Wo Kathrin eine Heimsuchung ist, da ist Tim eine der sieben Plagen.
Völlig übertrieben, würde er wahrscheinlich erwidern, wenn er dies hier lesen würde. Deshalb passe ich auf, dass es nicht in seine Hände fällt. Nur wie soll ich es anders nennen? Es stimmt nun einmal: Der beste Freund meines Mitbewohners ist eine Landplage.
Man könnte meinen, ich sei irgendwie manisch veranlagt, wenn Tim in der Wohnung war, denn jedes Mal, wenn er zu Besuch war, kontrolliere ich sämtliche Räume und Ecken, ob noch alles ganz und nichts irgendwie in die Brüche gegangen ist.
Bei seinen allerersten Besuchen verlief noch alles normal. Zwar rationierte ich den Biervorrat, weil Gerstensaft nicht alt wird, wenn Tim in der Nähe ist. Ansonsten kümmerte ich mich nicht weiter um ihn - bis ich eines Besseren belehrt wurde.
Tim war wieder einmal abends zu Besuch und unterhielt sich mit meinem Mitbewohner über irgendwelche Themen, wo ich mich immer frage, wie man sich darüber bloß unterhalten kann. Wahrscheinlich denken die beiden das auch, wenn ich etwas von einem Stummfilm erzähle, den ich kürzlich gesehen habe. Themen, die einen nicht interessieren und über die sich andere stundenlang unterhalten können, bleiben halt suspekt.
Ich schweife schon wieder ab.
Die beiden unterhielten sich angeregt, was wahrscheinlich noch bis spät in die Nacht gehen dürfte, als Tim es auf einmal furchtbar eilig hatte nach Hause zu kommen. Mein Mitbewohner wollte ihn noch zum Bleiben überreden, aber sein Freund machte so ein Getue darum, sofort gehen zu wollen, dass mir das reichlich seltsam vorkam. Das muss schon was heißen, denn er ist an sich nicht ganz normal in seinem Verhalten, sodass es eigentlich nicht weiter auffällig gewesen wäre, wenn es mir aus unerfindlichen Gründen nicht komisch vorgekommen wäre.
Als ich in den Flur trat und Tim mich erblickte, machte er sich so schnell davon, dass er vor lauter Hektik beinahe gegen die Haustür gelaufen wäre, weil er sie nicht aufbekam. Kein Wunder, wenn sie abgeschlossen ist.
"Weißt du, welcher Teufel hinter Tim her ist?", wollte ich von meinen Mitbewohner wissen, der nur ahnungslos mit den Schultern zuckte.
"Keine Ahnung. Hatte wohl noch was zu erledigen, wie sich das anhörte."
"Muss er noch ein Referat vorbereiten, dass er morgen halten soll?", sagte ich mehr zu mir selbst, als zu meinem Mitbewohner.
"Vielleicht bekommt er Besuch und hat vergessen das Bad zu putzen. Seit er auf Klo war, ist er ganz komisch gewesen. Hat immer wieder zur Tür gesehen, als erwarte er, dass dort ein Geist hindurchgehen würde."
Finde ich irgendwie seltsam, dass Tim die Tür immerzu im Auge hatte. Dabei denken tue ich mir allerdings noch nichts. Die Verbindung zu dem Verhalten finde ich erst einige Zeit später.
"Oder er hat den Wasserhahn nicht abgedreht und nun Angst, dass er sein Zimmer nur noch mit Gummistiefeln betreten kann."
Ratlos gehen wir wieder unserer eigenen Wege.
Zurück in meinem Zimmer setze ich mich wieder an meinen Schreibtisch und will weiter an meiner Hausarbeit schreiben. Doch nach wenigen Minuten lasse ich es bleiben. Mir geht einfach nicht aus dem Kopf, wieso Tim so überstürzt geflohen ist. Ja, geflohen trifft es richtig. Was nur hat ihn zu dieser Flucht veranlasst? Dann sein ständiges Starren zur Zimmertür, als würde er irgendetwas fürchten. Irgendwas stimmt da nicht, mir will nur nicht einfallen, was er angestellt haben könnte.
Auf einmal geht mir durch den Kopf, dass Tim im Studenheim wohnt. Da hätte längst jemand angerufen, wenn er den Wasserhahn nicht zugedreht hätte.
Irgenwas war faul. Nur was?
Ich komme einfach nicht drauf, so sehr ich auch darüber nachdenke.
Des Rätsels Lösung finde ich erst, als ich Zähneputzen will und mit den Füßen in eine Pfütze trete.
Angewidert weiche ich zurück, denn die Lache hielt ich erst für etwas anderes als ganz normales Wasser. Da es geruchslos war, hatte glücklicherweise niemand das Wasserklosett verfehlt.
Hatte also jemand eine wilde Planscherei im Waschbecken veranstaltet? Nein, das glaube ich weniger. Das hätten Tim oder mein Mitbewohner schon aufgewischt und mir ein völlig durchnässtes Handtuch auf dem Boden hinterlassen.
Aber was ist es dann? Woher kommt das Wasser?
Ein jäher Schreck durchfährt mich, als ich an die Abflussleitung denke. Ist die undicht oder ist es möglicherweise die Wasserleitung? Die Wände schienen trocken zu sein, also riss ich den Schrank unter dem Wasserbecken auf. Auch hier war alles trocken.
Erleichtert schließe ich wieder die Schranktüren.
Bei genauerem Hinsehen wird mir klar, dass das Wasser gar nicht aus dem Schrank hatte kommen können. Badewanne und Dusche fallen ebenfalls aus. Wo also war die Quelle?
Ich betrachte die Pfütze. Die größte Ansammlung befindet sich vor und neben der Toilette, offensichtlich hatte hier jemand nicht exakt mit der Wasserwaage gearbeitet. Und dann sehe ich, woher das Wasser kam. Es spritzt aus dem Spülkasten an die Wand.
Fassungslos starre ich auf den Strahl und kann kaum glauben, was ich sah - zu absurd scheint das Ganze. Als ich mich wieder gefasst habe, versuche ich nicht erst der Fehlerquelle auf den Grund zu gehen und das Leck zu stopfen, sondern stürme ins Zimmer meines Mitbewohners. Der sitzt vor seinem Computer und spielt irgendwas. Ich tippe ihn auf die Schulter, dass er zusammenzuckt. Nur wenig später bricht seine Spielfigur zusammen und ein Game over war zu lesen. Zerknirscht nimmt er seine Kopfhörer ab.
"Ich war kurz davor einen neuen Rekord zu brechen. Weißt du, wie schwer es ist, so weit zu kommen?, mault er.
"Bist du als letzter auf Toilette gewesen?", überging ich seinen Protest.
"Ich war irgendwann vor Tim. Aber wenn du mich so fragst, ich könnte mal hingehen."
"Zieh dir deine Tauchschuhe an oder Gummistiefel."
"Hä?"
Verständnislos sah mein Mitbewohner mich an.
"Dein lieber Freund Tim hat die Toilette kaputt gemacht", sage ich so ruhig wie möglich, obwohl ich innerlich koche.
"Läuft da jetzt das ganze Wasser aus?" Mein Mitbewohner war aufgesprungen und sah sich hektisch in seinem Zimmer um.
Keine Ahnung, was er suchte. Vielleicht Lappen zum aufwischen oder eine Rohrzange?
"Die Pfütze vergrößert sich stetig. Bisher bekommt man nur nasse Füße."
Nun rennt mein Mitbewohner aus seinem Zimmer in den Flur. Was macht er denn jetzt schon wieder?
Als ich aus seinem Zimmer trete, kommt er mir schon wieder entgegen - mit Gummistiefeln an den Füßen.
"Dann zeig mir mal das Leck."
Irgendwie erwarte ich, dass er noch einen Wischmopp hinter seinem Rücken hervorzaubert, aber die Illusion bleibt aus. Schweigend gehe ich ins Badezimmer und zeige auf die Pfütze.
"Wehe, du springst da jetzt rein", warne ich ihn, als ich seine leuchtenden Augen sehe.
Die Warnung kommt nicht von ungefähr. Denn sobald mein Mitbewohner eine Pfütze entdeckt, muss er darin herumhüpfen wie ein Dreijähriger.
Männer sollen laut verschiedenen Studien Kindsköpfe und in ihrer Entwicklung verzögert sein. Wahrscheinlich diente mein Mitbewohner als ultimatives Studienobjekt und verfälschte schließlich aus diesem Grund die Ergebnisse.
"Dient der Spülkasten als Springbrunnen? Sehr interessant, aber ohne Auffangschale... Verbrauchen wir dafür nicht zu viel Wasser?"
Kaum zu fassen, oder? Da ist die Toilette kaputt und mein Mitbewohner fragt sich, wie viel Wasser wir durch diesen Springbrunnen verbrauchen. Geht nicht in seinen Kopf, dass Tim den Spülkasten kaputt gemacht hat?
Vielleicht sollten wir das Leck als neue Kunstinstallation präsentieren. Wenn wir Glück haben, wischt Kathrin die Pfütze nicht auf, um das Kunstwerk zu zerstören. Wobei immer genügend Wasser nachfließt, dass sie eher Sisyphus nacheifern dürfte.
"Wie wär's, wenn du mal guckst, was kaputt ist. Möglicherweise kannst du den Springbrunnen abstellen."
Mehr Schaden könnte mein Mitbewohner natürlich auch anrichten, aber daran will ich lieber gar nicht erst denken.
"Den Deckel abnehmen", sage ich, als mein Mitbewohner mich hilflos ansieht.
"Den kann man abmachen?"
"Wieso sag' ich dir immer, dass du dich nicht an den Spülkasten lehnen sollst? Du verschiebst den Deckel, dass die Toilette nicht aufhört zu laufen."
"Wie kann die laufen, wenn sie angeschraubt ist?"
"Das Wasser im Spülkasten läuft. Die Toilette rennt nicht im Bad umher. Ohne Beine geht das schlecht."
"Ist deshalb die Wasserrechnung so hoch?"
Der hat Probleme. Im Badezimmer steht das Wasser auf dem Boden und mein Mitbewohner hat nichts Wichtigeres im Sinn, als nach den Kosten der Wasserrechnung zu fragen. Das hat ihn früher auch nie interessiert, dann soll er jetzt nicht damit anfangen. Vor allem wer ist denn für den Verbrauch verantwortlich? Ich jedenfalls nicht, auch wenn mir das jemand von den Wasserwerken mal einreden wollte. Von mir aus könnte man die Badewanne herausreißen, weil ich sie völlig nutzlos finde. Aber als Abstellkiste ohne Deckel für irgendwelche Sachen ist sie sehr gut geeignet.
"Du kannst dich auch mit kaltem Wasser duschen, anstatt auf das heiße zu warten. Die Rechnung wäre um einiges niedriger."
"Ist nicht jeder ein Masochist wie du und duscht mit Eiswasser."
Das Thema steht zwischen uns, seitdem wir uns diese Wohnung teilen. Mein Mitbewohner duscht extrem heiß, dass man beim Betreten des Badezimmers denken könnte, man sei in den Tropen gelandet. Danach muss man das Fenster weit aufreißen, um die Feuchtigkeit loszuwerden und wieder atmen zu können. Ich hingegen begnüge mich mit der Wassertemperatur, die gerade aus der Brause kommt. Es ist warm, aber nicht heiß. Außerdem sollte man sich am Ende immer mit kaltem Wasser abduschen. Wacher macht es nicht, soll angeblich aber gesund sein.
Inzwischen hat mein Mitbewohner den Deckel des Spülkastens gelöst und ihn
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Helen Hoffmann
Bildmaterialien: Helen Hoffmann
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5198-9
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