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Erklärungsbier



„Ich habe das schon immer gewusst!“, stieß Ottmar hervor und warf die Zeitung auf den Boden.
Konrad Meissner sah seinen Maurerkollegen erstaunt an.
„Was denn?“
„Na, dass man diesen Brüdern nicht trauen kann. Diesen Finanzfredies.“
Konrad warf einen Blick auf die Zeitung, welche nun vor der untersten Gerüstbohle im Matsch lag.
Milliardenverluste durch Investmentbank! Lehmanns pleite!
„Hast du denn dort auch Verluste?“, fragte Konrad verwundert. Er wusste, dass Ottmar eine Lohngruppe geringer als er eingestuft war und fragte sich nun, wie man mit dem geringen Verdienst noch im Finanzmarkt investieren konnte.
„’n paar hundert Euro“, stöhnte Ottmar Berger und trat nach der Zeitung. Dann steckte er sich eine Zigarette an und drückte sie auch gleich wieder im Aschenbecher aus. „Diese Ärsche. Wenn ich das meiner Wilma, erzähle flippt die aus. Die reißt mir glatt die Eier ab.“
Fast verschluckte sich Konrad am Kaffee. Er stellte den Becher der Thermoskanne wieder auf die Gerüstbohle.
„Du steckst da irgendwo Geld rein und deine Frau weiß das nicht?“
Ottmar schüttelte den Kopf. „Die weiß das schon, aber die hat mich vorher gefragt, ob die Jungs da auch in Ordnung sind. Und ich habe ja gesagt.“ Er nahm einen neuen Glimmstängel, machte dieses Mal schon zwei Züge, ehe er ihn zerstörte. „Und jetzt haben die solche Verluste. Das gibt Ärger.“
„Du kennst welche von den Lehmanns?“
„Nu klar“, meinte Ottmar. „Den Rothaarigen. Fred, so heißt er. Der wollte mir doch für die Rente dieses Geschäft erledigen. In sechs Monaten gehe ich in den Ruhestand. Bis dahin sollte alles in trockenen Tüchern sein. Spätestens!“
„Eine Immobilie oder Bares?“, fragte Konrad und biss von seinem Leberwurstbrot ab.
„Bares? Das is’ ja durch diese Brüder nun alles weg. Eine Immobilie war es. `n schönes Ding im Osten der Stadt. An so`m Stichkanal. Ganz üdillisch.“
„Scheiße!“
„Ja“, bestätigte Ottmar und sah sich dann auf der Baustelle um. „Ist denn der Strippenzieher noch da?“
„Klaus? Ja. Der sitzt doch in der Pause immer bei den Putzern im Bauwagen. Wieso?“
„Der hat doch gestern den Hausanschluss gemacht, oder?“
Konrad nickte.
„Dann hat der sicher noch ein Stück von dem Sechzehnquadrat“, stellte Ottmar für sich fest.
„Was willst du mit so einem dicken Kabel?“
Ottmar sah seinen Kollegen mit großen Augen am und sagte: „Das ist auf einen halben Meter Länge geschnitten ein ganz schöner Prügel.“
„Und wenn du es hast?“, fragte Konrad und lachte leise. „Willst du damit vor deine Wilma treten? Um dich zu verteidigen?“
„Quatsch!“, blaffte Ottmar. „Damit fahre ich heute Abend in die Saganer Strasse und haue mindestens einem der Vieren in die Fresse.“
„Welchen Vieren?“
„Na den Brüdern. Lehmanns. Christian, Erich, Claus und Hendrik. Die haben mir doch versprochen, dass sie mir für meine Kohle diesen Schrebergarten und die kleine Laube am Stichkanal vermitteln. Lehmanns Beratungs- und Maklerbüro in Hamburg. Ich kenne die doch schon seit fast zwanzig Jahren. Und jetzt sind die Pleite. Haben meine Kohle verspekuliert. Ist das kein Grund, dass ich die windelweich schlage?“
Konrad stand auf, schraubte den Deckelbecher wieder auf die Thermoskanne und legte eine Hand auf die Schulter seine aufgebrachten Kollegen.
„Otti, ich glaube wir sollten am Kiosk ein Bier nehmen. Ein Erklärungsbier!“


Silvesternacht




Die Tränen mischten sich mit dem Sekt in dem Glas, welches er sich gerade an die Lippen setzte.
Er stand vor dem Fenster. Auf den Balkon hinauszutreten wagte er nicht, denn die Nachbarn standen alle auf dem Hinterhof, prosteten sich dort zu. Er wollte nicht gesehen werden, daher war das Licht in dem Raum auch gelöscht.
Am Himmel über den Hausdächern spalteten sich dutzende Silvesterraketen und verwandelten sich in glühenden Sprühregen.
Zum letzten Jahreswechsel hatte er auch dort im Hof gestanden. Mit Sarah. Arm in Arm. Und Rebecca war zwischen den Nachbarn hin und her gelaufen, Apfelsaft in ihrem Sektkelch. Jedem wünschte sie ein frohes neues Jahr.
Er hob langsam das Glas und sah in den Funken sprühenden Nachthimmel.
Sarah war im Spätsommer ihrer langen Krankheit erlegen. Im Januar war noch alles in Ordnung gewesen, doch der April brachte eine schreckliche Wende. Der Arzt warf ihr vor, dass sie ihn zu spät konsultiert hatte. Er könne nun nur noch mit ihr hoffen.
Als man ihn Anfang Oktober auf der Arbeit anrief, nahm er vergnügt ab, denn ein Kollege hatte ihm gerade einen Witz erzählt. Doch das Vergnügen erstarb. Rebecca war bei Rot über die Strasse gelaufen. Der Fahrer des Lieferwagens hatte nicht mehr bremsen können.
Die Hand mit dem Sekt zitterte. Der Rand des Glases schlug leise klirrend an das Fenster. Die Augen sahen die Raketen nicht. Sie sahen einen Sternenhimmel und, nur schemenhaft, zwei Gesichter.
Die Tränen fielen nun nicht mehr in Perlwein. Sie liefen an Wange, Kinn und Hals hinunter.
Er versuchte seiner Stimme einen mutigen Ton zu geben.
„Ein schönes frohes Jahr wünsche ich euch beiden, wo immer ihr auch seid, und auch mir, denn wir bleiben auch im nächsten Jahr, nein, in diesem Jahr und auf ewig zusammen.“ Er trank einen Schluck, drehte sich dann um und stellte das Glas neben die kleine Piccoloflasche.
„Und ein glückliches Jahr allen Menschen auf dieser Welt.“
Bevor er sich schlafen legte, die Decke über seinen zitternden Körper zog, drehte er die beiden Bilder auf dem Nachtschränkchen zu sich. Er lächelte. Und er weinte nicht mehr, denn seine Tränen waren aufgebraucht.

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Tag der Veröffentlichung: 14.03.2009

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