Falling Angel
Für dich. Ich denke du weißt genau wen ich meine.
Prolog
Das Mädchen schlief tief. Hätten ihre Lider nicht hin und wieder leicht gezuckt und hätten ihre schmalen, blassen Finger sich nicht immer wieder in die Decke gekrallt, die ihren zarten Körper bedeckte, hätte man sie für tot halten können, so blaß war ihre Haut und so wenig hob sie sich von dem weißen Kissen ab. Unruhig warf sie sich hin und her, ihre langen schwarzen Haare fielen über die Bettkante und die Finger krallten sich in die Decke.
Man hätte sie für eine gewöhnlichen Menschen halten können, ungewöhnlich schön zwar, aber doch eben ein Mensch, wären da nicht die zwei Flügel gewesen, so zart und durchscheinend, daß man Angst hatte, sie könnten schon bei einem Luftzug brechen.
Ein jäher Windstoß fuhr durch das Fenster und ließ die Vorhänge flattern. Und dort saß er. Reglos. Zwei pechschwarz gefiederte Schwingen wuchsen aus seinem Rücken und warfen lange Schatten auf das Bett unter ihm. Er sah sich um, fast witternd hob er den Kopf, schwarze Augen huschten kurz durch den Raum, dann zog er eine blitzende Klinge hervor und stürzte sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf das Mädchen. Einen Sekundenbruchteil bevor die tödliche Klinge es traf, schrie das Mädchen auf und versuchte sich zur Seite zu werfen. Doch es war zu spät. Ein letztes, heftiges Zucken der weißen Flügelspitzen, dann lag sie still, während es scharlachrot über ihre Finger lief und zu Boden tropfte.
Der Mörder kümmerte sich nicht darum, nur seine Augen huschten noch einmal durch das Zimmer, dann sprang er auf die Fensterbank.
Sekunden später raschelten schwarze Schwingen.
Dann war es still.
Nur eine weiße, rotgefleckte Feder segelte langsam zu Boden.
1. Kapitel
Zitternd und schweißgebadet fuhr Andramea im Bett hoch. Immer wieder plagte dieser Traum sie, verfolgte sie und ließ sie nicht mehr einschlafen.
Und jedes Mal wurden die Bilder deutlicher, jedes Mal brannten sie sich länger auf ihrer Netzhaut ein.
Tief einatmen.
Sie sah zum Fenster hinaus und spürte, wie sich ihr Atem langsam wieder beruhigte. Niemand saß dort, nur die Vorhänge flatterten leicht im Wind. Es war dunkel in den Straßen von Vancouver, nur in weiter Ferne hörte man die Geräusche des Hafens, wie den Puls einen schlafenden Tieres.
Noch immer zittrig stand sie auf und trat an das Fenster und sah auf die tief unter ihr liegende Straße hinunter. Nirgends auch nur ein Anzeichen von einem Mörder, der es auf sie abgesehen hatte.
Warum auch? Wer sollte es schon auf sie abgesehen haben...
Leise, um ihre Eltern und ihre ältere Schwester nicht zu wecken, huschte sie über den Flur in die Küche, wo das Mondlicht silberne Streifen über die schwarzweißen Fliesen warf. Der Geschirrspüler brummte vor sich hin, ein altvertrautes Geräusch, das sie wieder beruhigte. Soweit sogar, daß sie leise die Melodie von Surrender summen konnte, als sie ein Glas aus dem Schrank holte.
Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen, aus dem Nichts tauchte eine einsame Straße auf. Häuser säumten sie zu beiden Seiten, doch nirgendwo brannte Licht und die Wände wirkten kalt und abweisend. Ein feiner Regen fiel herab, klebrig auf der Haut und ohne Kühle auf ihren fiebrigen Haut. Mit gesenktem Kopf lief sie die Straße entlang, irgendwohin, nur weg von hier...
Doch sie war noch keine zwei Schritte weit gekommen, als sie in eine Pfütze trat. Mit einem leisen Laut der Anwiderung wich sie zurück, sodaß das Licht einer Straßenlaterne darauf fiel.
Die Pfütze war rot. Dunkelrot. Und sie kam von...
Etwas Warmes tropfte auf ihr Gesicht und sie schrie auf, während sie sich instinktiv die Hände vors Gesicht riß.
Die roten Flecken auf dem Schachbrettmuster des Fußbodens, waren das Erste, was sie sah. Alles drehte sich um sie, in einem Anfall von Übelkeit umklammerte sie die Kante der Arbeitsplatte- und fuhr zurück, als sie das Blut darauf sah. Dünne Glasscherben, die Kanten dunkelrot. Sie mußte es fallengelassen haben.
Verdammt. Jetzt bloß nicht die Eltern wecken.
Mit zusammengebissenen Zähnen wusch sie sich den Arm unter kaltem Wasser um die Verletzung besser erkennen zu können- und erschrak.
Sieben exakt parallele Schnitte zogen sich quer über den Arm und bluteten noch immer stark.
Leise fluchend wickelte sie sich ein Tuch darum und fegte notdürftig die Glasscherben zusammen, bevor sie die Blutflecken von der Arbeitsplatte und dem Fußboden wischte.
Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie wieder in ihr Zimmer und legte sich ins Bett, wobei sie darauf achtete, ihren Arm hochzulegen. Diesmal schlief sie ohne Träume. Aber auch nicht lange.
„Andramea! ANDRAMEA! Stehst du endlich mal auf? Es ist sieben...ANDRAMEA ZUM TEUFEL NOCH MAL!“
Andramea stöhnte. Licht brannte durch ihre Lider auf den Augäpfeln und in ihrem Kopf schienen sich Dutzende kreischender Stimmen noch immer einen erbitterten Kampf zu liefern. Und die lauteste gehörte ihrer Mutter, die in der Zimmertür stand und derzeit verdächtig nach einem Racheengel aussah.
„Nun steh endlich auf! Ich muß zur Arbeit!“
Sie wandte sich um und ging aus dem Zimmer.
Aufstehen. Möglichst intelligent gucken.
„Sorry Mama ich hab wohl verschlafen! Steh ja schon auf.“
Das Sonnenlicht brannte violette und blaue Flecken auf ihre Netzhaut, tanzend und blinkend. Und alles drehte sich um sie herum.
War das heute Nacht wirklich passiert? Jetzt im hellen Licht der Junisonne, die durch das Fenster fiel, wirkte es alles so unwirklich.
Seufzend stand sie auf, sich auf ihren linken Arm stützend und knickte glatt ein. Mit einem leisen Aufstöhnen faßte sie sich an den Arm- und faßte in Blut. Die Krusten waren wieder aufgeplatzt und es tropfte hellrot über ihre Finger.
Mit einem wütenden Fluch auf den Lippen rannte sie ins Badezimmer, wusch sich notdürftig und verband den Arm so gut wie möglich, bevor sie sich zu einem hastigen Frühstück an den Küchentisch setzte. Dabei schlug sie sich schmerzhaft die Flügelspitze an der Arbeitsplatte.
„Invalide“, dachte sie spöttisch, als sie sich mühte, mit der linken Hand ihr Müsli hinunterzuschlingen. Von Gewöhnlichen gebaute Küchen hatten eben keinen Platz für Flügel.
Alain
Der graue Sand rutschte unter seinen Füßen weg, als er die Düne hinunterstolperte.
„Nimm doch einfach den Weg!“, hätte seine Mutter gedacht und dabei ihr Lachen gelacht, so offen und warm wie immer und ihre dunkelbraunen Locken geschüttelt, wie ein kleines Mädchen. „Da hat man einen großen Sohn und dann findet der nicht mal seinen Weg!“
Das Gesicht seiner Mutter schien im Himmel zu erscheinen, ihre Haare glänzten und ihre Wangen waren voll und leicht gebräunt. Doch dann schob sich etwas davor. Das Gesicht, wie es war. Das ausgezehrte Etwas, bleich wie ein Leintuch. Die Augen tief in den Höhlen, stumpf und glanzlos, keine Spur mehr von dem tiefdunklen Grün, das sein Vater so geliebt hatte.
Seine Mutter würde seinen Vater bald wiedersehen. Und ihn zurücklassen. Ihn und seine Schwester. Und dann würde er gehen müssen. Fort aus Irland. Nach Kanada. Genauer gesagt nach Vancouver, weil dort irgendeine Tante wohnte. Und Brianna würde hierbleiben, weil sie bei ihren Großeltern bleiben durfte. Nur er nicht.
Er wollte nicht fort aus Irland. Er war hier zuhause! Und niemand durfte ihn hier wegschicken!
Pochender Schmerz durchzuckte seine Schläfen und erst jetzt merkte er, daß ihm das Blut über das Knie lief. Er war gefallen, auf den Stufen von der Verandatreppe. Aber er hatte nur laufen wollen. Nur fort. Was der Doktor gesagt hatte war endgültig.
„Ich fürchte Alain, deine Mutter wird die nächste Woche nicht mehr erleben.“
Mit einem traurigen Kopfschütteln hatte er seine Tasche gepackt und hatte Alain bei den Schultern gepackt.
„So hart es klingen mag Junge, aber beiße die Zähne zusammen! Deine Mutter wird bei dir sein, immer! Außerdem hast du noch Brianna!“
Ja toll. Und die kann hierbleiben, während ich tausende von Kilometern weggeschickt werde!
Am liebsten hätte er das geschrieen, doch dann hatte sein Blick den seiner Mutter getroffen und für einen Moment hatte er deutlich ihren bittenden Blick gesehen und die Verzweiflung, ihm solchen Kummer zu bereiten. Er wollte sie nicht noch mehr anstrengen, doch er fühlte, wie ihm der Schrei in der Kehle hochkroch.
Verschwommen erinnerte er sich, wie er zur Tür hinausgestürzt war, dann der Sturz auf den Asphalt. Er hatte den Schmerz nicht gefühlt, denn der in ihrem Herzen war viel zu groß gewesen. Es war, als risse man ihn auseinander und stach ihm glühende Messer ins Herz. Er krümmte sich auf dem Sand und kämpfte, um sein zerrissenes Inneres zusammenzuhalten. Tränen rannen ihm über das Gesicht und mischten sich im grauen Sand mit dem Blut, das aus seinem Knie quoll. Doch er fühlte es nicht.
Die See war rauh, wie meistens hier, doch er fühlte es nicht. Hoch oben flogen Möwen, ließen sich von Wind tragen, die langen Flügel weit ausgebreitet. Er wollte auch fliegen. So hoch wie sie. Nur frei sein und alles einmal hinter sich lassen. Es war, als riefe der Wind ihm zu, doch einfach zu kommen. Und die Vorstellung war nicht einmal so abartig, seltsamerweise. Ein stechender Schmerz zuckte durch seine Schultern und warf ihn in den Sand. Er blieb liegen, starrte auf das graue Meer, hinter dem irgendwo weit entfernt Kanada lag, wo er leben sollte.
Er wußte nicht, wie lang er dort gelegen hatte, er wußte nur, daß irgendwann die Sonne unterging und es kalt wurde, unüblich für Mai, wo selbst in dieser Gegend um diese Zeit schon etwas vom Sommer zu spüren war. Doch dem war nicht so.
Als ob das Land den Tod schon nahen fühlte...
Er stand auf. Es grauste ihm davor, in das kleine Haus zurückzugehen. Der einst so liebevoll gepflegte Garten war verwildert, selbst sein Wallach Adriel und die Ponystute Shaila seiner Schwester, sowie das halbe Dutzend Meerschweinchen konnte dagegen nichts ausrichten.
Es roch nicht mehr nach Farben, Blumen und Holzleim, sondern nach Medikamenten, Verzweiflung und Staub, viele der Bilder waren abgehangen worden, denn Caiohann hatte beschlossen, daß ihre Kinder diese haben sollten, ohne diese erst nach ihrem Tod einpacken zu müssen.
„Diese Bilder bringt ihr mit einer Zeit zusammen, als ich noch lebendig war. Und so soll es bleiben!“
Ihre Stimme hallte in seinem Kopf nach, als er sich humpelnd den schmalen Weg zum Dorf hinaufquälte. In vielen Fenstern brannte noch Licht, man grüßte ihn freundlich, oft genug erntete er mitfühlende Blicke und tröstende Worte. Er zwang sich zu einem Lächeln und starrte dann nur auf die Straße, die immer kürzer wurde.
Wie üblich holte er einen tiefen Atemzug, bevor er durch die Haustür trat. Er wollte niemanden stören und gleichzeitig sich selbst so weit beruhigen, daß er seine Mutter nicht aufregte. Er stieß die Haustür auf und sein Blick fiel auf den jetzt halbverfaulten Kranz, den seine Mutter geflochten hatte. Brianna und er hatten ihn mit bemalten Holztieren und Beeren geschmückt. Und wie hatten sie gestaunt, als ein Paar Meisen sich darin eingenistet hatte. Man sah kaum noch etwas davon. Doch. Dort hing noch eine dünne Feder, weiß, mit einer dünnen schwarzen Linie und blau an der Spitze.
Ohne zu wissen warum, nahm er sie und steckte sie in seine Tasche.
Wie üblich empfind ihn ein Geruch nach Medikamenten und Angst, doch er achtete kaum noch darauf. Er kannte den Geruch, durchmischt mit Verzweiflung und Krankheit.
So leise wie möglich pirschte er ins Bad um sich das Blut vom Knie und das verschwollene Gesicht zu waschen. Er hatte nie vor jemanden geweint und er wollte seine Mutter nicht sehen lassen, was ihre Krankheit und ihr langsames Aufgefressenwerden bei ihm anrichteten.
Er sah in den Spiegel. Jeder andere hätte sich vor diesem Gesicht erschrocken, doch er war es gewohnt. Seine Wangen waren hohl, tief eingefallen und die grauvioletten Ringe unter seinen Augen hatten sich so tief eingegraben, als würden sie nie wieder weggehen. Die glatten roten Haare, die ihm verfilzt und stumpf bis auf die Schultern fielen hatte er von seinem Vater. Im Allgemeinen sah er seiner Mutter kaum ähnlich.
„Alain?“
Die Stimme klang so schwach und brüchig, daß ihm fast das Herz barst. Am liebsten hätte er einfach nur geschrieen, doch er wollte es ihr ja nicht zeigen...
„Ich komme Mama.“
Wie gefaßt seine Stimme klang. Er konnte es kaum selbst glauben, doch vielleicht hatte er es ja durch die Jahre hindurch gelernt.
Unwillkürlich duckte er sich, als er durch die Wohnzimmertür trat, die Gegenwart des Todes schien die Wände noch enger und die Decke noch tiefer zu machen. Seine Mutter lag in dem Bett direkt unter dem roten Fenster, auf dessen Sims sich vertrocknete Blumen in Vasen voller fauligen Wasser stapelten. Die Nachbarn brachten längst keine Blumen mehr.
Warum auch. Die Krankheit würde diese Frau eh auffressen, da nutzten auch Blumen nichts.
Diese blätterten genauso wie das rote Fenster.
Ein Fenster, durch das kein Licht mehr zu fallen schien, selbst wenn die Sonne leuchtete oder Brianna auf ihrer Flöte Lieder spielte, um die Schatten aus den Ecken des Zimmers zu vertreiben. Doch es nutzte selten etwas, schon gar nicht, wenn im Winter die Geister überall aus den Zimmerecken zu kriechen schienen.
Brianna saß am Klavier und spielte mit einer Hand eine leise, wehmütige Melodie, die er im ersten Moment nicht erkannte. Live Forever.
„Wo warst du?“
Caiohann O’ Sada lag in den weißen Kissen auf dem Bett unter dem roten Fenster, dessen Farbe kaum noch zu erkennen war und versuchte ihrem Sohn zuzulächeln. „Ich hab mich schon gewundert, wo du bist.“
„Nur nen Spaziergang.“
Sein Knie pochte heftig und seine Augen brannten. Zuviel geweint hatte er in letzter Zeit. Viel zu viel. Aber es gab viel zu viele Gründe dafür.
„Mir geht’s gut Mama. Ich mußte nur kurz nach den Pferden sehen und dann bin ich noch ein bißchen rumgegangen.“
Lächeln. Mechanisch wie eine Puppe. Wahrscheinlich mehr ein Zähnefletschen, doch seine Mutter lächelte zurück. Ein müdes, graues Lächeln auf dem eingefallenen Gesicht, umrahmt von stumpfen, rötlichgrauen Haar.
Ein Lächeln eines völlig vom Krebs zerfressenen Menschen. Der verzweifelte Versuch, noch eine Illusion von Gesundheit aufrechtzuerhalten.
Alain sah sie an und wußte daß der Arzt Recht hatte.
„Spielst du mir etwas vor?“
Wieder dieses Lächeln.
„Ja.“
Er setzte sich ans Klavier. Brianna stand hinter ihm.
„Was denn?“, hätte er am liebsten gefragt.
Doch er fragte nicht.
Er begann einfach.
Get Out Alive.
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für dich. du weißt, wen ich meine