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Bens Kampf

Die Heerscharen sah er nicht, doch ihre Fackeln bedeckten die ganze Ebene. Überall waren sie aufgeflammt und unsichtbare Wächter hielten sie fest in starken Fäusten. Teils gerade, wie mit Schnur und Lineal gezogen, teils übereinander, auf Stufen, auf denen nur sie sicher stehen konnten.
Nebel wallte auf und Benjamin Greyson versuchte mit zusammengekniffenen Augen Details zu erkennen. Doch der Dunst nahm sogar noch zu. Ben zwinkerte und wunderte sich, denn die feinen Tropfen der Schwaden fingen sich nicht auf seinen Wimpern. Er liebte dieses Gefühl, wenn er die Feuchtigkeit des Nebels als Niederschlag auf seinen Lidern spürte. Doch es blieb aus. Er nahm an, dass es an dem hohen Aussichtspunkt lag, auf welchem er stand.
Linda saß hinter ihm, mit dem Rücken an eine graue Wand gelehnt und leise war ihr Schluchzen zu hören.
Ben achtete nicht auf die Geräusche, die seine Frau dort von sich gab. Schon immer hatte sie eine sensible Seele in sich getragen und es störte ihn nicht, wenn sie nun weinte. Stattdessen sah er in das weite Tal hinab und fragte sich, wie es wohl wäre, wenn er einem Vogel gleich durch die Luft gleiten könnte und von den Aufwinden getragen, seine Runden drehend, langsam zu Boden segeln würde. Dorthin, wo die Fackeln die Nacht erhellten.
„Ben?“
Er ignorierte Lindas jammernden Ruf. Was dachte sie sich? Hatte er nicht die meiste Last zu tragen? War es nicht er gewesen, dessen mutiger Kampf so ungestüm und ungerecht bestraft worden war? Sie hatte nur daheim gesessen, während er dem Tod ins Auge gesehen hatte, während Stahl auf seinen Kopf herabgesaust war und ihm Haut und Haare vom Kopf gerissen hatten. Hatte er nicht gegen die Flammen ankämpfen müssen, um seinen Kameraden zu helfen? Welche Flammen hatte sie gesehen? Die Flammen der Lust, als sie mit seinem eigenen Bruder im Bett gelegen hatte, während er einem unbesiegbaren Feind die Stirn geboten hatte?
Nein, ein Vogel war er nicht. Und hinab segeln, in das Tal, konnte er auch nicht. Zudem nahm der Nebel zu. Man sah kaum noch die Lichter da unten. Aber die in den Höhen schimmerten noch leicht durch den Nebel.
„Hör mir zu, Benjamin.“
Er drehte sich um. Auch Linda war schon vom Nebel umgeben. Doch ihr weißes Gesicht, schmal und mit einer schlanken Nase, dass ihn einst so fasziniert, dass er geliebt hatte, war deutlich zu erkennen. Er erinnerte sich an ihre feingliedrigen Hände. Wann hatten diese ihn das letzte Mal gestreichelt?
„Hab keine Angst“, sagte er leise und hockte sich nieder.
„Sie werden hier herauf kommen, Ben. Sie werden es nicht zulassen …“
„Hast du Angst vor dem Moment? Wenn sie kommen? Hast du Angst davor?“ Sein Kopf legte sich zur Seite und seine Augen bekamen einen fürsorglichen Blick. „Sie werden dir nichts tun, denn ich bin hier.“
„Ich habe Angst vor dir!“
Lindas Kopf streckte sich vor und ihre Lippen glänzten sinnlich. Ihre Zunge fuhr über die Unterlippe hinweg, langsam, befeuchtete sie.
„Ich tue dir auch nichts.“
Das Tal rief ihn wieder und er stand auf. Langsam ging er auf den Rand des Abgrundes zu und setzte seinen rechten Fuß auf einen erhöhten Stein. Er stemmte die Arme in die Hüften, dann riss er sie auseinander, so heftig, dass sich die Muskeln in seinen Schultern schmerzhaft verkrampften. Seine Hände klatschten an die Oberschenkel zurück, doch sich vor den Schmerzen zu beugen, dass wollte er nicht. Irgendwann ließ das Ziehen nach.
„Ben?“, fragte Linda. „Bitte, sprich mit mir.“
Er sah hinunter, erkannte sich bewegende Fackeln, klein und harmlos aus dieser Höhe betrachtet.
„Hat Joe mit dir gesprochen? Oder hat er dich gleich besprungen, als ich am Morgen gegangen war?“
Joe hatte seit Monaten bei Linda und Benjamin gewohnt. Er hatte keine Arbeit gefunden, dafür Kost und Logis im Rahmen der Familie. Und Lust.
„Mit Joe“, weinte Linda. „Das war nur einmal. Ich fühlte mich einsam und ich hatte Angst. Du warst nicht da. Nicht für mich da! Doch Joe war da und er tröstete mich. Es war ein Versehen, ein Fehler. Es war nur das eine Mal.“
„Nur einmal? Und es war wohl so schön, dass ihr solange im Bett lagt, bis ich heimkam?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte weinen, denn so viele waren gestorben. Und als ich euch sah, wollte ich töten, denn da war ich gestorben.“
Linda setzte sich auf. Sie war zur Seite gerutscht und saß nun wieder gerade.
„Dieser Tag hat dich zerstört. Die Stunden bevor du uns gesehen hast, haben dich zerrissen.“
Irgendwo krachte es.
Bens Kopf ruckte herum, doch der Nebel verbarg alles. Nur Lindas bleiches Gesicht war noch zu erkennen. Die schlanke Nase jedoch löste sich auch schon auf.
Er vernahm Schritte. Steine rieben aneinander und knirschten unter Stiefeln.
„Bleibt wo ihr seid!“, brüllte Ben und machte einen Schritt zurück, nah an den Abgrund. „Bleibt dort!“
Eine Stimme drang durch den Nebel. Sie war Ben bekannt und er sah Gesicht und Person dahinter, doch der Dunst verbarg jede Körperlichkeit.
„Benjamin! Ich bin es, Zachary. Komm bitte einen Schritt näher. Der Abgrund hinter dir ist zu nah.“
Ben lachte laut.
„Zach, du hast sie doch gesehen. Sie sind geflogen. Warum sollte ich das nicht auch können? Und Linda soll es sehen. Sie soll sehen, wie ich fliege.“
Zachary Pike schüttelte den Kopf, doch Ben sah es nicht, denn sein Blick konnte den Nebel nicht durchdringen.
„Sie sind gesprungen, Ben. Vor dem nahen Tod davon gesprungen, um ein schnelleres Sterben zu erleben. Du musst nicht springen, denn dein Leben ist nicht in Gefahr. Sie hatten einen Grund, du hast ihn aber nicht.“ Die Stimme ruhte sich kurz aus. „Und du hast Linda. Sie will dich leben sehen.“
„Linda hat Joe. Sie wird mich auch nicht sterben sehen, denn der Nebel wird alles verbergen.“
„Hier ist kein Nebel, Ben.“
„Du willst mich täuschen. Du glaubst ich bin verwirrt. Nein! Tritt nicht näher. Ich sehe dich nicht, doch ich kann deine Schritte hören.“
Zachary blieb stehen.
„Es ist vier Jahre her, Ben. Du musst dich davon trennen.“
„Trennen? Trennen?“, klang es schrill aus Bens Mund. „Siehst du sie nicht? Hast du sie damals nicht gesehen? Hast du ihre Schreie nicht gehört? Ich höre sie jede Nacht. Ich sehe sie jede Nacht, denn ich hatte den Kampf aufgegeben. Ich bin, wie ein weinerliches Kind, einfach nach Hause gerannt!“
Ein Seufzen kam von Zach.
„Du warst verletzt. Am Kopf verletzt. Die Wunde war tief und nur Linda hat dich gerettet, als sie damals den Arzt rief.“
Ben nickte. „Ja, nackt war sie und noch feucht vom Akt mit dem Liebhaber stand sie am Telefon, als sie mich rettete!“
Er trat zurück und stand nur Millimeter von der Tiefe entfernt.
„Wir sprechen von dir, Ben. Deine Flucht war keine Flucht. Du hast gehandelt, wie jeder andere Mensch gehandelt hätte. Viel Menschen starben. Deine Kameraden, Freunde. Du wurdest fast getötet. Ich kann mir vorstellen, wie es war. Irgendetwas schlug dich nieder, traf dich am Kopf, doch du standest wieder auf. Du hast die Toten gesehen. Überall lagen sie. Du bist fortgerannt, weg vom Ort des Geschehens, dann hast du die Menschen aus der Höhe stürzen sehen. Du hörtest ihre Schreie, ihre Pein, und du bist noch schneller gerannt. Jeder hätte so gehandelt!“ Zach holte tief Luft. „Und der Nebel. Er stammt von damals. Es ist die Verletzung in deinem Kopf. Die Augen trüben sich und der Arzt hat es dir gesagt. Du wirst blind. Aber, Ben, du kannst leben!“
Bens linkes Bein hob sich und der Hacken seines Fußes schwebte über der Tiefe.
„Nein, ich kann mit all dem nicht leben.“
Seine Arme breiteten sich aus und er fiel nach hinten. Sekunden später war er in der Tiefe verschwunden.
Doktor Zachary Pike kniete nieder und bekreuzigte sich.
Tief unten, vor den Eingängen des Trump Towers, fanden die Straßen New Yorks ein weiteres Todesopfer, beleuchtet von dem blassen Schein der Straßenlaternen.
Zach wischte sich die Tränen beiseite und er Kiesbelag des Flachdaches knirschte, als er schnell zu der schreienden Linda eilte.
„Wieder hat der 11.September ein weiteres Opfer gefordert“, dachte er, während er die Frau an sich drückte. „Nach all den Jahren! Wann hört es auf?“
Und fast fühlte sich der Arzt, als schiene es besser für ihn, wenn er sich auch in die Tiefe stürzen würde, denn Ben war nur ein Feuerwehrmann unter vielen, die seine Hilfe benötigten.
Nur einer!

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Tag der Veröffentlichung: 09.03.2009

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