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Es ist weit nach Mitternacht, ich kann nicht einschlafen und stehe auf. Ohne Licht anzumachen, tapse ich in die Küche, denn es wird allgemein geraten, in solchen Fällen sich nicht ruhelos im Bett hin und her zu wälzen, sondern aufzustehen und eine heiße Milch mit Honig zu trinken. Dies stand zumindest in einer Fachzeitschrift, und das muss dann wohl auch stimmen. Einer Kollegin, die oft unter Schlafproblemen zu leiden hat, riet ein Arzt jedoch, sie solle Wäsche falten. Doch frage ich mich, wo bekommt man um ein Uhr nachts Wäsche zum Falten her? Mit dem Becher in der Hand stelle ich mich ans Fenster, ans „Fenster zum Hof“. Mein Blick fällt unweigerlich auf das gegenüberliegende Hochhaus. Auch dort schimmert noch hier und da Licht durch die Fenster. Ob man auch nicht schlafen kann oder noch vor der Flimmerkiste hockt, eventuell sogar davor eingeschlafen ist? Vielleicht kam man auch erst gerade von der Arbeit nach Hause, denn heutzutage ist pünktlicher Feierabend oft ein Fremdwort. Aber ich kenne die Leute nicht, möchte sie auch gar nicht kennen lernen, oder doch? Im Frühjahr, wenn der wunderschöne Ahornbaum vor meinem Wohnzimmerfenster seine Blätterpracht entfaltet hat, kann ich überhaupt nichts von dem Hochhaus sehen und genieße es. Dann schaue ich nur auf den Baum, die Tanne, die rechts neben dem Ahorn steht und die Kiefer, links daneben. Nicht zu vergessen die Erle, die Birke und die Sträucher, die am Rande des Hofes zu finden sind, und ich bilde mir ein, fern von der Stadt im Wald zu sein. Jedoch stören die Geräusche der Straße diese eingebildete Idylle. Verdrießlich bin ich allerdings, dass die Samenkörner des Ahornbaumes, die bei Wind zur mir herübersegeln, auf dem Boden liegen bleiben, gerade wenn ich meinen Balkon für Frühjahr und Sommer hergerichtet habe. Einzelne landen auch in den Blumenkästen, keimen und versuchen, kleine Bäume zu werden, aber ohne mich.
Jetzt im März sieht man ab und zu die Eichhörnchen von Ast zu Ast hüpfen, die in der Tanne wohnen und wohl schon aus dem Winterschlaf erwacht sind. Die putzigen Tierchen sind der einzige Trost in der nicht enden wollenden kalten und ungemütlichen Winterzeit. Rechts von mir gibt es ein weiteres Hochhaus, das leider nicht von Bäumen verdeckt wird. So ärgere ich mich immer, wenn der alte Knacker vom siebten Stock, der stets im Unterhemd aus dem Fenster schaut, auf meinen Balkon stiert, wenn ich mich dort aufhalte. Ich nenne ihn den „Glotzer“ und er macht seinem Namen auch Ehre, denn er glotzt fast jeden Tag stundenlang aus dem Fenster. Dabei kann er von seinem Fenster nur auf den Hinterhof mit den parkenden Autos schauen oder aber auf „mein“ Haus, wobei das „mein“ nicht wörtlich zu nehmen ist, denn es gehört natürlich nicht mir. Ich habe lediglich eine Wohnung gemietet und insgesamt besteht es aus zwölf Partien. Einige Hausbewohner leben schon sehr lange darin, man grüßt sich mit Namen und wechselt hin und wieder ein paar Worte miteinander. Die meisten aber kennt man nicht, es sind junge Leute, die lediglich für ein paar Monate einziehen, und ehe man sich an sie gewöhnt hat, auch schon wieder ausziehen. Vielleicht handelt es sich um Studenten, die für ein oder zwei Semester hier bleiben.

Ehe ich wieder ins Bett gehe, in der Hoffnung, endlich einschlafen zu können, schaue ich noch aus dem Fenster zur Straße. Auch jetzt herrscht noch reger Autoverkehr. Eine alte Frau kommt mit ihrem Hund vorbei und ein verliebtes Pärchen, das sich gerade innig vor meiner Haustür küsst. Dann sehe ich noch einen Mann unsicheren Schrittes angeschlurft kommen. Oh, er scheint wohl ein paar Bierchen oder Gläschen zuviel getrunken zu haben, denn er torkelt, fängt sich aber wieder und geht schwankend weiter. Und da ich glaube, nun endlich in Morpheus‘ Arme versinken zu können, gehe ich zu Bett.
Der Wecker reißt mich unsanft aus süßen Träumen. Jetzt hätte ich noch weiter schlafen können, jetzt muss ich aufstehen. Schnell wird die Morgentoilette gemacht, eine Tasse Kaffee im Stehen getrunken und im Laufschritt geht es zur Straßenbahn. Auf dem Weg dorthin kommen mir ein paar Rentner in Jogginganzügen und Pantoffeln entgegen. „Mein Gott, die hätten doch noch schlafen können!“, denke ich neiderfüllt, ehe ich in die vollbesetzte Bahn steige. Keiner blickt auf. Entweder ist man in Tageszeitungen vertieft, oder aber man döst vor sich hin. Niemand spricht, doch da klingelt ein Handy. War aber auch höchste Zeit, denn eine Straßenbahnfahrt ohne Handytelefonate ist undenkbar. Die ganze Bahn muss nun mithören, wie der Angerufene über den Streit mit seiner Freundin am gestrigen Abend und schließlich über die endgültige Trennung berichtet. Aber den genauen Grund, warum er sich von ihr getrennt hat, den bekomme ich nicht mehr mit, ich muss nämlich an der nächsten Haltestelle aus- und umsteigen.
Der Weg zur U-Bahn führt am Kiosk vorbei, wo um diese Zeit, 7:30 Uhr, schon oder noch immer ein paar Figuren mit der Bierflasche in der Hand stehen, denen man im Dunkeln lieber nicht begegnen möchte. Die Treppe zur U-Bahn runter ist voll von ausgespuckten Kaugummis. In der Bahn sitzt mir gegenüber eine Dame, nein, eine Frau, die geräuschvoll auch einen kaut. Es soll ja gut für die Zähne sein, sieht aber schrecklich aus, vor allen Dingen die ausgespuckten und dann festgetretenen Kaugummis, die überall auf den Straßen liegen.

Der Alltag im Büro ist wie immer: nicht nur Ärger und Stress, auch manchmal das eine oder andere nette Wort vom Chef oder den Kollegen. Endlich Feierabend! Das Thermometer zeigt 12 Grad und die Sonne scheint sogar noch. Also entschließe ich mich, einen großen Spaziergang am Fluss entlang zu unternehmen. Mit dieser Idee bin ich offensichtlich nicht alleine, vor allen Dingen Hundebesitzer nutzen die recht angenehme Temperatur, um Bello auszuführen. Man hat deshalb den Eindruck, dass fast nur Leute mit Hund die Berechtigung haben, am Fluss entlang spazieren zu gehen. Verliebte Pärchen fehlen auch nicht, genau so wenig wie die Penner, die mit ihrem Hab und Gut in einer Plastiktüte auf der Bank sitzen. Eigentlich ist es zu kalt zum Sitzen, aber sie sind wohl an Kälte gewöhnt. Es kommt einem dann immer der Gedanke, warum leben die Menschen auf der Straße? Wollen sie das oder sind sie nur durch unglückliche Umstände dazu gezwungen worden? Im Winter, der sehr hart war, bot man ihnen zwar an, im Warmen zu übernachten, doch viele wollten davon nichts wissen. Sie hatten sicher Angst, dass ihnen das Wenige, das sie besaßen, auch noch gestohlen würde. Langsam wird es kalt und auch dunkel. Ich mache mich auf den Heimweg. Die Straßenbahn ist wieder voll, wiederum sieht man müde und abgespannte Gesichter. Zwei Rentner steigen ein und schreien vorwurfsvoll nach einem Sitzplatz. Aber niemand rührt sich, verständlich, denn fast alle sind nach einem arbeitsreichen Tag abgekämpft auf dem Heimweg.

„Meine Güte, was ist das in der heutigen Zeit für eine Jugend!“, ruft einer aus und der andere pflichtet ihm bei: „Zu unserer Zeit wäre so etwas nicht möglich gewesen. Wenn wir nicht aufgestanden wären, hätten wir eins hinter die Ohren bekommen!“

Nun, es sind aber absolut keine Kinder in der Bahn, denen man eine Ohrfeige verpassen könnte, was man aber sowieso nicht darf, und somit auch niemand, der für die beiden hätte aufstehen müssen. Doch geht die Tirade weiter: „Wir sind schwerbeschädigt, kann denn nicht mal jemand für uns seinen Platz freimachen?“

Inzwischen sind wir an der nächsten Haltestelle angekommen und zu meiner Überraschung steigen die beiden tatsächlich da wieder aus, wenn auch schimpfenderweise. Alle, die das mitbekommen haben, schütteln nur die Köpfe, glauben wohl im falschen Film zu sein, denn für eine Haltestelle von höchstens 2 Minuten so ein Theater zu machen, das ist doch mehr als lächerlich. Dann bin auch ich am Ziel. Als ich aussteige, höre ich hinter mir eine Stimme: „Hallo, guten Abend, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen!“

Überrascht drehe ich mich um und denke bei mir: „Muss ich die Dame kennen?“, lächle aber freundlich zurück und strenge mein Gedächtnis an, aber beim besten Willen, mir fällt nicht ein, wo ich sie hintun kann, bin daher fest überzeugt, sie noch nie in meinem Leben gesehen zu haben. Sie begleitet mich ein kleines Stück und plaudert munter drauf los. An der nächsten Ecke verabschiedet sie sich mit einem herzlichen „Schönen Abend“ und geht auf das rechte Hochhaus zu.

Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: „Klar, sie kennt dich vom Balkon!“ Sie wird wohl auch ab und zu aus dem Fenster schauen und mich dann auf dem Balkon sehen. Im Frühjahr und Sommer ist er nämlich mein zweites Wohnzimmer. Und da wir erst März haben, ich also den Balkon noch nicht nutzen kann, hat sie mich auch lange nicht sehen können. Interessant, da glaubt man, in der Großstadt anonym zu leben und dabei kennen einen doch mehr Leute, als man wahrhaben will. In ländlichen Gegenden findet man oft am Gartentürchen ein Schild, das einen Hundekopf zeigt, meistens einen Schäferhund, und darunter steht zu lesen: “Hier wache ich!“ Vielleicht sollte man in der Großstadt eins aufstellen mit der Inschrift:„Hier wacht mein Nachbar!“

Ich habe schon den Schlüssel in der Hand, um aufzuschließen, da wird die Haustür aufgerissen. Die Frau von der zweiten Etage steht vor mir, sie trägt wie immer einen großen Rucksack auf dem Rücken und ist auch wie immer mürrisch. Doch ein knappes „Abend“ presst sie heute hervor, aber ehe ich antworten kann, ist sie schon losgerannt. Sie wohnt bereits über ein Jahr in dem Haus und ich weiß auch, wie sie heißt, aber das ist auch alles. Einen dazugehörenden Mann meine ich, gibt es auch, habe ihn allerdings noch nie gesehen, sagen wir mal, wissentlich.

Im Flur hängt ein großes Schild: „An alle Hausbewohner“. Ich hole die Brille heraus und lese, dass die dritte Etage am Wochenende eine Party geben will und jetzt schon wegen eventuellem Lärm um Verständnis bittet. Habe ich zwar, bin aber am Wochenende gar nicht da.

Endlich bin ich in meiner Wohnung angelangt, werfe alles von mir, hülle mich in einen bequemen Hausanzug, mache mir etwas zu essen und dann beginnt der gemütliche Feierabend mit Telefonieren, Lesen und ein bisschen Fernsehen. Ich lebe zwar alleine, bin aber nicht einsam, denn ich habe einen netten Kollegen- und Freundeskreis, mit dem ich viel unternehme, bin aber auch schon mal froh, niemanden zu sehen und zu hören, einfach nur zu tun und zu lassen, wozu ich Lust und Laune habe.

In dieser Nacht schlafe ich schnell ein und werde erst durch den Wecker munter, bin also ausgeschlafen und springe flink aus dem Bett. Der Tag im Büro ist zum Glück ohne besonderen Ärger und Stress. Danach eile ich nach Hause, denn heute Abend geht es mit Freunden zum Schwimmen. Jeden Dienstag treffen wir uns, tun etwas für unsere Gesundheit. Anschließend geht es zum Stammtisch, denn es könnte ja möglich sein, dass man durch das Schwimmen ein paar Kalorien verloren hätte, und die müssen unbedingt ersetzt werden.

Mittwochabend steht Gymnastik auf dem Programm. Da treffe ich Freundin Karla und wir beide tun wieder etwas für die Gesundheit. Unsere Gymnastiklehrerin, eine junge Sportstudentin, lässt sich immer was Tolles einfallen, so dass die Stunde auch viel Spaß macht.

Als ich nach Hause komme, steht vor dem Nebenhaus ein Polizeiwagen. Meine Nachbarin, die gute Frau Schmitz, stürzt auf mich zu: „Haben Sie schon gehört? Nebenan ist der Herr Huber gestorben, das heißt, er ist schon vierzehn Tage tot, aber erst heute hat man das bemerkt!“ Ich weiß zwar nicht, wer der Herr Huber ist, aber ich finde es einfach schrecklich, dass jemand erst nach vierzehn Tagen tot in der Wohnung gefunden wird und ihn offensichtlich niemand vermisst hat. So horche ich Frau Schmitz noch ein bisschen aus. Sie kennt nämlich die halbe Nachbarschaft, besonders durch ihre beiden Kinder, mit denen sie viel unterwegs ist.

„Natürlich wissen Sie, wer es ist", sagt sie sofort, „er schaute doch immer aus dem Fenster und beschwerte sich, dass die Kinder zu laut waren!“ "Ach, der!", ist meine wenig intelligente Antwort. "Er war zwar ein unsympathischer Zeitgenosse, doch einen einsamen Tod würde ich noch nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen, und somit auch nicht ihm, dessen Alltag nur aus Meckern und Schimpfen bestand."

Ich gehe in meine Wohnung, nachdenklich und auch ein bisschen betroffen. Wie mag er die letzten Stunden seines Lebens verbracht haben? Hatte er Schmerzen, hat er viel gelitten, hätte man ihm noch helfen können, wenn man es gewusst hätte? Aber es gab wohl keine Angehörigen, die er um Hilfe bitten konnte. Auf der Straße sah man ihn, wenn überhaupt, immer alleine. Sollte es mir auch einmal so ergehen?

Donnerstags steht regelmäßig ein Treffen mit Marion an. Sie wohnt auch in der Stadt, jedoch nicht wie ich in einem Viertel, das noch zur Altstadt zählt. Mit der Straßenbahn ist man aber in zehn Minuten da. Es ist ein großer Wohnpark mit 500 Wohnungen. Böse Zungen reden von „Klein Manhattan“. Sie hat eine wunderbare Penthauswohnung auf der neunten Etage mit einem ganz tollen Ausblick. Von ihrem Balkon kann man auch die Ein- und Abflugschneise vom Flughafen sehen. Da bekommt man – besonders im Herbst und Winter – Lust, sich ebenfalls in die Lüfte zu erheben, um in den Süden und die Sonne zu fliegen. In meinen Augen hat diese einzigartige Wohnung für sie jedoch einen Nachteil, denn sie leidet unter Platzangst und geht die neun Etagen immer zu Fuß hoch, natürlich ohne Gepäck. Ihre Einkaufstüten schickt sie entweder mit dem Aufzug hoch oder lässt sie im Auto und ihr Mann bringt sie abends mit. Ich bevorzuge jedoch den Aufzug, so wie auch heute.

Doch plötzlich bleibt er stehen, genau zwischen der vierten und fünften Etage. Es tut sich absolut nichts. Ich greife zum Handy und rufe Marion an.

„Was, du steckst im Aufzug fest! Ich habe ja immer Angst, dass so etwas mal passiert. Bleib ruhig, ich benachrichtige sofort den Hausmeister.“

Da hatte ich aber auch schon auf den Notknopf gedrückt und eine Stimme verriet mir, dass man sich sofort auf den Weg machen würde, um mich aus der Notlage zu befreien. Ich müsse mich aber etwas in Geduld üben, denn man wäre nicht vor Ort.

Inzwischen höre ich Stimmen im Flur. Auch die meiner Freundin: „Hast du den Notknopf betätigt? Der Hausmeister meinte, das wäre wichtig, allerdings hat er bereits angerufen. Aber es wird dauern! Drücke bitte unbedingt auf den Ventilatorknopf, damit du frische Luft hast.“

Wenn man in so einer verzwickten Lage ist, dann werden Sekunden zu Stunden. Und der Menschenauflauf im Flur wird immer größer. Alle reden sie mir gut zu und bitten mich, durchzuhalten. Nun, das werde ich, denn ich habe nicht vor, mein Leben im Aufzug auszuhauchen. Mir fällt nämlich ein Film ein, in dem zwei übers Wochenende im Aufzug eingesperrt waren und nur noch als Leichen herauskamen.

Dann ein Aufschrei: „Es kommt Hilfe!“ Und kurze Zeit später setzt sich der Aufzug endlich in Bewegung und hält vorschriftsmäßig auf der fünften Etage. Ein bisschen blass steige ich aus und gehe dann zusammen mit Marion auf die neunte Etage rauf. Und später will ich auch wieder zu Fuß hinuntergehen.

Beim nächsten Mal aber werde ich wieder den Aufzug benutzen. Was ich allerdings absolut meide, das ist der Paternoster. Da hat man immer Angst zu früh ein- oder zu spät auszusteigen. In der Volkshochschule gibt es so ein Beförderungsmittel. Da nehme ich dann lieber die Treppe.

Freitags steht meistens ein Friseurbesuch auf dem Terminkalender und ab und zu ein Besuch bei der Kosmetikerin, der zwar immer sehr angenehm ist, einen aber weder jünger noch schöner macht. Und abends daheim der Freitagskrimi, bevorzugt „Der Alte“, wobei ich sagen muss, dass der alte „Alte“ mir besser gefallen hat als der neue „Alte“.

Am Wochenende wollen wir eine Wanderung in die Eifel unternehmen und dort ebenfalls übernachten. Wir sind fünf Damen, alle im gleichen Alter, kennen uns vom Spielplatz her, allerdings dem unserer Kinder.

Endlich Samstag! Das Schönste ist das Frühstück, das in der Woche leider vernachlässigt wird. Mein Bistrotisch mit den dazugehörenden hohen Stühlen steht am Fenster, dem "Fenster zum Hof", und zu meiner großen Freude sehe ich, dass trotz des erneut miesen Wetters es auch dieses Jahr doch noch Frühling wird. Der Ahornbaum ist nicht mehr so durchsichtig, ich kann die gegenüber liegenden Fenster nicht mehr klar erkennen. Herrlich! Dafür sehe ich ein Elsternpaar, das ganz fleißig ist. Es ist nämlich dabei, in der Erle ein Nest zu bauen. Ein ziemlich schwieriges Unterfangen, denn es müssen überall Stöckchen gesammelt und sorgsam eingeflochten werden. Ein Vogel betätigt sich im Nest, während der andere auf die Suche geht. Kommt er zurück, beginnt er sofort mit der Arbeit und der andere fliegt fort, um neues Baumaterial zu besorgen.

Da der Frühling wohl nun doch vor der Türe steht, stelle ich fest, dass ich gar nichts mehr anzuziehen habe. Dem muss unbedingt abgeholfen werden. Ich greife sofort zum Telefon und verabrede mich für Montag nach Dienstschluss zum Stadtbummel. Und nun wird es Zeit, sich für das Wochenende in der Eifel zu rüsten.

Freie Tage vergehen immer schneller als Arbeitstage, aber auch der Montag vergeht, wenn auch nicht so angenehm wie das Wochenende. Miriam steht schon an der Sparkasse, wo wir uns verabredet haben, denn sie kommt mit der Straßenbahn und ich mit der U-Bahn, und da ist die Sparkasse ein guter Treffpunkt.

Wir bummeln gemütlich durch die Einkaufsstraßen, die wie immer voller Menschen sind. Und wie immer steht mittendrin ein Mann mit einer Drehorgel, der „Orgelspitter“, wie er allgemein genannt wird. Er steht dort schon seit Jahr und Tag. Einmal trafen wir ihn sogar auf einer Fete, da spielte er ein paar richtige Gassenhauer und alle sangen mit. Verkaufskarren dürfen ebenso wenig fehlen wie Bettler, vielfach mit ihren Hunden. Stadtbekannt ist eine Bettlerin, die vor Jahren vor C&A saß und die Hand aufhielt. Irgendjemand hat dann gesehen, wie sie abends von einem flotten Herrn in einem schicken Mercedes abgeholt wurde. Das Handaufhalten war wohl ein gutes Geschäft. Sollte man vielleicht auch mal versuchen.

Wir beide aber halten Ausschau nach modischen Sachen, denn obwohl wir zur Gruppe „Dame ohne Alter“ gehören, möchten wir uns doch lieber etwas Flotteres zulegen. Aber es ist schwierig, entweder gefällt es uns nicht oder es ist uns zu teuer. So gehen wir erst einmal ins „Trödelcafé“, wo es den besten Kakao gibt, zwar alles andere als kalorienarm, aber einfach köstlich, und dazu gibt es auch noch einen kleinen Eierlikör. Die Stühle, auf denen wir sitzen, und der Tisch, auf den gerade die Bedienung die Becher mit dem verlockend riechenden Kakao stellt, kann man kaufen. Genauso wie die Bilder, Lampen und Nippes. Gestärkt machen wir uns dann wieder auf den Weg und finden tatsächlich etwas: ein Paar schicke Schuhe für Miriam und einen tollen Rock für mich.

Leider muss an diesem Dienstag das Schwimmen ausfallen, der Chef lässt mich nicht gehen. Er hält mich zwar nicht direkt fest, aber die Sache ist dringend, was man ja auch einsieht. Vielleicht schaffe ich es noch zum Stammtisch? Doch während der ganzen Woche ist nicht an einen pünktlichen Feierabend zu denken. So freue ich mich aufs Wochenende, denn wir wollen wieder etwas für die Gesundheit tun und die Großstadt mit den vielen Abgasen verlassen. Das ist ganz einfach, da die Verbindungen mit Bahn, Bus, Zug und Flugzeug ideal sind. Man ist überall schnell und ohne große Probleme. Jedoch steht dieses Wochenende keine Flugreise an, wohl aber ein ausgedehnter Spaziergang am Fluss entlang. Im Sommer fahren wir auch oft mit dem Fahrrad, aber jetzt im März geht es per Pedes. Das Wetter ist herrlich und so bewegt sich praktisch eine Völkerwanderung zur Freizeitinsel. Sie liegt wunderhübsch an einem Arm des Flusses und lädt mit ihren vielen urigen Lokalen zum Verweilen ein, nicht zu vergessen im Sommer die gemütlichen Biergärten.

Der Samstag beginnt wie immer mit einem ausgedehnten Frühstück mit Blick auf den immer frühlingshafter werdenden „Wald“ vor meinem Fenster. Es sieht so aus, als wenn Herr und Frau Elster mit dem Bau ihres Nestes fertig wären. Da kommt ein Eichhörnchen. Es springt von dem Ahornbaum auf die Kiefer und von dort – oh Schreck – in die Erle, in dem die Elstern wohnen. Es gibt ein fürchterliches Gezeter, beide Elstern stürzen aus dem Nest auf das Eichhörnchen, das flieht auf die Kiefer. Die beiden Vögel folgen ihm, das Eichhörnchen versteckt sich hinter einem Ast. Die Elstern suchen es und treffen auf ein zweites Eichhörnchen. Jetzt beginnt ein großartiges Theater. Die beiden Eichhörnchen spielen mit den Elstern Verstecken, die aber wollen nicht spielen, sie wollen die beiden vertreiben, doch die beiden lassen sich nicht vertreiben. In dem Moment klingelt das Telefon. Es ist zwar meine liebe Freundin, aber nun kann ich dem Drama oder der Komödie nicht mehr folgen, denn als ich zurückkomme, da ist wohl alles wieder in bester Ordnung. Die Elstern sitzen bestimmt in ihrem Nest und die Eichhörnchen scheinen offensichtlich den gewünschten Rückzug angetreten zu haben.

Apropos Theater. Die Stadt hat davon jede Menge und mit Sicherheit für jeden Geschmack etwas. Die Oper ist zwar nicht mehr das, was sie mal war, aber das habe ich auch schon aus anderen Städten vernommen. Die Sänger sind klasse, aber die Inszenierung und die Kostüme lassen zu wünschen übrig. Museen gibt es auch in großer Anzahl, nicht zu vergessen die wunderschönen Kirchen.

Ich lebe gerne in der Großstadt, obwohl man auch dort nicht ganz anonym lebt. Aber es ist kein Vergleich mit dem Leben in einem Dorf, wo fast jeder jeden kennt. Doch hat sich in den Dörfern auch in letzter Zeit ein Wandel gezeigt. So fand ich kürzlich folgenden Artikel in der Tageszeitung: „Dem Druck der hohen Mieten in den Ballungsräumen ausweichend, finden Großstädter den Weg in die Dörfer. Deren gewachsene Strukturen halten solche radikalen Veränderungen selten ohne Brüche aus. Wenn die Dorfgemeinschaft nicht aktiv auf die Neuen zugeht, bleiben die Zugezogenen fremd – dort, wo vor Jahren jeder genau wusste, wer mit wem wann geklüngelt hatte.“

Ich werde nie eine Episode vergessen, die sich in einem Dorf zugetragen hat, das nur zehn Kilometer von der Großstadt entfernt liegt und heute eingemeindet ist. Da sagte der Postbote zu Frau Müller: „Ihre Schwester hat Ihnen geschrieben, ich habe zwar vergessen, die Postkarte mitzubringen, aber ich kann Ihnen sagen, was draufsteht!“

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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2009

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