Mike Shaw war ein echtes San Francisco Kind. Und als eines von diesen verbrachte er warme Sommertage gern mit dem Baden am Hafen- am Besten mit einer ganzen Horde Gleichgesinnter.
Doch heute war er früher dran und von seinen Freunden war noch niemand zu sehen. Seufzend stellte er sich also ans Ende des Quais und betrachtete sein Spiegelbild.
Eine braungebrannte, sich schälende Nase und braune Augen.
Er war so in diesen Anblick vertieft, daß er fast nach vorne kippte und dabei mit den Armen ruderte, um nicht auf den Haufen spitzer Steine vor ihm zu stürzen.
Als er wieder stand, sah er rechts neben dem Quai etwas im Wasser schwimmen, das auf den ersten Blick wirkte wie ein rotes Tuch, das jemand ins Wasser geworfen hatte.
Erst beim zweiten Mal erkannte er was er war.
Schreiend rannte er davon.
Francesca Mermoy fühlte sich furchtbar, als sie die Leiche der Frau betrachte, die im Wasser trieb.
Sie trug ein leuchtendrotes Kleid, das um sie herum im Wasser wallte und hatte langes schwarzes Haar, das ihr feingeschnittenes Gesicht umrahmte, das an das eines schlafenden Engels erinnerte.
Sie trat zur Seite, um die heranrennenden Rettungsschwimmer vorbeizulassen.
„Sie ist wahrscheinlich heute zwischen zwei und drei Uhr gestorben.“
Die Stimme von Arthur klang völlig ausdruckslos, doch Mermoy wußte, wie sehr ihm die vielen jungen Leute, meist junge Männer oder Mädchen zu Herzen gingen, die sich das Leben nahmen. Und hier unter der Golden Gate war das nicht gerade selten.
„So wie es aussieht, ist sie erstochen worden! Sehen Sie, das ganze Blut an ihrer Kleidung und um sie herum...“
Der junge Polizist Ryan drängte sich vor und deutete auf die zahlreichen Blutflecken, die auf dem Rot kaum auffielen, doch Francesca schüttelte den Kopf.
„Sie hat sich anscheinend die Pulsadern aufgeschnitten und ist dann später noch gesprungen, Oben an der Brücke, fast ganz oben, ist alles voll Blut.“
Zum Beweis berührte sie den eiskalten Körper, drehte den linken Innenarm nach außen und deutete auf die klaffenden Schnitte.
„Mein Gott!“
Ryan prallte zurück.
„Wer bist du?“, dachte Francesca. „Und warum hast du das getan? Aus Liebeskummer doch kaum...du siehst selbst tot noch aus wie ein Engel...“
Was mochte sie wohl gefühlt und gedacht haben?
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Delilah, die sie beauftragt hatte, die Person zu identifizieren, herankam, die Gaffer zur Seite stieß und eine junge, verweint aussehende Frau hinter sich herzog.
„France, diese Frau hier sagt, sie kenne das Opfer.“
Francesca nickte und bedeutete der Frau mitzukommen und sich etwas abseits zu setzen, doch ihr Blick fiel trotzdem auf die Tote, die mit den weit ausgebreiteten Armen und um ihren Kopf liegenden Haaren aussah, als sei sie gerade vom Himmel gefallen.
Sie brach in ein heftiges Schluchzen aus und suchte an der Wand Halt.
Francesca betrachtete sie. Eine feste Freundin? Oder eine „gewöhnliche“?
Sie setzten sich auf zwei Klappstühle und die junge Frau begann ohne Aufforderung zu erzählen.
„Mein Name ist Annika Reyson und ich war eine Freundin. Mein Freund und ich waren zuletzt noch bei ihr und ich glaube wir waren ihre engsten Freunde, das darf ich auch sagen...Nun, ihr Name war Diana. Diana Alden. Und ich glaube, sie würde es begrüßen, wenn ich die ganze unglückselige Lebensgeschichte mal erzähle.“
„Aber Moment!“, Francesca unterbrach sie. „Woher kennen sie denn ihre Motive?“
Annika Reyson sah sie ruhig an. Sie war eine hübsche Frau mit zerzausten roten Locken.
„Weil ich es geträumt habe. Ihre ganze Geschichte. Ich würde auch auf eine Bibel schwören, daß es wahr ist.“
Und dann begann sie:
Das Licht war ungewöhnlich warm und sanft, fast schon golden. Nicht zu vergleichen mit dem gleißenden Sonnenlicht, das morgens stets unbarmherzig in ihr Zimmer fiel.
Es war schön hier. In ihrem Inneren regte sich etwas Glückliches, Zufriedenes und Behagliches. Etwas, das hier so liegenbleiben wollte, das Gefühl der Sonne auf dem Rücken.
Doch wenn sie nicht in ihrem Zimmer war...
Wo war sie dann?
Sie fuhr kerzengerade hoch und riß die Augen jäh auf...
...und erschrak im ersten Moment zu Tode, als ein zerzauster dunkler Schopf sich von dem Kissen neben ihr hob.
„Hey! Was isn Diane?“
Sebastian.
Natürlich.
Ein Chaos aus Bildern stürzte auf sie ein und begrub sie fast unter sich.
Oh Gott.
Doch alle Sorgen verschwanden beim Anblick der Person neben ihr.
Seb’s Gesicht wurde besorgt als sie nichts sagte.
„Alles in Ordnung?“
Sie lachte, schlang ihm die Arme um den Nacken und genoß die Wärme, die sich in ihr ausbreitete.
„Alles in Ordnung, natürlich! Was denn sonst?“
Er lachte, als er sie an sich zog.
„Ich dachte schon, ich hätte irgendwas falsch gemacht.“
Sein Lachen war die schönste Musik, die sie je gehört hatte und sie rollte sich wieder zusammen.
Einfach nur die Augen schließen.
Dianas Finger krallten sich in das rote Kleid, das sie noch immer trug. Seit gestern. Und geschlafen hatte sie auch darin.
Geschlafen?
Verdammt.
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und wünschte ihn sich so sehr her, so sehr, daß es schmerzte.
Doch er war gegangen, förmlich gerannt, als es plötzlich geklopft hatte.
„Bleib liegen“, hatte er ihr zugerufen.
„Ich bin gleich wieder da!“
Sie hatte Stimmen an der Tür gehört, aufgeregte, nervöse Stimmen, Papierrascheln und einen Fluch, dann hatte Sebastian wieder in der Tür gestanden.
„Ich muß weg!“
Aber wohin? Was war los?
Sie stand halb auf und sah ihn verwirrt an.
Er fuhr hastig in das weiße Hemd und die schwarze Hose, dann stürzte er aus dem Raum, ohne sie nur anzusehen.
Sie schrie ihm nach, rief seinen Namen, doch sie hörte nur die Tür zuschlagen.
Bis sie sich das Kleid übergestreift hatte, vergingen quälende Sekunden, dann rannte sie zur Wohnungstür. Gerade, als sie die Tür öffnen wollte, fiel ihr Blick auf den Boden und ihr Herzschlag setzte aus.
Sie kannte diese Schrift. Die Schrift auf diesem Zettel.
Es war Jans.
Er hatte geschworen, sie niemals gehen zu lassen, damals, als sie ihn verlassen hatte.
Hatte geschworen, ihr Glück zu zerstören und wenn er dafür töten müßte.
Und er hatte es damals getan. Damals. Und sie hatte gehofft fliehen zu können.
Doch es war dumm gewesen zu glauben, er habe sie nicht wiederfinden können.
Er hatte es.
Mit zitternden Fingern hob sie das Blatt auf und las dort in jener krakeligen Handschrift:
Mein alter Freund!
Da du es ja anscheinend geschafft hast, meine frühere Freundin flachzulegen, werde ich diese kleine Schlampe dafür töten und dich gleich dazu. Wenn du Mut hast, nimm das schöne Florett an deiner Wand und triff mich heut abend am alten Bahnhof. Wir haben uns schon mal dort duelliert. Erinnerst du dich? Zum Spaß damals.
Jetzt geht es darum, daß ich euch nicht beide eines Tages auf der Straße abknalle, sondern erstmal dich absteche und sie mir dann irgendwann hole- für den unwahrscheinlichen Fall, daß du mich umbringst verschone ich euch beide- mir wird ja wohl kaum was anderes übrigbleiben.
Also beeil dich gefälligst, ich will, daß du sofort das Haus verläßt, nachdem du das hier gelesen hast.
Jan, der sich stärker verändert hat, als du es dir jemals vorstellen könntest.
Nein.
Sie durfte nicht daran denken! Und mittlerweile waren Stunden vergangen, es war früher Nachmittag und sie rannte nur ruhelos hier umher, während irgendwo in dieser Stadt Sebastian herumlief, auf der Flucht vor einem Verrückten, der ihn töten wollte...und sie auch.
Verzweiflung erfaßte sie und die schlug die Hände vors Gesicht. Was, wenn ihm schon was passiert war? Was, wenn er irgendwo tot in einer Ecke lag? Oder verwundet?
Die Bilder jagten ihr durch den Kopf, er, das Hemd zerfetzt, das Gesicht und den Stoff voller Blut in irgendeiner Seitengasse, in der nicht einmal um diese Tageszeit die Sonne schien...
Was hatte sie bloß angerichtet? Wie hatte sie bloß wieder jemanden lieben können, auch wenn es so sinnlos schien?
Bis gestern hatte er es doch gar nicht wissen können...sie hatten sich doch erst gestern...
Wirbelndes Haar auf ihrem Rücken, die Bänder hatten sich gelöst. Laufen, Schweben, es war alles gleich. Leichtigkeit. Zerzaustes Haar.
Sie warf sich aufs Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Doch es nutzte nichts. Dann kamen nur wieder die Träume; die sie mittlerweile seit so vielen Jahren plagten. Träume und Bilder, die sie nie vergessen würde.
Nie vergessen würde können.
Tränen liefen ihr über das Gesicht, heiß und brennend, doch schließlich weinte sie sich in den Schlaf.
Was soll das heißen, du verlässt mich?, hatte er gefragt, in seiner Stimme ein grausamer Unterton.
Es tut mir Leid Jan. Ich liebe jemand anders.
Ein Jahr lang waren sie zusammen gewesen. Sechzehn Jahre alt, sie beide.
Das heißt, du machst jetzt offiziell mit mir Schluß?
Ja mach ich, hatte sie erwidert. Aber das heißt nicht, dass du für mich aus der Welt bist.
Er starrte sie an, die Augen glühend und fast schien es, als glommen sie leicht rötlich. Doch das musste am Licht liegen.
Dann sage ich dir jetzt offiziell was, sagte er leise und diesmal war der drohende, knurrende Unterton nicht zu überhören.
Du sollst nie wieder jemanden lieben können und wenn du es tust, so wirst du nicht lange Freude daran haben können. Denn dieser Jemand soll sterben, sobald er dich berührt, sobald ich sehe, dass du ich liebst!
Hör auf Jan. Lass den Unsinn und komm mal wieder runter.
Dann war sie gegangen.
Draußen wartete Niklas auf sie. Zwei blonde Strähnen zerzausten Haares fielen ihm in die Stirn und verdeckten halb seine grünen Augen.
Alles klar? Er lächelte sie an.
Diana zwang das flaue Gefühl in ihrem Inneren nieder und küsste ihn.
Ja, alles klar. Keine Morddrohungen oder Selbstmordversuche- er ist regelrecht vernünftig. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Hätte gar nicht gedacht- jetzt nichts gegen deinen Geschmack- aber dass er es so ruhig aufnimmt…na, dann ist ja in Ordnung.
Er hatte ihre Hand genommen und dann waren sie durch den Regen gelaufen, bis ihnen das Wasser aus den Haaren rann.
Sie hatte gelacht, als er sich wie ein nasser Hund schüttelte und die Tropfen nur so in alle Richtungen spritzten. Der Regen war ein warmer Sommerregen, die Luft roch nach nassen Asphalt und warmen Steinen, Kinder lachten, als ihre Kreidebilder als regenbogenbunte Bäche in die Rinnsteine flossen und leuchtende Muster hinterließen.
Und auch sie lachten, staunten über den Regenbogen und sahen den Tauben nach, die sich flügelschlagend in den Himmel erhoben, als ein kleiner Hund sie anbelle.
Zwei Wochen lang nur Lachen.
Und dann jener Abend, der ihr Leben für immer verändern sollte…
Es war ein schwüler Sommertag und jeder Baum, jede Pflanze lechzte nach Wasser und Kühle.
Sie waren mit Freunden unterwegs:
Katrin, ihre beste Freundin, die mit Roman zusammen war, der mit ihnen in eine Klasse ging, Alain und Beatrix und die überzeugte, wenn auch hübsche Single Tina.
Sie hatten sich am Brunnen getroffen und waren Richtung Konzerte in der Altstadt gegangen, wo samstagabends Bands auftraten. Mittlerweile war es elf Uhr und es begann am Himmel drohend zu rumpeln.
Niklas war der Meinung, dass es durch die alten Seitengassen hindurch schneller ging, die anderen wollten auf der Hauptstraße bleiben. Also hatten sie gewettet, wer schneller war.
Nach ein paar Metern entschied sie sich um und folgte ihm, sie rannte los, genau in dem Moment, in dem der erste Donner krachte und sich der Himmel pechschwarz verfärbte.
„Warte!“, gellte ihr Tinas Stimme in den Ohren. Doch sie lachte nur, machte ein Wettrennen daraus und huschte um die Ecke in eine schmale Altstadtstraße, in der es komplett düster war. Nur etwas Weißes schimmerte dort hinten, es lag am Boden.
Sie bremste jäh ab und ihre Füße schlidderten ein Stück über den Boden.
Ach komm, so ein verdammter Müllsack wird dir doch wohl keine Angst einjagen, dachte sie und lief weiter, denn hinter ihr ertönten schon wieder Tinas Stimme und ihr Keuchen. „Du kleine, miese…“
Diana lachte. „Lauf Forrest, lauf!“
Dann rannte auch sie weiter auf diesen weißen Haufen zu, der dort im Dunklen lag.
Was es war, erkannte sie erst, als es zu spät war.
Ein Blitz zuckte hell auf und in diesem Bruchteil einer Sekunde sah sie alles mit grausamer Genauigkeit vor sich.
Niklas lag am Boden auf dem schmutzigen Pflaster, gegen das sein Hemd zu leuchten schien, zumindest an den Stellen, an denen es noch seine ursprüngliche Farbe hatte.
Es war nämlich blutdurchtränkt, besonders über der Brust. Direkt über dem Herzen klaffte ein tiefes Loch und darunter war der Stoff sauber durchtrennt und zur Seite geschlagen worden.
Man hatte ihm ein Herz in die Brust geritzt. Blut rann heraus und tropfte auf den Boden, lief in den Rinnstein und hinterließ im Blitzschlag fast schwärzlich wirkende Spuren.
Diana konnte nichts sagen. Sie konnte nur schreien und schreien, während der Donner krachte und die murmelgroßen Tropfen auf die Erde prasselten, als würden selbst die Engel im Himmel weinen.
Natürlich hatte sie ihren Verdacht geäußert, gut es war kein Verdacht, sie wusste, dass er es gewesen war, doch niemand glaubte es. Später hieß es, Niklas Hachtmann sei „überfallen“
und mit einer spitzen Waffe „vermutlich einem Florett von vorn durch einen Stich ins Herz getötet worden und verblutet“.
Der Täter blieb weiterhin unbekannt und als sie zu Jan gehen wollte hieß es, seine Familie sei unbekannt verzogen.
Unbekannt. Ein Spiel mit zuvielen unbekannten
Niklas Beerdigung fand an einem Tag statt, an dem die Sonne sich kaum hinter den Wolken hervorkämpfen konnte, sodaß alles wirkte, als hätte man die Farbe und das Leben hinausgesogen. Dicke Wolken hingen schwer über dem Land
und drückten einem förmlich die Luft ab.
Diana merkte dies alles kaum, in ihr war nur eine unendliche, schmerzende Leere und eine verzweifelte Wut auf sich selbst, auf Jan, auf das Leben…
Ihre Mutter stand neben ihr und streichelte ihr tröstend die Schultern, Niklas Mutter stand nur da und stierte mit leeren Augen vor sich hin, während sich ihre dreijährige Tochter Sabrina an ihren schwarzen Rock klammerte.
„Warum ist denn Niklas in der Kiste? Mami! Warum ist er in dem Loch…Mami!“
Frau Hachtmann begann zu schluchzen, herzzerreißend und laut. Ihr Mann nahm sie tröstend in die Arme.
Diana wollte laufen, hinlaufen, doch sie war wie gelähmt. Sie hatte noch immer das letzte Bild von Niklas im Kopf.
Die Rosen hatten um seinen Kopf gelegen, ohne jedoch sein Gesicht zu verdecken. Die herabgefallenen Blätter lagen in seinen Haaren und wirkten gegen sein so furchtbar blasses Gesicht wie Blutstropfen.
Blut auf weißen Stoff…
Durch das weiße Hemd das er trug, schimmerten undeutlich die Umrisse des Herzes, das man ihm in die Brust geschnitten hatte, als er noch gelebt hatte. Wie mochte es sich angefühlt haben?
Nein. Sie verbot sich daran zu denken.
Der Regen pladderte auf den Boden und schlug kleine Blasen in den Pfützen, die sich durch den tagelangen Gewitterregen gebildet hatten, er schlug auf den Sarg auf, mit einem überllaut erscheinenden, hohlen Geräusch und er raschelte in den Blumen und Gestecken.
Der Pfarrer begann zu sprechen, doch sie hörte es nicht. Es war, als seien die einzigen Geräusche überhaupt der unablässig fallende Regen, ihr eigener Atem und…
Ein höhnisches Lachen, gleich hinter ihr!
Sie fuhr herum, eine eiskalte Faust schien ihren Magen gepackt zu haben. Doch dort war nichts.
Jetzt tu Jan nicht auch noch den Gefallen und wird wahnsinnig! zwang sie sich zu denken.
Sie war dran.
Mit einer weißen Lilie in der Hand trat sie nach vorn und sah noch einen Moment lang sein Gesicht vor sich, wie er dort unten im Sarg lag, umgeben von Rosen.
Sie ließ die Blume als letztes fallen und als die ersten Schaufeln Erde darauf fielen, schwer und klatschend, war sie sich sicher, man beerdige sie selbst dort unten.
Die folgenden Jahre waren durchgehend einsam, wenn auch immer wieder von Panikattacken durchsetzt. Sie schaffte ihr Abi, studierte und bekam einen Beruf als Fotografin für ein Magazin über Heimatkunde und Naturschutz, das sich vor allem auf die jüngere Kundschaft spezialisiert hatte und sich wachsender Beliebtheit erfreute.
Doch sie sah keinen Jungen oder später auch Mann genauer an oder ließ sich auch nur auf ein Ausgehen ein. Zu groß war die Panik, ebendiesen tot in irgendeiner Ecke zu finden.
Ein einziges Mal war sie ausgegangen und hatte sich dabei flüchtig an die Schulter eines ihrer Mitstudenten angelehnt, als sie merkte, dass sie zuviel getrunken hatte.
Am nächsten Tag hörte sie die Schreckensnachricht schon früh- Ian war frühmorgens auf dem Weg zu seinem Nebenjob in einer Seitenstraße scheinbar sinnlos hinterrücks erschossen worden.
Sie hatte nur sterben wollen. Tot sein. Jetzt hatte sie schon zwei Leute getötet…
Einen Selbstmordversuch unternahm sie. Schlaftabletten.
Es funktionierte nicht, da durch die nicht abgeschlossene Tür früher als erwartet ihre Zimmernachbarin zurückkam.
Notarzt. Notaufnahme. Therapie. Psychologe.
Und das leise, teuflische Lachen, das nachts in ihrem Zimmer zu hören war, wenn sie zu schlafen versuchte.
Nichts half.
Und dann, jener schicksalhafte Tag, an dem sie Sebastian Terr zum ersten Mal in die Augen sah.
Die Kantine der Redaktion- vollgestopft-chaotisch-rauchgeschwängert-duftend-dampfendes Flair.
Und dann dieser Jemand an dem Einzeltisch.
Vielleicht so alt wie sie. Langes, unregelmäßig schwarz gelocktes Haar. Blass, mit dunkelgrünen Augen, klar und glänzend wie Smaragde.
Natürlich war sie nicht die Einzige, die ihn anstarrte, fast alle weiblichen Mitarbeiter, von der Putzfrau auf dem Flur bis zur obersten Redakteurin starrten ihn an und ließen ihre Lappen und Kugelschreiber fallen.
Der Urheber der weiblichen Unruhe schien das jedoch gar nicht zu bemerken und löffelte seelenruhig seine Tütensuppe weiter.
Madeleine, die temperamentvolle, rothaarige Französin aus der Schreiberetage ließ unauffällig ihren Teller fallen, um etwas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Der junge Mann sah auf, den Blick etwas verwirrt und die Haare über den Augen hastig wegstreichend.
Sein Blick traf Dianas, die scheu wegsah, doch er folgte ihr.
Braune Augen trafen grüne und Diana fühlte den vertrauten Stich in ihrem Innern, mit dem sich eine Schwärmerei, oder Größeres ankündigt.
Hastig rannte sie hinaus und hörte noch, wie er Madeleine nach ihrem Namen fragte.
Draußen stellte sie sich vor den Spiegel. Sie war durchaus nicht unansehlich mit dem langen rabenschwarzen Haar und den braungrünen Augen unter einer hohen Stirn und schön geschwungenen Brauen, doch die meisten fanden sie zu blass, obwohl sie gern mit ihrem Quarterwallach Blueberry und Promenadenmischung Chess unterwegs war.
Nein, sie durfte es nicht!
Das war ihre Strafe, das war ihr Los.
Nie jemanden lieben können, nie mehr geliebt werden.
Verzweiflung faßte sie, als sie davonstürzte.
Warum? Warum nur?
Sie hatte ihn nie länger ansehen können. Mittlerweile war Jan überall, verfolgte sie, beobachtete sie, wenn sie schlief.
Sie war nirgendwo sicher, niemand war sicher!
Und dann dieser Abend nach der Feier…Wie hatte sie nur?
Sie war allein gewesen, als es klopfte…
Diana fuhr hoch.
Sie war eingeschlafen zwischen den zerwühlten Kissen und hatte die Spuren ihrer Tränen noch auf der Wange. Ihre Augen waren rot und brannten furchbar vor Salz und dem Geschmack nach zu urteilen, hatte sie sich die Lippen aufgebissen.
Da war es wieder- ein leises, aber dennoch kräftiges Pochen.
„Komm raus, Diana, Sebastian wartet unten!“
Es war Annika, eine ihrer wenigen Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig traf. Aber was tat sie hier?
„Bitte komm! Nimm dein Zeug! Felipe ist hier mit dem Wagen und Seb sitzt drin! Komm jetzt, bitte! Uns ist ein Auto gefolgt, wir müssen hier weg!“
Felipe, Annikas philippinischer Verlobter stand offensichtlich ebenfalls vor der Tür, denn jetzt erklang seine Stimme.
„Hier sind Verrückte hinter uns her! Komm schnell!“
Sie öffnete die Tür und fiel Annika in die Arme. „Gottseidank!“
Annika und Felipe kannten ihre ganze Geschichte und wußten, was hier lief- doch anscheinend waren sie vollkommen verängstigt.
„Los, schnell!“
Sie rannten die Treppe hinunter und Diana merkte, dass sie noch immer ihr rotes Kleid trug und es außerdem schon…
Mitten in der Nacht war!
Oh Gott!
„Lebt er?“
Statt irgendwie verwirrt dreinzusehen, nickten beide nur. „Ja tut er. Und damit du dich nicht wunderst- er hat uns alles erzählt, als wir ihn und seinen Kumpel überrascht haben.“
Annika schüttelte den Kopf.
„Wir dachten zuerst es sei so ein blöder Hobbytreff, ich mein, seit wann duelliert man sich hier am Bahnhof mit alten Floretten? Aber dann haben wir die drei Typen gesehen die dabei waren und dann hat er zugestochen…“
„WAS?“
„Kannst du vielleicht noch etwas lauter schreien, damit man auch bestimmt unseren Trick mit der Einbahnstraße durchschaut?“
Diana kam sich vor wie in einem schlechten Krimi. Das konnte doch nicht war sein!
Die Haustür hinaus. Und dann zu dem im Mondlicht silbern glänzenden Auto.
Hinten regte sich etwas und Diana riss die Tür auf.
Dort saß Sebastian. Die dunklen Haare waren zerzaust und sein Gesicht leichenblaß, doch er strahlte, als er sie sah so gut es ging.
Diana warf sich in seine Arme, krallte sich in sein Hemd und schluchzte vor Erleichterung und Panik gleichzeitig- doch die Erleichterung schwand, als sie zu ihm hochsah, denn selbst im nahezu völlig dunklen konnte sie sehen, daß sein Gesicht schmerzverzerrt war. Und der zweite Schock traf sie nur Sekundenbruchteile später, denn das, was sie bisher für Tränen oder Schweiß gehalten hatte, war Blut!
Ein etwa faustgroßer Fleck hatte sich auf seinem Bauch ausgebreitet und wurde langsam größer, dunkelglänzend im silbernen Licht.
„Ja, tut weh.“
Er biß die Zähne zusammen und holte keuchend Luft, als er versuchte sich zu strecken. „Dieser Verrückte ist tatsächlich mit der Waffe auf mich los un hat mir die Rippenbögen aufgeschlitzt- und mir nebenbei noch übel in den Bauch gestochen.
Wenn die Beiden nicht gewesen wären, dann läge ich da draußen jetzt wohl als Futter für die Maden und anderes Gewürm- so was Edles wie Raben treibt sich da draußen nämlich nicht rum.“
Ein gequältes Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er strich ihr sanft übers Haar.
„Wir fahren jetzt hier weg, Liebes. Raus aufs Land zu Felipes Eltern.
Da kann ich mich dann auch verarzten lassen- sein Vater ist der beste Arzt, den ich kenne.“
Felipe lachte nervös und legte Annika eine Hand aufs Bein.
Sie erwiderte die schlichte Geste und das Glück, den anderen zu haben, war förmlich zu spüren und das so intensiv, daß Diana sich abwandte.
Statt dessen legte sie Seb den Kopf in den Schoß und lauschte auf seinen gleichmäßigen Herzschlag.
Es beruhigte sie und schon bald entstand im Auto eine ruhige Stimmung- der Motor brummte gleichmäßig auf dem einsamen Highway vor sich hin.
Seb zitterte zwar immer noch leicht und sein Atem ging leicht unregelmäßig, doch er strich ihr durchs Haar und summte eine leise Melodie, die Diana an ein Schlaflied erinnerte.
Langsam wagte sie es wieder freier zu atmen. Es war alles in Ordnung- sie saß mit ihren Freunden und demjenigen, der sie liebte im Auto auf dem Weg in die Freiheit- und kein Albtraum verfolgte sie.
Wahrscheinlich wäre es so geblieben, wäre da nicht auf einmal diese Ausfahrt gewesen.
Diana spürte die Gefahr noch bevor sie sie sah: ein dunkles Auto stand dort, die Scheinwerfer abgeblendet.
Sie hob den Kopf und fühlte, wie sich eine eiskalte Hand um ihre Eingeweide krallte, sie erbarmungslos würgte und beutelte, bis nur noch jenes kleine, furchtgebeutelte Etwas übrigblieb, das sie meistens in dunklen, einsamen Nächten wurde.
Doch noch größer war die Angst um ihn.
Bitte Herrgott, nimm mir nicht auch noch Sebastian!, flehte sie und klammerte sich verzweifelt an ihm fest.
Die Tränen begannen wieder zu laufen, brannten auf den ohnehin schon wunden Lidern und Wangen und sie konnte sie einfach nicht zurückhalten. Zu müde war sie, zu erschöpft, sie wollte nicht einmal mehr etwas tun, sie wollte nur schlafen...oder sterben.
Solange sie dabei in seinen Armen lag, war ihr das egal.
Nur endlich ausruhen...
Lichter blitzten auf, das Auto schoß vor, um ihnen auf dem menschenleeren Highway den Weg abzuschneiden.
„Verdammt. So nicht, Freundchen!“
Philippe trat jäh aufs Gaspedal und der Wagen schoß jäh vorwärts, als das dunkle Auto auf die Fahrbahn schoß, die Nase nur Zentimeter von ihrem Heck entfernt.
„Verdammte Scheiße!“
Annika tastete in den Fußraum und schob etwas Langes, Dunkles tiefer hinein.
„Immer diese Männer“, grummelte sie und wandte sich um.
„Seb, ich fürchte...“
„Ich weiß.“
Diana fuhr hoch, Panik ergriff sie.
„Nein!“ Sie schrie jetzt.
„Bitte! Du kannst doch nicht...“
Er ergriff ihre Hände, küßte ihr sanft die Tränen von den Wangen und drückte ihre Finger.
„Das ist die einzige Möglichkeit, ihn aus der Welt zu schaffen! Er wird dich sonst ewig verfolgen! Er ist wahnsinnig! Irre, verrückt, nenn es wie du willst!“
Sie starrte ihn an, blickte in diese smaragdgrünen, vor Schmerz dunklen Augen- und schüttelte den Kopf.
„Nein.“
Er zwang sie nach hinten zu sehen.
Und dort saß Jan im Auto. Eigentlich hätte sie ihn durch die getönte Scheibe gar nicht sehen dürfen, doch sie sah ihn. Sie sah das haßverzerrte Gesicht und die blutig gebissenen Lippen. Sah noch andere dort sitzen.
Alle ihre Albträume kamen wieder hoch, aller Schmerz und alle Panik, die sie hatte durchmachen müssen.
Gesichter, der Geruch nach feuchter, erstickender Erde, Blut auf dem Boden...
Sebastian zog ihren Kopf eng an seine Brust, ließ sie nicht zurückblicken und flüsterte ihr Geschichten ins Ohr, wie einem kleinen Kind. Geschichten über ihn. Seine Familie.
„Felipe, wie weit ist es noch?“
„Über sechzig Meilen. Solang können wir den nicht hinter uns halten.“
Felipe trat zum Beweis aufs Gas, das Auto schoß voran, doch das hinter ihnen ebenfalls und setzte sogar zu einem Überholmanöver an, doch Felipe lenkte das Auto kurz nach rechts und warf sich genau in die Spur des Verfolgers, Bremsen quietschten und Diana glaubte den ohnmächtigen Haß zu spüren, der hinter ihr aufwallte, als der Wagen kurz abbremsen mußte und mehrere Meter verlor. Und dann riß Felipe das Auto herum.
Ihr Kopf, der mittlerweile wieder frei war, schlug gegen die Scheibe. Vor ihren Augen explodierten farbige Sterne und alles wurde schwarz.
Stechender Schmerz weckte sie auf, pochte in ihren Schläfen und ließ alles verschwimmen, das sie versuchte klar zu sehen.
Es war dunkel draußen, doch nicht weit entfernt leuchteten die Lichter einer größeren Stadt hinter einer hohen Brücke über den Fluß.
Der Schmerz in ihrem Kopf blieb, doch eine angenehme Wärme umgab sie. Als sie sich umsah, entdeckte sie Seb, der sie im Arm hielt und besorgt betrachtete.
Und noch etwas bemerkte sie: Das Auto stand.
„Gott sei Dank. Sie ist wach!“
Annika stieß die Autotür auf.
„Wir haben sie abgehangen, Kleines. Jetzt heißt’s zu Fuß oder auf Schusters Rappen, wie du willst.“
„Komm beeil dich.“
Felipe sah sich nervös um. „Du warst fast eine halbe Stunde bewußtlos, tragen konnten wir dich nicht und deshalb haben wir gewartet...ich hoffe, sie haben uns noch nicht entdeckt.“
Er reichte ihr einen Arm und zog sie aus dem Auto.
Diana stützte sich auf und ihr wurde schwindelig, so schwindelig, daß die Beine unter ihr nachgaben. Die Lichter auf der anderen Seite des Flusses schwirrten vor ihren Augen und die Lichterkette, die sich über den Strom spannte, krümmte und bog sich.
„Was ist das für eine Brücke?“
„Die Golden Gate Bridge, Diana, aber jetzt komm, bitte!“
Diana gehorchte, klammerte sich an Annikas Arm und stolperte los. Besorgt sah sie zu Sebastian, der jede Hilfe ablehnte, aber doch sichtlich Schmerzen hatte und zitterte.
Felipe hielt etwas Langes, Schmales in der Hand und zuerst wußte sie nicht, was es sein sollte, dann sah sie jedoch etwas aufblitzen und erschauderte.
Die Waffe, die Sebastian verwundet hatte!
Selbst im Dunklen sah sie den roten Fleck auf seinem Hemd deutlich, so rot wie der Stoff ihres Kleides war er und wirkte fast wie eine Rose auf dem Stoff.
Felipe führte sie auf einige alte Lagerhäuser zu, als Diana plötzlich aufhörte und sich alles in ihr sträubte.
Hinter ihnen knirschte es auf dem Kies, zuerst nur leise, dann wurde es lauter.
Ein Nachtschwärmerpärchen. Gott, bitte!
Doch es war das schwarze Auto.
Felipe rannte los, packte Seb und zerrte ihn hinter sich her. Annika folgte und Diana mühte sich auf den Füßen zu bleiben.
Ihr schwindelte, der Boden drehte sich und auch Sebastian stand plötzlich auf der anderen Seite von ihr.
Annika schlug ihr leicht gegen die Wangen und ihr Blickfeld klärte sich wieder. Doch Seb stand immer noch auf der anderen Seite, zwischen dem Auto, dessen Türen sich jetzt öffneten und ihr. Und in der Hand hielt er die blanke Waffe...
Sie schrie auf, schrie und versuchte loszulaufen, doch Annika hielt sie zurück, gewaltsam, sie wehrte sich und schrie erneut, schrie flehend seinen Namen, doch nun legten sich auch Felipes braune, kraftvolle Arme um sie.
„Ich liebe dich, Diana.“
Sebastians Gesicht schimmerte geisterhaft weiß, als er sich umwandte und ihm entgegentrat.
Jan hatte sich kaum verändert, war nur noch größer und kräftiger geworden. Mit den über sein Gesicht hängenden, schwarzen Haaren und den leicht gefletschten Zähnen hatte er etwas Animalisches, das jedem Menschen, dem er begegnete sofort sagte, daß man ihm nicht zu nahe kommen sollte.
Die schwarzen Strähnen verdeckten sein Gesicht fast vollständig, doch dahinter blitzte es grausam und kalt.
Hinter ihm waren drei schattenhafte Gestalten zu sehen, seltsam konturlos und immer wieder verschwimmend, die wie lauernde Wölfe umherschlichen und dabei mit den Schlagschatten der Bäume und Häuser und Bäume zu verschmelzen schienen.
Diana kam sich vor wie in jenen Albträumen, in denen man sich nicht rühren kann um zu fliehen oder Unglücke zu verhindern.
Sie sah nur, wie Jan sein Florett mit einem widerlich kratzenden Geräusch aus der Scheide zog, die ihm eine der seltsamen Gestalten hinhielt und dann auf Sebastian zutrat.
Dieser sah ihn an, auf seinem Hemd breitete sich der rote Fleck immer weiter aus und er hielt sich leicht gekrümmt.
Diana schrie erneut, bäumte sich auf, kratzte und flehte.
Sie konnte nicht klar denken, sah nur Sebastian und diese dunkle, zähnebleckende Gestalt, die sie einst geliebt hatte.
In ihren Augen verlor die Welt ihre ohnehin kärgliche Farbe, sie sah nur noch ihr rotes Kleid und den roten Blutfleck, wie eine Rose...und sie sah die silbrig blitzende Klinge, die sich jetzt hob.
Sebastian bebte, er konnte sich kaum halten.
Annika schluchzte leise, auch wenn sie sich mühte, nichts zu sagen.
Felipes Arme zitterten wie in Krämpfen und seine Augen waren weit aufgerissen, als hoffe er auch nur, dies alles sein ein verrückter Albtraum.
Doch der war es nicht.
Jan hob seine Waffe.
Diana fühlte eine jähe, explodierende Kraft in ihr, die Kraft all ihrer Verzweiflung und...riß sich los!
Fünf Schritte waren es nur, die sie von ihm trennten und während dieser Sekunden sah sie alles in Zeitlupe.
Jan, von dem man nur das Gesicht in der Dunkelheit sah, schien auf einmal aus den Schatten herauszubrechen und dann kam aus dem Nichts die Waffe herangesaust.
„Nein!“
Der Schrei brach schmetternd aus ihrer Kehle heraus, es war der Laut eines zum wiederholten Mal brechenden Herzens, ein Ton tiefer Verzweiflung.
Doch er hielt die todbringende Klinge nicht auf.
Sie schoß herab und traf Jan schräg am Hals und schnitt ihm mit einem seltsamen Bogen in die Brust.
Es war, als risse man Diana in Fetzen.
Die Luft blieb ihr weg und mit einem kaum noch irdisch klingenden Laut warf sie sich neben Niklas. Seine Augen starrten ins Leere und seine Kleidung war blutdurchtränkt. Eine Lache begann sich neben ihm auf dem Boden zu bilden, in der sich das Mondlicht spiegelte. Und die Lichter der Brücke...
Mit einem Mal wußte sie, was sie zu tun hatte.
Es gab nichts mehr.
Nichts.
Nur noch die schmale Klinge in ihrer Kleidtasche.
Und die Brücke...
Jan wandte sich ab und hinter seinen schwarzen Haaren blitzten die Augen rötlich, doch dies konnte auch eine Täuschung sein.
Sie sah nichts.
Weder Felipe und Annika, die auf sie zuliefen.
Sie sah das schwarze Auto nicht davonfahren.
Und sie hörte nicht die Reifen des grünen Wagens, der herangerollt kam...
Ihre Hände krallten sich in Sebastians blutgetränkte Kleidung, strichen ihm ein letztes Mal übers Haar, als sie ihn sanft küßte.
Dann lief sie los.
Alles verschwamm um sie herum, sie nahm den Schmerz nicht wahr, als sie in Glasscherben trat, sie spürte nicht die Dornen an ihrer Kleidung reißen oder Zweige in ihr Gesicht schlagen, genausowenig wie die heißen Tränen auf ihrem Gesicht.
Da war nur ein Schmerz in ihrem Herzen, den sie nie wieder würde zähmen können.
Nie.
Es würde nie wieder gut werden.
Was sollte sie schon noch tun?
Wenigstens würde sie jetzt das Richtige tun.
Ihre bloßen Füße strauchelten, als sie den Asphalt der Brückenzufahrt berührten, sie knickten schmerzhaft um, stürzte halb, rappelte sich wieder hoch und rannte keuchend die Rampe hinauf.
Wie viele Leute liefen hier wohl Tag für Tag hinauf und wieder hinunter?
Viele. Nur mit dem Unterschied, daß sie diese Brücke nicht mehr verlassen würde.
Mit pfeifenden, rasselnden Atem kam sie oben an und lauschte nach Annika und Felipe.
Doch sie waren noch nicht zu hören.
Was sie wohl sagen würden?
Egal.
Sie spürte nichts.
Sie spürte auch nicht den Schmerz, als sie sich die blanke Klinge durchs Fleisch zog.
Und mit einer seltsamen Distanz betrachtete sie auch das Blut, das über ihre Handgelenke auf den Boden rann.
Vorsicht, meine Kleine.
Ihr Vater lachte sie an und wirbelte sie hoch in die Luft.
Halt dich fest.
Ja Papa!
Sie lachte und träumte davon, mit den Vögeln davonzuschweben.
Mami, ich möchte ein Engel sein!
Und da begann ihre Mutter ganz furchtbar zu weinen und sie hatte es nicht begreifen können.
Wie auch. Sie war erst drei und woher sollte sie wissen, daß ihre fünfzehn Jahre ältere Schwester nie wieder von einer Klassenfahrt zurückkehren würde?
Einhörner galoppierten nachts durch ihr Zimmer, feurige Schweife hinter sich herziehend.
Bunte, blumenduftende Feen streuten Glitzer über ihre Puppen und Stofftiere.
Ihr eigenes Pony. Ihr ganzer Stolz. Alles, was ihr nach dem frühen Tod ihrer Mutter blieb, als ihr Vater eine andere Frau heiratete.
Der erste Herzschmerz bei der ersten großen Liebe.
Das erste Livekonzert.
Ihre erste Reise nach Australien.
Und ihr Entsetzen, als sie in einem Parkhaus die Leiche eines jungen Mannes fand, der sich selbst erschossen hatte.
Aus Liebeskummer.
Der klebrige Blutgeruch in der Luft und die weit aufgerissenen Augen, so voller Verzweiflung, als hätte ihm selbst der Tod nicht der Frieden gebracht, den er gewollt hatte.
Und auf seiner rechten Schläfe eine sternförmige Wunde.
Laufen, Laufen. Sie war in der Grundschule und die Jungs wollten ihr Kaninchen stehlen. Immer weiter rennen, bis nach Hause.
Ihr Pony mußte eingeschläfert werden.
Es war ein Engel.
Und sie hatte es nicht tot sehen dürfen.
Man soll seine besten Freunde lebendig in Erinnerung behalten.
Und plötzlich stand sie wieder dort oben peitschenden Wind auf der Brücke.
Der Blutverlust machte sie fast ohnmächtig und alles drehte sich um sie herum, sie taumelte und spürte, wie ihr Körper versagte.
Das Wasser unter ihr war dunkel und brodelnd, als raune es ihr Geschichten zu.
Es wartete dort unten auf sie.
Nein.
Annika und Felipe sollten sie nicht so finden. Nicht so.
Sie war schließlich ein Engel.
Wie sie es schaffte, sich über die Brüstung zu ziehen wußte sie nicht.
Sie lag halb auf dem kalten Eisen und spürte, wie ihre Kräfte erlahmten.
Und auf sie herab lächelten Gesichter, die sie so lang nicht gesehen hatte...
Und unter ihr schwebte ein Engel mit leuchtenden Schwingen, um sie zu fangen...
Sie ließ los.
Feine, rote Tropfen regneten durch die Luft und fielen ihr nach, als sie dem Wasser entgegenflog. Doch den Aufprall spürte sie nie.
Die junge Frau namens Annika verstummte und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen.
Mermoy wollte gerade etwas zu ihr sagen, als Karen hinzukam, wie immer im Laufschritt.
„Scheint heute ein Tag für Selbstmörder zu sein. Drüben im Hafen liegt einer, der hat sich ne Kugel durch den Kopf gejagt, aber anscheinend hat’s erst beim zweiten Mal geklappt...“
„Warum das?“
„Naja, er hat von links geschossen, aber auf der rechten Seite hat er eine sternförmige Narbe, wie von einem Einschuß... und im Krankenhaus liegt übrigens ein junger Mann, der behauptet sie zu kennen. Wurde vor ein paar Stunden schwerverletzt aufgefunden, wahrscheinlich ne Messerstecherei, der Verrückte hat ihm ein Herz eingeritzt...sein Name ist übrigens Sebastian Terr.“
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2009
Alle Rechte vorbehalten