Vom Wort zum Mord
Max Venske fand den Zettel mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt, als er von der Schicht nach Hause kam. Er legte seine Tasche beiseite und nahm das Stück Papier ab.
„Du hast nicht abgewaschen“, äffte er in der Stimme von Marianne einen Teil der Nachricht nach. „Damit ist dein Skatabend nächste Woche wohl TABU.“
Im Wohnzimmer brannte noch Licht und der Ton des Fernsehers war leise zu hören.
Venske zog seine Jacke aus, warf sie auf die alte Eckbank und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Er dachte daran, dass sie die Nachricht absichtlich an die Tür geklemmt hatte, weil sie genau wusste, wie er seinen Feierabend nach einer Spätschicht begann: Mit einem Bier.
Langsam, doch mit schlurfendem Gang, betrat er das Wohnzimmer.
„Heb doch deine Füße!“
Marianne lag halbschlafend auf dem Sofa und vor ihr, auf dem kleinen Couchtisch, stand ein Teller voller Schnittchen und daneben ein Schale mit Keksen.
„Einen schönen Abend auch dir“, antwortete Venske und hielt den Zettel mit der Nachricht empor. „Seit wann kannst du tongaische Sprache?“
Mariannes Lider, wie immer dick mit blauer Schminke bedeckt, hoben sich langsam. „Was is’?“
Venske legte den Zettel über die Schnittchen. „Na dieses Wort hier am Ende. T-A-B-U. Das ist ein Wort aus der Sprache der Bewohner der Inseln von Tonga.“
„Jaja.“ Marianne verzog ihre Mundwinkel und stupste den Zettel fort. „Habt ihr auf der Arbeit wieder am Schnaps genippt?“
Venske ignorierte die Bemerkung. „Man sagt, erst seit dem letzten Jahrhundert hat man dieses Wort hier bei uns benutzt.“
„Bist du heute wieder als Klugscheißer unterwegs, Ossi?“
Max setzte sich in den Sessel. „Du ziehst heute ja alle Register! Hochachtung! Als Ossi bezeichnet man auch ein Oszilloskop oder, früher jedenfalls, scherzhaft einen Ostfriesen. Es gibt auch einen Ort auf Sardinien, der so heißt.“
Marianne setzte sich mühsam auf, schob sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn und sah ihren Lebensgefährten genervt an. „Du bist ein Ossi, weil du aus Magdeburg kommst. Und du weißt ganz genau, wie ich das meinte!“
„Bin ich ein Ossi? So wie unser Erich Honecker?“
„Klar“, zischte Marianne und biss fast boshaft in ein Schnittchen. „Der war doch der Ober-Ossi.“
„Und er kam aus dem Saarland. Aus Neunkirchen, denn dort wurde er geboren. Das ist die zweitgrößte Stadt im Saarland.“
Marianne warf das Schnittchen auf den Teller zurück.
„Schmeckt es dir nicht? Wäre ja auch neu.“ Venske lächelte gedrungen und nahm einen Schluck aus der Bierflasche.
„Hast du Schnarcher auf einem Lexikon geschlafen?“
„Das Wort betreffende Buch oder die Sammlung“, nickte Venske.
„Was?“
„Na, Lexikon“, meinte Venske. „Altgriechisch von lexis, was soviel wie Wort bedeutet, und legein, was auch sammeln heißt.“
Er sah nicht auf, doch hörte er, wie der Teller mit den Schnittchen vom Tisch gefegt wurde und Marianne aufsprang.
Gemächlich hob er seinen Kopf.
„Du bist ja heute ganz pfiffig!“, fauchte Marianne und ihr Gesicht wirkte wie das einer Furie. „Willst du mich auf die Palme bringen? Ich wollte fernsehen.“
Venske sah kurz zum Bildschirm. „Was gibt es denn? Jeopardy ?“
Mariannes Gesicht rötete sich und sie kam auf ihn zu. „Das sehe und mag ich nicht. Du weißt das genau!“ schrie sie.
Venske schien ganz gelassen und zeigte ein Lächeln. „Nicht? Solltest du aber. Das bildet. Wusstest du, dass die Sendung vom selben Erfinder ist, der auch Glücksrad erfunden hat?“
„Bitte?“ Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und ihr fleckiges T-Shirt spannte sich über den immensen Bauch. „Das interessiert mich so wenig wie diese Theorie von diesem Eisenstein.“
„Einstein, Schatz. Einstein!“ Er trank einen Schluck.
„Is’ mir egal.“
Venske kicherte und sah auf. „Und er hatte zwei Relativitätstheorien. Eine nannte man die Spezielle und eine die Allgemeine. Welche meinst du?“
Marianne sog tief Luft ein und ihr Gesicht schien fast zu platzen. „Was bildest du dir ein? Vor ein paar Jahren warst du froh, als ich du hier einziehen konntest.“
„Damals hattest du auch noch keine Adipositas.“
„Was?“
„Adipositas. Eine über das Maß hinaus gehende Vermehrung des Körperfettes.“
Marianne holte aus und gab Venske eine Ohrfeige. „Du elende Schabracke!“
Venskes Wange brannte, doch er unterdrückte den Wunsch sie zu berühren. Stattdessen sah er Marianne an, die nun zwei Schritte zurück gewichen war und wutschnaubend vor dem Fernseher stand.
„Schabracke?“ Das Grinsen tat Venske weh. „Das ist eigentlich ein Schimpfwort für eine unansehnliche Frau. Du irrst dich also in meinem Geschlecht. Der Wortursprung kommt aber von der Sattelunterlage beim Reitsport.“
Er stand auf und ging zur Wohnzimmertür. Marianne griff nach dem kleinen Modell einer Gondel, die auf dem Fernseher stand.
„Du solltest deine Beleidigungen besser wählen. Sie wirken sonst nicht.“ Er wich der Gondel aus. Sie krachte an den Türrahmen und zersprang in viele kleine Teile. „Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche.“
„Ich breche dir den Hals“, kreischte Marianne und hob bedrohlich ihre Arme. Die Hände waren zu Fäusten geballt und ihr massiger Körper bebte.
„Hals- und Beinbruch ist eine Verballhornung eines jiddischen Sprichwortes. Aber in deinem Fall, sollte es wohl eher bedeuten: Ich breche dir das Genick! Denn, den Hals an sich, der ja aus Muskeln, Fleisch und den Knochen besteht, kann man nicht brechen. Er ist zu weich.“
Marianne rannte auf ihn zu und ehe er ausweichen konnte prallte ihr Körper gegen ihn. Venske wurde von den Füßen gefegt und landete hart auf dem Boden des Flures. Die Bierflasche flog durch die Wohnung und blieb kullernd vor der Eingangstür liegen.
„Ich bin froh, dass du so ausgeglichen bist“, knirschte Venske durch die Zähne und hielt sich den Brustkorb. Marianne wog sicherlich eineinhalb Zentner mehr als er und dies spürte er nach diesem Angriff bei jedem Atemzug. „Dann wirst du auch verarbeiten können, dass man mich zum nächsten Ersten freigesetzt hat.“
„Was?“ Die Stimme klang schriller denn je.
„Freigesetzt. Ist ein neu deutsches Wort für Entlassung.“ Er hörte seine Bronchien beim Lachen röcheln. Die Zigaretten der letzten Jahrzehnte meldeten sich.
Marianne wankte zurück, bis der Türrahmen sie stoppte. Ihr Gesicht war nun kreidebleich, ihre Atmung noch heftiger und ihre Hand legte sich auf die Brust. „Du bist…?“
Venske konnte sich langsam aufsetzen. „Ab nächsten Monat arbeitslos.“
Marianne sackte in die Knie und ihre Finger krallten sich in T-Shirt und Brust. „Aber, aber….wieso?“ Kalter Schweiß rann ihr das Gesicht herunter.
„Wieso?“ Venske kroch weiter von ihr fort. „Sie wollten den Jennings kündigen. Einer aus der Abteilung musste es sein. Aber Jennings? Der hat drei Kinder. Da habe ich mich freiwillig gemeldet. Du kannst ja putzen gehen, wie früher, dann ist es halb so schlimm.“
Mariannes Mund öffnete sich zu einem Schrei, der aber ausblieb. Ihr Gesicht wurde zu einer starren, aschfahlen Maske. Dann fiel ihr Körper vorn über und blieb regungslos liegen.
Erst nach Minuten stand Venske auf. Vorsichtig ging er, um Mariannes Körper herum, in die Küche. Ein neues Bier nahm er sich aus dem Kühlschrank.
Er prostete Marianne zu. „Schade, dass dein schwaches Herz es dir untersagt, die gute Nachricht zu hören. Die Geschäftsleitung hat meine freiwillige Meldung abgelehnt. Auf mich könnten sie nicht verzichten, sagten sie.“
Texte: Covergestaltung unter Verwendung der Heinrich Zille Zeichnung "Moabit"
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2009
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