Cover

Episoden einer Kindheit



Teil I: Die Eieruhr



Ehrfürchtig hielt er die blaue Eieruhr in seinen kleinen Händen, drehte sie behutsam hin und her, um sie von allen Seiten, gleich einer unschätzbaren Kostbarkeit, zu betrachten. Wie schön sie anmutete, so filigran gearbeitet mit ihren silbernen Ziselierungen und den roten Tupfen in der Mitte, dass man glauben konnte, sie stamme aus einer anderen Welt. Beinahe zärtlich strich er über die Minutenmarkierungen, und vor lauter Staunen stand ihm der Mund offen.

Der Verkäufer konnte sich bei seinem Anblick ein Schmunzeln nicht verkneifen. Amüsiert schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: ‚Da versteh doch einer Kinder, wegen einer Eieruhr ist er so aus dem Häuschen.‘ Aber der Junge bekam davon nichts mit. Alles um ihn herum schien versunken, seine Gedanken galten nur dieser Uhr, der Schönsten im ganzen Universum. Und obwohl er noch nie eine andere gesehen hatte, war er sich sicher – diese und keine andere sollte es sein.

Jeden Monat bekam er 2 Mark Taschengeld und hatte nun schon ganze 12 Mark gespart – ein Vermögen, wie ihm schien. Eigentlich wollte er sich davon einen Satz Timpo-Indianer kaufen, um endlich eine ausgeglichene Schlacht zwischen den Cowboys und den Rothäuten in seinem Zimmer zu schlagen. Aber es tat ihm überhaupt nicht weh, als er 4 Mark aus seiner grauen Sparsocke nahm und damit die drei Kilometer in den kleinen verkramten Elektroladen in die Amrumer Straße lief, dem einzigen weit und breit, wo so etwas zu haben war und wohin er sich alleine traute.
Es war das Gefühl für das Richtige und Außergewöhnliche, was ihn geradezu beflügelte und sein Herz wie wild hämmern ließ, als er den Laden betrat und dem Verkäufer seine Absicht mir kurzen abgerissenen Worten erklärte. Der stutzte für einen Moment, als wollte er sagen: ‚na na, weiß deine Mutter auch davon?‘, ließ sich dann aber erweichen. Und als der Junge sie nun endlich in den Händen hielt, stieg ihm vor Stolz die Hitze ins Gesicht, und er war sich sicher, dass nun alles gut würde. Von diesem Gefühl übermannt, begannen seine Hände zu zittern, und er begriff allmählich, was er vollbracht hatte. Und als wolle er diese Uhr fortan vor aller Welt verbergen, auf dass sie ihm niemand mehr streitig machen konnte, umwickelte er sie hastig mit einem Lappen und verstaute sie sorgsam in seinem Schulranzen. Ohne sich zu verabschieden, eilte er aus dem Laden, stieß fast noch mit einer Frau zusammen und rannte so schnell er konnte auf direktem Weg nach Hause.
Im Schritt zu gehen war ihm unmöglich, angesichts der brennenden Ungeduld in seinem Herzen, welche unentwegt in seiner Brust trommelt und ihn vorantrieb.

Tausend wirre Gedanken wirbelten durch seinem Kopf, überkreuzten einander, verwoben sich, ohne jedoch etwas Sinnvolles zu ergeben. Plötzlich erinnerte er sich ihres Gesichts, als sie neulich beide an dem schäbig eingerichteten Schaufenster vorbeiliefen und sie diese Uhr zum ersten Male sah. Augenblicklich schien ihm, als wäre sie von einer eigentümlichen Stille ergriffen; eine Stille, wie er sie zuvor bei ihr noch nie beobachtet hatte und die ihn umso mehr ängstigte, je weniger er sie verstand. Niemals würde sie ihre Wünsche offen äußern, dazu war sie viel zu bescheiden. Wusste sie doch um die beschränkten Möglichkeiten der Familie und war stets darauf bedacht, nur das Nötigste zu verausgaben. Allein ein wehmütiger Blick verriet dann ihre Sehnsucht, zugleich aber auch ihren Kummer angesichts der Unabänderlichkeit der Dinge. Dennoch schien es sie dieses Mal ganz besonders zu quälen.

Auf dem Heimweg erklärter sie ihm noch, dass eine Eieruhr ein sehr modernes Gerät sei und das honorige Leute wie die Ostermanns auch eine solche besäßen. Die Ostermanns seien ohnehin eine sehr fortschrittliche, integere Familie, für die diese Dinge einfach Selbstverständlichkeiten seien. So etwas sei in solchen Kreisen comme il faut. Sie liebte derart vornehme Redewendungen, auch wenn sie damit oft maßlos übertrieb. Gaben sie ihr doch das Gefühl, näher an die kultivierte Oberschicht als an den geschmacklosen Pöbel zu reichen. Und während sie über die Ostermanns sprach, nahm ihr Gesicht einen eigenartigen Ausdruck an - irgendwo zwischen Beklemmung und Demut, den er nicht zu deuten vermochte. Zwar redete sie von den Ostermanns nicht sehr viel, aber wenn, dann stets in einem verhaltenen, ehrfürchtigen Ton, der nicht immer angenehm war. Niemals vergaß sie zu erwähnen, dass Frau O., ebenso wie ihr Mann über beste Umgangsformen verfügten und eine höhere Bildung genossen hätten; darüber hinaus sei Herr O. sehr galant, mit tadelloser Haltung und verstünde sich auch unaufgefordert auf gewisse Notwendigkeiten, worauf ein Mann wie sein Papa allerdings niemals käme. Nach einem solchen Zusatz brach sie meist ab, was in ihm das Gefühl einer tiefen Bestürzung auslöste, ohne dass er hätte sagen können, warum. Aber in ihrem Gesicht lag dann ein Schimmer von Traurigkeit, der nur schwer zu verbergen war, besonders, wenn sie fühlte, dass er sie beobachtete. Dann wurde sie ganz nervös und lenkte schnell auf ein anderes Thema über, wobei man ihr das erzwungene Lächeln ansah. Es quälte ihn stets, sie so zu sehen …

Die Haustür stand offen. Sein Glück, sonst wäre er mit voller Wucht gegen gelaufen. Er rannte die Treppe in den zweiten Stock hoch und nahm dabei gleich drei Stufen mit einem Schritt. Vor der Wohnungstür hielt er abrupt inne. Er musste zu Atem kommen, wollte konzentriert sein, wenn er ihr die Eieruhr überreichte. Nur so würde er jede ihrer Gesten aufmerksam betrachten, geradezu aufsaugen können. Er wollte ihr Lächeln sehen, den Stolz auf den Sohn spüren. Vielleicht würde sie ihm auch dankbar über den Kopf streicheln, wie sie es häufig bei seinem großen Bruder tat. Dieser wusste diese Zärtlichkeit nicht zu schätzen, obgleich er damit von ihr überschüttet wurde, wie ein …

Er verwarf den Gedanken an den Bruder, so schnell wie er ihm gekommen war und widmete sich wie ganz dem Gesicht seiner Mutter, das ihm wohlmöglich beim Anblick seines Geschenks ihr seltenes und schönes Lächeln zeigen würde.
Diese Vorstellung ließ ihm wieder die Hitze ins Gesicht steigen, und ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken, erfasste seinen ganzen Körper und versetzte ihn in jenen Rauschzustand, den er in ihrer Nähe oftmals empfand. Noch einmal holte er tief Luft, dann öffnete er langsam die Tür.
Er hörte sie in der Küche abwaschen. Schnell zog er seine Schuhe aus, denn Mutter mochte es nicht, wenn er mit Straßenschuhen in der Wohnung herumlief. Er nestelte in seinem Ranzen herum und holte ganz zaghaft die Uhr heraus. Dann stellte er den Ranzen ordentlich neben die Kommode. Er wollte den Moment der Vorfreude noch ein wenig verzögern und schlich deshalb ganz langsam zur Küche.

Bedächtig öffnete er die Tür. Da stand sie, ihm mit dem Rücken zugewandt, die Arme bis zu den Ellenbogen im Spülwasser versunken und in leicht gebeugter Haltung, wobei das zum Fenster herein flutende Tageslicht ihren Körper sonderbar umflutete. Das Kofferradio spielte ganz leise „The Air that I breath“ von The Hollies und gab der Szenerie etwas wehmütig Melancholisches. Aber das nahm er überhaupt nicht wahr. Er spürte nur sein Herz gegen die Brust hämmern, als wollte es jeden Moment herausspringen.

Selbst von hinten sah sie wunderschön aus. Sie trug eine dunkelblaue Bluse und einen knielangen schwarzen Rock. Eine banale Kittelschürze, wie er es von den Müttern seiner wenigen Freunde kannte, würde sie nie tragen. Sie war sich ihrer Weiblichkeit nur allzu bewusst. Die langen dunklen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden, woraus eine lange Strähne seitlich herabfiel und über ihre Schulter baumelte. Das schlichte Blau ihrer Bluse harmonierte vollkommen zu ihrer weißen feenhaften Haut, die ihrer ganzen Gestalt etwas Märchenhaftes gab. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er schluckte.
Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mama“. Sie erschrak und ließ den Teller, den sie gerade abwusch, auf den Spülenboden fallen und drehte sich abrupt um. „Huch, du hast mich erschreckt“. „Herzlichen Glückwunsch Mama“ wiederholte er und strahlte dabei wie ein Backfisch. Er stolperte auf sie zu und wollte sie umarmen, aber sie streckte ihm verwehrend die Hände entgegen, als wollte sie sagen: ‚Nicht jetzt, ich habe ganz nasse Hände.‘ „Geh erst mal ins Bad und wasch dir das Gesicht. Gleich gibt’s Abendbrot.“ Verblüfft blieb er stehen. „Mama, nein, das kann warten. Ich habe ein Geschenk für dich.“ Jetzt endlich streckte er ihr die Eieruhr wie eine Trophäe entgegen. Das Herz pochte immer wilder gegen die Brust. Seine Hände wurden feucht und begannen leicht zu zittern, während sein Gesicht ein strahlendes Lächeln überzog. „Leg es auf den Tisch dort drüben, dann geh ins Bad. Ich muss noch den Abwasch machen.“ sagte sie genervt, dann etwas milder, ohne den geringsten Anflug irgendeiner Neugier: „ Danach gucken wir uns dein Geschenk an.“ Dann drehte sie sich wieder um und wandte sich den Tellern zu, als wäre er überhaupt nicht da. Er war unfähig, auch nur einen Schritt zu gehen, ja auch nur einen vernünftigen Gedanken zu entwickeln. Sekunden verstrichen, bis er langsam die Hand mit der Eieruhr sinken ließ. Sein Herz schien wie erstarrt. Er musste sich überwinden, noch einen Schritt auf den Küchentisch zuzugehen. Jede Bewegung fiel ihm schwer. Es war ihm gleichsam, als wate er durch einen Fluss. Zögernd, beinahe mechanisch, legte er die Uhr ab.

Seine Gedanken begannen mit geradezu krankhafter Anspannung zu arbeiten. Nein, so leicht wollte er sich nicht entmutigen lassen. Sie hatte es ja überhaupt noch nicht gesehen. Wenn sie die Eieruhr gleich erkannt hätte, wäre sie ihm bestimmt vor Verzückung um den Hals gefallen, wären Tränen aus ihren Augen gequollen, und sie hätte kein Wort mehr herausbekommen. Also drehte er sich um und rannte ins Bad. Er wusch sich schnell und gründlich Hände und Gesicht. Er konnte es nicht erwarten, ihr sein Geschenk vorzuführen – die schönste Uhr des Universums.
Als er zurück in die Küche kam, saß sie bereits auf einem Stuhl und hielt die Eieruhr in den Händen. Sie schaute skeptisch, beinahe so, als würde sie überhaupt nicht verstehen. Er ließ sich davon nicht einschüchtern, lief auf sie zu und riss ihr die Uhr aus den Händen. „Schau Mama, erkennst du sie wieder? Das ist die Eieruhr, die du im Elektroladen gesehen hast. Es ist ganz einfach. Du musst den oberen Teil nur einmal bis zum Ende drehen und dann zu der Minutenzahl zurückdrehen, die du zum Eierkochen brauchst. Und wenn die Zeit abgelaufen ist, dann klingelt sie ganz laut.“ Er führte ihr die Funktionsweise vor und stellte die Uhr auf 1 Minute. Dann legte er sie auf den Tisch. Ein leises Ticken war zu vernehmen. Gespannt wartete er auf das Ablaufen der Zeit und das damit verbundene Schrillen der Uhr. Aufgeregt rieb er seine Hände aneinander und riss die Augen in freudiger Erwartung auf. Die Mutter schaute gleichgültig auf das Gerät. Die Minute schien endlos anzudauern. Er fürchtet, jeden Moment vor Aufregung zu platzen. Als dann endlich das erlösende Schrillen langgezogen erklang, hüpfte er verzückt in der Küche herum. „Mama, jetzt bist du dran“, sagte er und versuchte mit Anspannung aller Kräfte, etwas aus ihrem Gesicht zu erraten. Ohne jedoch nur eine Miene zu verziehen nahm die Mutter die Uhr und stellte sie auf 1 Minute. Sie schrillte kurz und kläglich und verharrte dann stumm. „Nein Mama, du musst doch den oberen Teil einmal bis zum Ende und dann zurück zu einer Minute drehen.“ Die Mutter nahm die Uhr erneut, drehte sie zuerst auf fünf und dann zurück auf eine Minute. Wieder nur ein kurzes, klägliches Schrillen - dann Stille. „Nein Mama, bis zum Ende durchdrehen.“ „Was ist das für ein unnützes Ding. Wer soll das verstehen? Stell es weg. Ich habe keine Zeit, für solche Spielereien.“ Ihre genervten Worte, schnitten ihm ins Herz. Und als sie kurz darauf die Küche verließ, verstand er die Welt nicht mehr.

Wo waren ihre Wünsche und Sehnsüchte geblieben? Hatte sie denn alles vergessen, die Ostermanns und deren comme il faut? Er hatte die Situation in den vergangenen Tagen mehr als 100 Mal in seinem Kopf durchgespielt und dabei alle nur möglichen Szenarien durchdacht. Aber so lief es nie ab. In seinen Vorstellungen vergossen beide Freudentränen und fielen sich einander glücklich in die Arme. Endlich würde sie begreifen, was er schon lange ahnte, würde ihn mit Küssen übersäen und zum Abendbrot seinem Bruder und dem Vater stolz die Eieruhr präsentiert. Er schaute auf die Uhr und empfand plötzlich eine große Scham über das unwürdige Geschenk, gefolgt von einer lähmenden Einsamkeit, die ihn jäh zurückwarf. Er sackt auf dem Küchenstuhl zusammen und ließ den Kopf sinken. Eine tiefe Traurigkeit breitete sich von seinen Fußspitzen bis zu seinem Kopf aus und würgte ihm die Kehle zu. Selbst das Schlucken schmerzte. Dennoch war es ihm unmöglich zu weinen. Die innere Leere war überwältigend, er konnte an nichts denken. Nur dieses Gefühl von Scham setzte sich in ihm fest wie ein bitterer Gallenstein.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er auf, nahm emotionslos die Uhr in die Hand und ging mit schleppendem Schritt in den Flur. Er zog sich teilnahmslos die Schuhe an und verließ die Wohnung. Im Hausflur begegnete ihm die schwatzhafte Fr. Kulinski, die ihm einen fröhlichen Gruß zuwarf. Er ignorierte sie und mied ihren verwunderten Blick. Im Hof steuerte er direkt auf die Mülltonne zu. Er musste sich strecken, um an den Deckel zu kommen. Mit einem Kraftakt schleuderte er den Deckel zurück, und ohne zu Zögern warf er die Eieruhr in die Tonne. Dann sackte er zusammen und brach in Tränen aus.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /