Interview üben. Jetzt ging es allein um Martin Luther und seinen Thesenanschlag, der später zur Kirchenspaltung geführt hatte.
Karla stellte ihre Fragen, hakte nach oder kam spontan zu neuen Fragen, die sich aus den Antworten des Professors ergaben.
Schließlich war sie bei der letzten Frage angelangt, die sie gestern noch spontan hinzugefügt hatte: "Wie sind Ihrer Meinung nach die 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche gekommen? War es Martin Luther selbst, der sie dort angeschlagen hat oder sind sie dort gar nicht angeschlagen worden?"
Das Gesicht des Professors hellte sich auf. Offensichtlich freute er sich über diese Frage.
"Nein, Luther ist es nicht gewesen", antwortete er. "Wenigstens weiß man, dass die Thesen tatsächlich an die Kirchentür angeschlagen wurden, als man vor zehn Jahren ein Schriftstück von Luthers Assistent Georg Rörer gefunden hat. Bis dahin hielt man auch den Anschlag für eine Legende. Auch wenn das stimmen mag, ist es Luther nicht gewesen", bekräftigte er noch einmal.
Mit dieser Antwort stand Hermann Dietz nicht allein. Inzwischen vertrat die Mehrheit der Historiker die Ansicht, dass es nicht Luther gewesen war, der die Thesen an der Kirchentür angebracht hatte. Eine schöne Legende, wie der Professor eben gesagt hatte. Nur was ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass der streitbare Mönch nicht selbst Hand angelegt hatte?
"Melanchthon schrieb allerdings, dass es Luther gewesen wäre."
"Ist er dabei gewesen? Wurde er Augenzeuge der Tat? Nein, Melanchthon kam erst anderthalb Jahre später nach Wittenberg und ist damit kein Augenzeuge der Tat gewesen. Es dürfte so gewesen sein, dass ein Angestellter der Universität, der Pedell, den Auftrag bekommen hatte, die Thesen auszuhängen, damit Luthers Studenten sie lesen und später darüber diskutieren konnten oder die anderen Gelehrten der Universität sollten auf diesem Weg Kenntnis davon erhalten. Man darf nicht vergessen, dass Martin Luther eine Disputation, ein Streitgespräch anstrebte. Eine Kirchenspaltung wäre ihm nie in den Sinn gekommen, wie es später geschehen ist."
"Die Thesen waren brisanten Inhalts. Warum hätte Luther das Risiko eingehen sollen, sie zu veröffentlichen? Er musste damit rechnen, dass auch andere diese Thesen gegen den Ablasshandel lesen würden. Darunter hätten sich Menschen befinden können, die ihm Böses wollten. Vor allem hatte er bereits 97 Thesen in der Universität herumgehen lassen. Warum machte er sich die Mühe, noch einmal 95 neue zu schreiben und diese dann öffentlich aushängen zu lassen. Das Risiko sich mit einem Gegner anzulegen, gegen den er sich nicht wehren konnte, wäre viel zu groß gewesen."
"Das wird er bedacht haben, weshalb er die Thesen auf Latein verfasste. Es war die Sprache der Gelehrten. Nur Studenten, Professoren und Kirchenmänner und -frauen waren des Lateinischen mächtig. Keine Gefahr, dass die einfachen Leute eine Zeile seiner Thesen hätten lesen können."
"Ist das nicht das seltsame an der ganzen Sache, dass Luther die Thesen auf Latein veröffentlichte, seine Studenten allerdings auf Deutsch unterrichtete? Hätten die Thesen dann nicht auch auf Deutsch verfasst sein müssen?"
"Ich sehe, dass Sie sich Gedanken gemacht haben", begann der Professor.
Kunststück, dass hast du längst gewusst, ging es der Wissenschaftsjournalistin durch den Kopf. Mein Tablet lag gut sichtbar auf dem Tisch herum.
"Das mag an dieser Stelle tatsächlich etwas seltsam erscheinen. Allerdings muss man bedenken, dass es sich nicht um das private schwarze Brett des Martin Luther handelte, sondern an dieser Stelle die Bekanntmachungen der Universität Wittenberg ausgehängt wurden. Deshalb musste sich Luther der lateinischen Sprache bedienen, um nicht anzuecken. Dass er seinen Unterricht auf Deutsch hielt, wurde schon nicht gern gesehen. Hätte er weiter aus der Reihe getanzt, hätte er sich noch mehr Feinde machen können. Bei den Bekanntmachungen musste er sich an geltendes Recht halten."
"Genauso gut hätte er die Thesen in seinem Unterricht umhergeben können, anstelle sie öffentlich auszuhängen. Er muss sich doch der Brisanz seiner Worte bewusst gewesen sein."
"Mit seinen Studenten hatte er bereits eine Vorversion seiner Thesen besprochen aus denen schließlich die 95 Thesen wurden. Möglicherweise sollten sie sich das Endergebnis ansehen und bei der nächsten Stunde sagen, was sie davon hielten."
"Dann brauchte er sie doch nicht mehr öffentlich aushängen lassen", sagte Karla und wirkte ratlos. Das erschien ihr vollkommen unlogisch. Es sei denn, Luther habe sie nicht veröffentlichen wollen.
"Wie gesagt, er hatte seine Thesen noch einmal überarbeitet. Ursprünglich waren es siebenundneunzig gewesen, danach waren es zwei weniger. Es mag vielleicht keinen großen Unterschied gemacht haben, ob es nun siebenundneunzig oder fünfundneunzig sind, aber Luther musste bei diesen Thesen gegen den Ablasshandel sicher sein, dass er durch nichts widerlegt werden konnte. Er hat später, als er widerrufen sollte, gesagt, dass er es nur tue, wenn die Bibel seine Worte widerlegen könne. Das war nicht möglich, weil Luther alles gut durchdacht hatte. Luther war sich die ganze Zeit im Klaren, welchen Zündstoff seine 95 Thesen bargen und dass er von der katholischen Kirche exkommuniziert werden könnte. Aus seiner Sicht tat er das richtige. Er wollte die Menschen zurück zum wahren Glauben bringen, ihnen bewusst vor Augen führen, dass der Ablasshandel der falsche Weg sei. Einen Ablass zu erwerben, um einige Jahre weniger im Fegefeuer verbringen zu müssen, dagegen hatte Luther nichts. Er besaß selbst solche Ablässe, aber ihn störte dieser inflationäre Handel. Dagegen hat er sich aufgelehnt."
"Damit hat er die Kirche in zwei christliche Glaubensrichtungen gespalten."
"Was, wie gesagt, nie Luthers Absicht gewesen ist. Dass es am Ende so gekommen ist, ist zum Teil auch der Sturheit der katholischen Kirche zu verdanken. Sie hielten an einem starren Welt- und Glaubensbild fest, das noch aus einer Zeit datierte, wo die Kirche der rettende Anker in der Düsternis gewesen ist. Doch der Fortschritt hielt Einzug im Leben der Menschen, aber die katholische Kirche erstarrte und passte sich nicht an. Luthers Kirchenbild, aus dem später die protestantische Kirche wurde, war weltlicher, offener und die Predigten wurden auf Deutsch gehalten. Man verstand, was man sagte. Das Vaterunser war auf einmal nicht nur etwas, was man zu lernen oder nach der Beichte auf Latein zu beten hatte. Man verstand jedes Wort und es erschloss sich einem der Sinn. Es war ein Glaube zum Anfassen."
"Wenn Luther seine Thesen an der Wittenberger Schlosskirchentür aushängen ließ, warum hat er zeitgleich zwei Briefe desselben Inhalts an Albrecht von Brandenburg und Hieronymus Schulz geschickt? Hätte er nicht erst einmal auf Antwort warten müssen, bevor er die Thesen aushängen ließ?"
"Edelleute und Bischöfe hatten in der damaligen Zeit ihre Sekretäre so wie es Politiker oder Schauspieler heutzutage haben, die die Briefe vorsortieren und manche davon selbst bearbeiten. Luthers Brief wäre mit ziemlicher Sicherheit in die zweite Kategorie gefallen. Er war ein unbedeutender Augustinermönch, der in einer relativ jungen Universitätsstadt lehrte. Vielleicht war er schon irgendwie aufgefallen, aber wieso fing er nun an gegen den Ablasshandel zu wettern? Am besten beachtete man es nicht weiter und der aufmüpfige Mönch würde schon verstummen."
Ein Brief an Friedrich den Weisen wäre klug gedacht gewesen, denn in seinem Herrschaftsgebiet war der Ablasshandel verboten. Er hätte sich dafür einsetzen können, dass andere Fürsten es ihm gleich täten, denn um Friedrichs Herrschaftsgebiet war der Ablasshandel erlaubt. Jüterbog wie Zerbst lagen in der Nähe. Dorthin kamen diejenigen, die einen Ablass begehrten. Friedrich der Weise, sah es nicht gern, aber so weit reichte sein Einflussbereich nicht aus, außerdem wollte er sich die katholische Kirche auch nicht völlig zum Feind machen, wo er mit Reliquien handelte. Das mag paradox erscheinen, aber Friedrich sah daran nichts Verwerfliches. Manche finden es seltsam, dass er seine schützende Hand über Luther gehalten hat, da dieser mit seinen Worten auch den Reliquienhandel in Mitleidenschaft hätte ziehen und damit hätte gefährden können. Wahrscheinlich erkannte er als erster, dass die Menschen den Worten Luthers Glauben schenkten und es besser war, ihn zu schützen, als ihn zu bekämpfen. Als Herrscher möchte man friedliche Untertanen und keinen wilden Mob, der gegen die Obrigkeit aufbegehrt, weil diese versucht, einem Mann das Maul zu stopfen, der die Missstände der Kirche aufdeckt, die ein Teil des eigenen Lebens sind.
Die Briefe allein hätten es nicht getan. Luther konnte sich nicht einmal sicher sein, ob sie überhaupt gelesen würden. Möglicherweise hat er sie nur abgeschickt, sagen zu können, er habe seine Vorgesetzten informiert. Was die letztlich daraus machten, blieb ihnen überlassen. Er strebte erst einmal eine Disputation an. Wenn Luther wirklich wollte, dass sich etwas ändert, hätte er die Thesen irgendwann veröffentlichen müssen."
"Irgendwann, aber doch nicht zusammen mit den Briefen."
"Ja, das ist ein wenig seltsam und hat immer schon Anlass für Spekulationen gegeben. Vielleicht ist es ein dummer Zufall gewesen, dass die Thesen so früh an die Öffentlichkeit drangen, eventuell war es ein anderer, der die Thesen veröffentlicht hat. Möglicherweise wollte jemand Luther schaden. Wir wissen es nicht. Luther selbst hat sich nie dazu geäußert."
"Ist das nicht merkwürdig? Er spaltet eine Kirche und dann redet er nicht über den Ausgangspunkt, der den Stein buchstäblich ins Rollen gebracht hat?"
"Das ist in der Tat merkwürdig, weshalb lange umstritten war, ob die 95 Thesen tatsächlich an die Kirchentür genagelt wurden. Man kam zu dem Schluss, dass es nur eine Legende sei. Später wurde diese Ansicht revidiert, aber man hat weiterhin Abstand davon genommen, dass Luther es selbst gewesen ist, der die 95 Thesen an die Kirchentür nagelte. Es wird ein Bediensteter der Universität gewesen sein, am wahrscheinlichsten der Pedell, dem die Aufgabe zukam, Bekanntmachungen am Portal zu befestigen."
"Oder es war jemand von dem wir nichts wissen und über den die Quellen schweigen", fügte Karla hinzu.
Professor Dietz lächelte verschmitzt, sagte dazu aber nichts.
Es schien Karla. Als hätte ihm ihre Frage gefallen.
Weitere Fragen hatte sie nicht mehr und beendete das Interview. Als sie die Aufnahmefunktion ihres Smartphones beendete, fiel ihr Blick auf die Uhrzeit. Mehr als eine Stunde hatte sie den Professor interviewt. Dabei war ihr das Gespräch gar nicht so lang vorgekommen. Sie hätte schwören können, dass sie erst vor fünf Minuten begonnen hätten.
So ein kurzweiliges Interview führte sie selten. Es war ein wenig verwunderlich, weil sie sich für das Thema gar nicht interessierte. Aber manche Menschen verstanden es vorbildlich, ihr Gegenüber zu unterhalten, während andere nicht einmal den Mund aufzumachen brauchten und man langweilte sich bereits.
Als Hermann Dietz sie zur Tür begleitete, nahm er noch einmal den Faden ihrer letzten Diskussion des Gesprächs auf.
"In einer Quelle, die heute nicht mehr existiert, soll es geheißen haben, dass einer der beiden Verfasser die Thesen an der Kirchentür angebracht habe."
"Einer der zwei Verfasser?", sagte Karla verwundert. Sie war stehen geblieben und sah den Professor an. Was wollte er ihr damit sagen? "Heißt das, Martin Luther habe gar nicht allein die 95 Thesen aufgestellt?"
"Wie gesagt, dass soll in einer verloren gegangen Quelle gestanden haben", meinte der Professor geheimnisvoll.
Die Wissenschaftsjournalistin hatte das Gefühl, er wolle noch etwas hinzufügen, zog es dann aber doch vor zu schweigen.
Nun gut, dann eben nicht. Sie war eben nur eine Wissenschaftsjournalistin, die von Geschichte eigentlich keine Ahnung hatte und von Religionsgeschichte noch viel weniger.
"Schade", sagte Karla enttäuscht, "das hätte interessant sein können."
"Der Meinung bin ich auch. Vielleicht findet man diese Quelle eines Tages wieder und kann sie auswerten."
"Vielleicht sollten Sie meine Freundin damit beauftragen", meinte Karla scherzhaft. "Die ist zwar Ägyptologin, findet aber alte Dinge, die Jahrhunderte verborgen waren. Wie sie das macht, weiß ich nicht, aber sie scheint die Dinge anzuziehen wie ein Magnet."
"Sie meinen nicht etwa Isis Just?", sagte der Professor belustigt, der es für einen großen Zufall hielt, dass die Journalistin mit der Ägyptologin bekannt war. Isis Just war die einzige im Alter von Karla Urban, die alle paar Monate in den Medien auftauchte, weil sie einen bedeutenden Fund gemacht hatte.
Diese Reaktion verwunderte die Wissenschaftsjournalistin. Die meisten reagierten gar nicht auf ihren Kommentar und wenn doch, waren sie eher negativ eingestellt.
"Genau ebendiese", erwiderte sie.
"Wie es ihr gelungen ist, Casanovas sterbliche Überreste ausfindig zu machen, sensationell. Darauf wäre nie jemand gekommen."
An diese Episode mochte Karla Urban nicht gerne zurückdenken, weil sie dabei fast gestorben wäre und es keine Hilfe in der näheren Umgebung gegeben hatte. Sie waren damals irgendwo im Nirgendwo gelandet.
Im Grunde genommen war es auch nicht die Idee ihrer Freundin gewesen, sondern Monas Einfall. Isis hatte nur die losen Enden verknüpft, die Vorarbeit hatten andere geleistet. In der Normalität kam das öfters vor, aber ihre Freundin wurde am Ende mit dem jeweiligen Fund in Verbindung gemacht. Mona und sie störte das wenig. Als der Fund des Zarenschatzes bekannt geworden war, hatte sie einige unruhige Wochen gehabt und verstand nun, warum Isis diesen Ruhm ablehnte.
"Ich schicke Ihnen das Interview zu, wenn ich es abgetippt habe", sagte die Wissenschaftsjournalistin. Sie wollte nicht weiter über Isis und über Casanova sprechen. Es weckte zu viele böse Erinnerungen in ihr. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht über die Stelle zu streichen, wo sie sich damals verletzt hatte.
Bei Interviews verfuhr Karla immer so, dass sie das fertig abgetippte Gespräch noch einmal zur Überprüfung abschickte. Damit gab sie dem Befragten die Gelegenheit, unerwünschte Passagen zu streichen. Manche verstanden ihre Aufforderung falsch und fügten noch etwas hinzu, was über das normale Maß hinausging. Diese Fragen und Antworten strich sie dann ganz aus dem Interview, wenn diese nicht etwas wirklich Wichtiges enthielten. War es etwas Relevantes durfte es bleiben - in der vorherigen Version, die sie auf Tonband hatte.
"Tun Sie das. Sie haben sehr interessante Fragen gestellt, die über das normale Maß hinausgingen."
Karla fühlte sich geschmeichelt und nickte dem Professor kurz zu. So ein Lob hatte sie bisher noch nie bekommen und sie hatte in den letzten Jahren bereits einige Interviews geführt.
Wittenberg, Augustinerkloster, 31. Oktober 1517
Martin Luder öffnete die Augen und hoffte, endlich aus seinem Alptraum zu erwachen.
Von draußen drängten aufgeregte Stimmen an sein Ohr. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Der Alptraum war Realität.
Wer hatte seine Thesen am Portal der Schlosskirche angebracht? Sie sollten dort nicht hängen! Sichtbar für jeden der Lesen konnte und des Lateinischen mächtig war. Das war falsch!
Erst sollten Erzbischof Albrecht und Bischof Hieronymus darüber befinden, danach konnten sie immer noch veröffentlicht werden. Die Obrigkeit musste gegen den Ablasshandel vorgehen. Was verstand der einfache Tagelöhner schon davon? Dieser tat nur das, was die Mehrheit wollte, hatte aber keine eigene Meinung, stattdessen glaubte er den Stimmen, die ihm einflüsterten, er müsse seine Lieben aus dem Fegefeuer befreien. Für klingende Münze, denn umsonst war nur der Tod.
Seine Pläne waren über den Haufen geworfen worden. Er würde sich rechtfertigen müssen. Nun gut, damit konnte er leben. Eigentlich hatte er nichts Unrechtes getan, hatte nur den Ablasshandel kritisiert, der wider Gottes Willen war.
Er fragte sich nur, wer der Übeltäter gewesen war, der seine Thesen am Portal der Schlosskirche angebracht hatte? Hatte der Drucker heimlich ein weiteres Exemplar angefertigt und es anschließend dort aufgehängt? In wessen Auftrag war das geschehen? Hatte er nach seinem eigenen Gutdünken gehandelt? Nein, den Drucker und seine Angestellten schloss er aus. Von denen war es niemand gewesen, zu groß die Gefahr, dass ihnen ihr unüberlegtes Handeln schaden könnte. Sie würden nicht einmal im Auftrag handeln, aber vielleicht hatten sie ein Exemplar mehr gedruckt, als ihm bekannt war. Nur wer wusste noch von den Thesen außer ihm? Es gab niemanden. Nein, das stimmte nicht ganz, denn eine Person hatte ihn beim Schreiben der Thesen unterstützt. Niemand außer Gregor wusste, dass er die Thesen drucken und dann verschicken würde.
Mit ihm hatte er sich mehrfach über den Ablasshandel unterhalten, darüber geklagt, wie die Menschen ihr letztes Geld für ein nutzloses Stück Papier ausgaben, weil sie das Fegefeuer fürchteten und fortan und für immer davon befreit sein wollten. War es nicht Gregor gewesen, der ihn dazu ermutigt hatte, Worte gegen den Ablasshandel zu finden? Hatten sie nicht diskutiert, oft nächtelang? Nur Gregor wusste von diesen Thesen und er hatte getobt, als er erfuhr, dass die Thesen an Erzbischof Albrecht und Bischof Hieronymus geschickt werden sollen. Gregor hatte sie veröffentlichen wollen, damit die Menschen davon erführen, damit nicht Sodom und Gomorrha auf Erden ausbrachen. Wie unvernünftig! Man musste erst die Obrigkeit informieren, schließlich säumte man ein Pferd auch nicht von hinten auf.
Wenn es einer gewagt hatte, das Thesenpapier zu veröffentlichen, war es Bruder Gregor gewesen. Er hatte ihm vertraut und dieser Kerl hatte ihn hintergangen.
Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, was er damit angerichtet hatte, sondern freute sich über seine Tat und dass er ihm eins ausgewischt und die Thesen am Aushang angebracht hatte.
Martin Luder stürzte aus seiner Zelle, wo er sich seit dem Morgen verkrochen hatte, und suchte die Bibliothek auf, wo Bruder Gregor arbeitete.
"Bruder Martin, welche Ehre dich zu sehen. Hast du schon gehört? Unsere Thesen sind in aller Munde", sagte sein Mitbruder anstelle einer Begrüßung. Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Verwundert blinzelte Luder.
Unsere Thesen? Wie kam Bruder Gregor darauf, dass es auch seine wären? Nicht sein Mitbruder hatte sie erdacht und aufgeschrieben, sondern er allein. Er allein!
"Bist du für die ganze Aufregung verantwortlich?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen. "Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Erst wird die Obrigkeit informiert und zu einer Disputation aufgefordert, dann werden sie den Universitätsgelehrten überbracht und erst danach gehen die 95 Thesen ans gemeine Volk. Du Nichtsnutz hast alles kaputt gemacht."
Das Lächeln in Gregors Gesicht wurde breiter. Am liebsten hätte er es ihm herausgeprügelt, doch beherrschte sich. Er würde genug Ärger am Hals haben, konnte sich keinen weiteren erlauben. Außerdem kam ihm wieder das missglückte Duell in den Sinn. Nie wieder wollte er jemandem körperlich Gewalt antun. Er büßte dafür genug.
"Nenne mich ruhig einen Nichtsnutz, aber ich habe nichts Unrechtes getan. Die Menschen mussten über diesen Teufelshandel informiert werden. Sie sind die Opfer, denen das Geld genommen wird und die durch die Ablässe verdorben werden. Wie sollen sie noch ein gottesfürchtiges Leben führen, wenn ihnen die Sünden für alle Zeiten erlassen werden? Die Gesellschaft wird verkommen. Niemand wird mehr in die Kirche gehen. Du wirst in einer leeren Kirche predigen."
Erbost schüttelte Luder den Kopf. Wie hatte er sich nur dermaßen hinters Licht führen können? Er wusste doch, wie fanatisch sich Gregor mit dem Thema auseinandersetzte.
"Ich habe geglaubt, du würdest mich verstehen, aber das war ein Irrtum", begann er.
"Wir sind auf einer Seite, Bruder Martin. Das Böse hat dem Papst eingeflüstert, dass er sich mit dem Erlös aus den Ablässen einen Palast bauen kann, der prächtiger sein wird als das schönste Schloss des Kaisers. Doch niemand kann sich von seinen Sünden freikaufen. Man muss bereuen, was man getan hat, dann wird einem vergeben. Ohne Reue keine Buße. Du warst einer Meinung mit mir."
Zerknirscht nickte Luder, als sein Mitbruder eine Reaktion von ihm erwartete.
Ja, er hatte diese Idee gut gefunden, dass man büßen könne, indem man aufrichtig bereue. Vor dem Jenseits brauche man sich nicht zu fürchten, weil man gleich in den Himmel komme, aber dafür müsse man zu seinen Lebzeiten aufrichtig bereuen.
"Siehst du, du stimmst mir zu. Dennoch willst du es weiter zulassen, dass unseren Schäfchen in ihrem guten Glauben an die Reinheit der Seele weiterhin das Geld aus der Tasche gezogen wird?"
"Nur die Obrigkeit kann den Ablasshandel verbieten. Sie hat ihn eingeführt, dann kann sie ihn auch beenden, wenn sie einsieht, was sie damit anrichtet. Friedrich..."
"Hat es in seinem Staatsgebiet verboten, ich weiß. Doch er hat nur diesem treuen Papsthund Tetzel verboten, seine Ablässe zu verkaufen. Es gibt andere Briefe, von deinem großen Friedrich ausgegeben. Mach die Augen auf, Bruder Martin. Dein hochgeschätzter Fürst will genauso daran verdienen wie der Papst. Am Ende sind sie alle gleich, wenn es ums Geld geht."
Luder schüttelte den Kopf.
"Du legst dir die Wahrheit zurecht, wie es dir gefällt. Du hast absolut nichts verstanden. Rein gar nichts!"
"Oh, doch, ich habe verstanden. Du bist nur ein Schwätzer, tust nichts gegen den Ablasshandel. Ein wenig poltern und du glaubst, dass wäre, was du tun musst. Damit ist den Menschen nicht geholfen. Genauso wenig mit deinen hochoffiziellen Schreiben. Auf die Antworten kannst du in hundert Jahren noch warten. Die Sekretäre werden dein Schreiben dem Feuer überantworten, ohne dass der Adressat es zu Gesicht bekommt. Aber jetzt können sie nicht einfach die Hände in den Schoß legen, sondern müssen handeln. Die Menschen werden ihnen nur eine Möglichkeit geben, wie sie zu reagieren haben. Sie werden den Ablasshandel verbieten."
Lächelnd sah Gregor seinen Mitbruder an. Er war höchstzufrieden mit dem, was er angerichtet hatte.
Endlich waren den Menschen die Augen geöffnet worden und sie würden zum wahren Glauben zurückfinden.
"Du bist dumm, Gregor, dass du den Ernst der Lage verkennst. Jetzt werden die Schwierigkeiten erst beginnen. Alles, was ich habe vermeiden wollen."
"Wenn es dir zu gefährlich ist, werde ich alles auf mich nehmen. Ich habe dir beim Formulieren der Thesen geholfen, einige selbst dazu beigesteuert. Ich..."
Rüde wurde er von Martin Luder unterbrochen.
"Was nimmst du dir heraus? Du wagst tatsächlich zu behaupten, die Thesen wären von dir?"
"Hast du vergessen, wie wir nachts stundenlang diskutiert haben? Willst du tatsächlich bestreiten, diese Gespräche hätten nie stattgefunden?", fragte Gregor verärgert.
"Mitnichten will ich das bestreiten. Nur sind deine Erinnerungen, was das Finden der Thesen betrifft, nicht ganz richtig. Du magst Denkanstöße geliefert haben, aber formuliert habe ich die Thesen. Ich habe sie in meinem Unterricht verwendet, mein Name steht darunter. Es sind meine Thesen, egal was du behaupten magst. Das Gegenteil kannst du nicht beweisen."
"Teufel!", schrie Gregor und stürzte sich auf Luder. "In dich ist der Teufel gefahren", kreischte er und versetzte seinem Mitbruder ein paar Hiebe.
Dieser parierte stumm die Schläge bis es ihm gelang, die Hände seines Widersachers zu fassen zu bekommen.
"Du kannst toben wie du willst und kannst doch nichts ändern. Sieh es ein, Gregor, du hast verloren. Die Veröffentlichung der Thesen war geschickt von dir geplant. Du hast mich überrumpelt. Doch jetzt bin ich wieder am Zug und ich werde von nun an das Spiel nach meinen Regeln gestalten. Du bist raus, Gregor. Wenn du schlauer gewesen wärst, hättest du rechtzeitig erkannt, dass du in diesem Spiel nie hättest mitmischen können. Du bist vom Glauben durchdrungen, aber von der realen Welt hast du keine Ahnung. Bewahre dir deinen Glauben, denn es ist ein seltenes Gut."
"Du Teufel! Du Abschaum!", schrie Gregor, doch seine Stimme klang schwach, als hätte er erkannt, dass er verloren hatte.
Als Luder merkte, wie der Widerstand in seinem Gegner nachließ, lockerte er den Griff um dessen Hände und ließ ihn schließlich los.
"Wenn du wirklich etwas tun willst, kümmere dich um die Bibliothek. Damit hast du genug zu tun", sagte er und ließ seinen Mitbruder stehen.
Gregor sah Martin Luder hinterher und schwor sich, zu beweisen, dass die Thesen von ihm stammten. Er hatte Martin die Idee dazu eingeflüstert, ihm seine Notizen gezeigt.
Er merkte auf. Seine Notizen... Diese besaß er noch immer, hatte sie jedes Mal aus Bruder Martins Zimmer mitgenommen. Damit würde er schon beweisen von wem die Thesen eigentlich stammten.
Nun war eingetreten, was er hatte kommen sehen.
Die Kirche und vor allem der Papst waren über seine Worte gegen den Ablasshandel mehr als verärgert. Das war noch milde ausgedrückt. In Wirklichkeit hätten sie ihn am liebsten festgesetzt und als Ketzer gebranntmarkt. Doch Friedrich der Weise hielt seine schützende Hand über ihn. Das war schön und umsichtig von seinem Landesherren, weil ihm dies Nachteile bringen konnte und sehr wahrscheinlich bringen würde. Was bezweckte er damit? Er handelte sich damit selbst Nachteile ein, was ihn nicht zu stören schien. Tat er es vielleicht nur aus dem Grund, weil die Menschen auf seiner - Luders - Seite standen?
Von überall her hatte er Zuspruch bekommen, man stand hinter ihm, beglückwünschte ihm zu dem Mut, die Kirche und den Papst anzugreifen.
Dabei war dies das letzte gewesen, was er gewollt hatte. Er hatte gewollt, dass der Ablasshandel in seiner jetzigen Form beendet wurde. Es konnte nicht sein, dass die Worte auf dem Stück Papier nicht mehr wert waren als die Tinte. So ein Ablass war ein wichtiges Dokument und genauso sollte es auch behandelt werden. Stattdessen war es zu einem Instrument geworden, um alles und jeden von seinen Sünden auf immer und ewig zu befreien.
Er hatte nichts gegen Ablässe, die ein paar Jahre oder Jahrzehnte im Fegefeuer erließen, aber was seit mehr als einem Jahr geschah war nicht recht. Das hatte nichts mehr damit zu tun, was der Ablass einmal bedeutet hatte. Gregor hatte schon recht mit dem, was er gesagt hatte. Wenn sein Mitbruder nur nicht so fanatisch veranlagt wäre.
Seit ihrem Gespräch hatte sich Gregor nie mehr dazu geäußert, dass die 95 Thesen seine Idee gewesen wären. Ob er sich damit abgefunden hatte, verloren zu haben? Hatte er tatsächlich akzeptiert, dass ihm eine Autorenschaft abgesprochen wurde?
Luder war auf der Hut, denn sein Mitbruder war niemand, der klein beigab. Er war streitbar, nicht unbedingt klug, aber er wusste sich zu wehren.
Gregor beobachtete ihn. Wahrscheinlich wartete er nur auf den richtigen Augenblick, um zuschlagen zu können.
Ihm war zu Ohren gekommen, dass sein Mitbruder versucht hatte, die anderen gegen ihn aufzuhetzen, weil er durch die Veröffentlichung der Thesen Schaden über die Gemeinschaft gebracht habe. Wie durchtrieben! Gregor veröffentlichte ohne seine Erlaubnis die Thesen und behauptete anschließend, er würde ihrer Bruderschaft schaden. Welch ein durchtriebenes Wesen sein Mitbruder hatte.
Falls Gregor glaubte, solche Aktionen würden ihn in die Knie zwingen und dazu bringen, ihn als Mitautoren zu nennen, konnte er darauf lange warten. Sein Mitbruder mochte ihm Denkanstöße gegeben haben, aber formuliert hatte er die Thesen ganz allein. Gut, vielleicht hatte er unabsichtliches etwas übernommen, was Gregor niedergeschrieben hatte, als er erst 97 Thesen schrieb, um sie in der Universität zu verbreiten. Seine späteren Thesen allerdings, diejenigen, die Gregor einfach am Portal der Schlosskirche veröffentlichte, waren seinem Hirn entsprungen.
Seine Thesen waren noch in Latein verfasst gewesen, der Sprache der Gelehrten, denn für niemand anderen waren sie bestimmt gewesen. Inzwischen wurden sie auch auf Deutsch verbreitet, dass jeder Zugang dazu hatte, der Lesen konnte. Dabei hatte er nur gewollt, dass seine Kollegen an der Universität, seine Studenten und Freunde sich durch seine Worte Gedanken machten und darüber disputierten. Erzbischof Albrecht und Bischof Hieronymus hatte er es geschickt, damit sie den elenden Ablasshandel überdachten, den sie eingefädelt hatten oder einfach stillschweigend billigten. Es konnte nicht sein, dass sie sich an den Ablässen selbst bereicherten. Dazu sollte man etwas wie einen Ablass nicht missbrauchen.
Im Gegensatz zu Gregor hatte er gegen den Ablass an sich nichts einzuwenden. Niemand wollte länger als nötig im Fegefeuer ausharren müssen. Selbst seine Eltern hatten vor langer Zeit den einen oder anderen Ablass erworben. Schlimm wurde es erst, als der Papst Geld für den Bau einer neuen Peterskirche in Rom benötigte. Auf einmal nahm der Handel mit Ablässen derartig zu, dass es übers Normale hinausging.
Besonders dieser Dominikaner verstand es, den Leuten ihre letzten Münzen aus dem Beutel zu ziehen, um ihnen weiszumachen, dass die Seele eines verstorbenen Angehörigen sofort in den Himmel auffahren würden, sobald die Münze im Kasten liege.
Das mochte ein einprägsamer Spruch sein, mehr auch nicht. Die Leute hingegen fielen massenhaft darauf herein und glaubten, was sie hörten.
Am meisten ärgerte ihn, dass diese Ablässe ein Freischein für ein sündiges Leben war. Mit dem Ablass in der Hand lasse man sich von allen bereits begangenen und den noch zu begehenden Sünden freisprechen und brauchte danach nicht zu fürchten, im Fegefeuer zu landen.
Gregor hatte vollkommen recht, dass dadurch dem Sündenpfuhl alle Tore geöffnet wurde. Es war das einzige, worin er mit seinem Mitbruder übereinstimmte. Ansonsten unterschieden sie sich erheblich in ihren Vorstellungen. Sein Mitbruder wollte sämtliche Ablässe verbieten. Der Besuch der Gottesdienste, das tägliche Gebet und die regelmäßige Beichte waren der einzige Weg, um die eigene Seele reinzuhalten. Nur ein gottgefälliges Leben schützte vor zu vielen Jahren im Fegefeuer.
Um Gnade zu erlangen, musste man im Diesseits bereits einiges tun. Dennoch war er sich nicht sicher, ob er immer zu Gottes vollständiger Zufriedenheit handelte. Dafür war er überzeugt, dass Gott ein kurzes, dennoch ehrliches Gebet mehr schätzte, als wenn man sich quälte und es nur schnell hinter sich bringen wollte, damit man es abhaken konnte.
Man konnte Gott nur lieben, wenn man es ehrlich meinte. Dann würde der Herr auch nicht streng über einen richten, wenn die Seele den Leib verlassen hatte.
Der Weg seines Mitbruders war der falsche. Damit würde Gregor früher oder später scheitern. Wenn er es nur erkennen würde. Allerdings war er in seinem Gottesbild erstarrt, dachte nicht an die Menschen, sondern nur an sich selbst.
Er würde ihm gern helfen, doch sein Mitbruder war immer noch auf Rache aus wegen der 95 Thesen gegen den Ablasshandel, weil er ihn nicht als Mitautoren anerkannte. Wenn er sich schon so lange Gedanken gemacht hatte, wie man gegen den Ablasshandel vorgehen könne, warum hatte er nicht selbst Thesen dagegen veröffentlicht? Er hatte doch welche aufgestellt, ihm seine Notizen gezeigt. Das meiste war wirres Zeug gewesen, aber manches hatte man verwenden können, wenn auch nur als Denkanstoß. Zu mehr hatten Gregors Notizen einfach nicht gereicht, auch wenn dieser gegenteiliger Meinung war. Wahrscheinlich hatte er deshalb die Thesen einfach am Portal der Schlosskirche angebracht, damit seine Worte nicht in einem Brief untergingen, den der Empfänger ohnehin nie zu Gesicht bekommen hätte.
Das war egoistisch von ihm gewesen, hochmütig. Damit hatte er gegen eine der sieben Todsünden verstoßen. Gregor schien das egal zu sein. Er war so verblendet in seinem Zorn, dass er glaubte, rechtens gehandelt zu haben. Wieso sah sein Mitbruder seinen Irrtum nicht?
Martin Luder würde sich auf weitere Anschuldigungen gefasst machen müssen. Nicht nur von Gregors Seite aus, sondern auch von der katholischen Kirche. Es brodelte in der Stadt und wie er gehört hatte, wollte Tetzel Gegenthesen veröffentlichen.
Darauf war er bereits gespannt. Weder war der Dominikaner Doktor der Theologie noch schien er intelligent genug zu sein, um eigenständig Thesen aufstellen zu können. Er war ein Seelenverkäufer, mehr auch nicht.
Paderborn
Nach so vielen Jahren der Suche hatte er sich endlich am Ziel geglaubt. Wie viele Archive und Bibliotheken hatte er nach dem Dokument durchsuchen lassen? Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen. Ein zwölfköpfiges Team aus Rechercheuren hatte er beschäftigt, damit auch dem allerkleinsten Hinweis nachgegangen wurde. Wie oft hatte er sich am Ende seiner Suche geglaubt, um doch nur wieder einen Rückschlag zu erleiden?
Dann hatte sein Team endlich einen Hinweis darauf erhalten, wo das Dokument zu finden sein könnte. Er glaubte sich am Ziel seiner Träume. Endlich würde er Rache nehmen können. Endlich würde seinen Vorfahren Gerechtigkeit widerfahren. Er würde an dem Mann Rache nehmen können, der durch seine Worte und Schriften fast seine gesamte Familie ausgelöscht hatte.
Er war selbst in das Archiv gegangen, wollte seinen Triumph persönlich auskosten. Am Ende war alles anders gekommen. Mit Entsetzen hatte er feststellen müssen, dass das Dokument nach Ende des Zweiten Weltkriegs von den Russen als Raubgut in die damalige Sowjetunion gebracht worden war. Ab da verlor sich seine Spur. Die damals ebenfalls geraubten Archivbestände waren längst zurückgegeben worden, doch besagtes Dokument fehlte.
Es war, als wolle ihn der einzige Gott verhöhnen. So kurz vor dem Ziel wurde er geschlagen.
Doch er war niemand, der aufgab. Zu lange hatte er mit der Suche nach dem Dokument verbracht, als das er jetzt aufhörte. Er war von Rache beseelt und würde erst aufgeben, wenn tatsächlich feststand, dass dieses Dokument nicht mehr existierte.
Wohin die anderen Archivbestände in Russland gekommen waren, ließ sich leicht herausfinden. Seine Rechercheure leisteten exzellente Arbeit. Sie waren schnell und effizient, sodass er innerhalb weniger Tage wusste, wohin das Archiv gekommen war.
In Kisten hatte es in der Petersburger Bibliothek sein Dasein gefristet. Angeblich hätte nie irgendjemand einen Blick hineingeworfen, doch wie war das Dokument verschwunden?
Er war nach St. Petersburg gereist, um mehr in Erfahrung zu bringen. Schnell hatte er gemerkt, dass man dort nur weiterkam, wenn man über sichere Russischkenntnisse verfügte. Das tat er nicht, weshalb er jemanden aus seinem Team nachholen musste.
Dieser fand den ehemaligen Standort der Kisten und in einem archaischen Verzeichnis fand sich der Hinweis, dass der Inhalt sämtlicher Kisten katalogisiert worden war. Die entsprechenden Seiten fanden sich, doch von dem Dokument keine Spur. Stattdessen stand dort die seltsame Notiz, dass derjenige, der für die Katalogisierung verantwortlich gewesen war, ein Teufelsschreiben entnommen hatte.
Das musste es gewesen sein. Er war sich sicher. Das musste es gewesen sein, das Dokument, was er seit einer halben Ewigkeit suchte. Es war ihm wieder durch die Finger geglitten.
Wie nah musste er seinem Ziel noch kommen, bevor er es endlich in den Händen halten würde?
Wenigstens hatten sie einen Namen. Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, wo dieser jemand sich befand und wer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Helen Dalibor
Cover: Helen Dalibor
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3829-1
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