Kapitel 57
Eine Rampe führte aus dem Raum hinab ins Erdgeschoss, wo weitere Pferdeboxen waren. Von der Rampe aus führte ein langer Flur durch die Stallungen bis zu einem großen Tor an der Stirnseite, das einst prächtig verziert gewesen sein mochte, nun aber bewegten sich die alten Angeln nicht mehr, und Kjolu stieg hinter Seyka durch das gesplitterte Holz des Tores.
Und dort standen sie, in den Ruinen der legendären Stadt Arzington. Es war ein überwältigender Anblick, wenn auch zugleich furchteinflößend und bedrückend. Die Ausmaße der Höhle waren nicht abzuschätzen, sowohl die Wände als auch die Decke hoch über ihnen verschwanden im schummrigen Halbdunkel. Die Häuser waren in diesem Bereich der Stadt allesamt stark beschädigt, von einigen standen nur noch die Grundmauern. Dennoch war ihnen der einstige Prunk noch anzusehen. Metallene Verzierungen hingen oder lagen verbogen und matt in der Gegend, große, verwitterte Bruchstücke von Denkmälern und Statuen waren über die breiteren Straßen und Plätze verteilt und alte Münzen waren fast überall unter dem Schutt zu finden.
Kjolu blickte hinter sich. die Palastgebäude waren zwar stark beschädigt, doch sie standen geschützt durch die massive Felswand hinter ihnen noch besser erhalten als die Umliegenden Häuser, erhoben sich noch immer majestätisch über die eingefallenen Dächer der Stadt.
Von der Stadt aus gesehen rechts der Stallungen schloss sich der Palast des Hohepriesters an, neben diesem die Häuser der Bediensteten und das Arsenal der Stadt. Kjolu blickte am Palast hoch und sah im obersten Fenster Licht, vor dem sich der dunkle Schatten eines gerüsteten Ritters abzeichnete, der sich dem Fenster gerade genähert hatte.
Kjolu hielt den Atem an und ergriff Seyka am Arm. Das Mädchen folgte seinem Blick und hielt ebenfalls inne. Jeder unvorsichtige Schritt und jedes zu laut geflüsterte Wort hallte in den alten Ruinen wieder. Kjolu fragte sich, wie die Geräuschkulisse gewesen sei, als die Stadt noch vollständig bevölkert war.
Ganz langsam setzten sie nun Schritt für Schritt in Richtung Palastgebäude. Sie steuerten einen Seiteneingang an, der ihnen am nächsten war. Kleine Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen, und der Junge sah den Schatten oben am Fenster aufhorchen. Noch drei Schritte und sie hatten es bis hinter einen Mauervorsprung geschafft.
Aus der Ferne hallten schwere Schritte, die schnell näher kamen und den jahrhundertealten Staub aufwirbelten. Zu dem Klang brechender Trümmer unter den Sohlen kam das metallene Scheppern alter Plattenrüstungen.
Der Schatten oben am Fenster sah auf und blickte die große Straße hinab. Viel schneller als zu erwarten gewesen wäre erschienen zwei Ritter in dunklen Rüstungen und hielten in nur wenigen Schritt Entfernung von Kjolu und Seyka. Der Junge konnte nicht sagen, ob es die selben Krieger waren, die sie in den Stallungen gesehen hatten oder ob es andere waren. Sie glichen sich völlig im schummrigen Halbdunkel.
Die Gestalt am Fenster begann zu sprechen. Es war eine furchteinflößende, rasselnde Stimme: „Was gibt es Männer?“
Einer der Ritter trat einen Schritt vor und stand nun nur noch einen knappen Schritt von Kjolu entfernt. Der Junge konnte seinen schweren Atem hören. „Sie ist aufgetaucht, doch sie scheint stärker als ihr Bruder, denn sie hat jetzt die Kraft, sich von den Magiern loszusagen,“ erstattete der Ritter Bericht.
„Ihr konntet sie also nicht aufhalten?“ fragte der Schatten am oberen Fenster barsch.
„Nein, Lord,“ gab der Ritter mit fester Stimme zurück, „sie ist zu stark. Aber wir werden sie suchen.“
„Dann schert euch davon!“ brüllte der Schatten am Fenster, und Seyka war sich sicher, seine Stimme war weit über die Stadt zu hören.
Die Ritter drehten sich ohne ein Wort zu sagen um und verschwanden in einer kleineren Gasse, die ebenfalls hinab zur Stadt führte. Seyka sah Kjolu an: „Sprachen sie von Aydia?“
„Möglich,“ erwiderte der Junge, „dann hat sie es mit dem Amulett tatsächlich bis nach Arzington geschafft... Auf jeden Fall lenkt sie von uns ab.“
Sie wandten sich dem Seiteneingang zu. Die Tür lag geborsten neben den drei Stufen, die zur Türschwelle hinauf führten. Kjolu setzte als erstes einen Fuß in den dahinterliegenden Raum. Sie befanden sich in einem kleinen Zimmer, dass einstmals mit Holz ausgekleidet gewesen sein musste. Eine alte Treppe wand sich hinab in den dunklen Keller.
Auf einem schmiedeeisernen Tisch neben der Eingangstür brannte eine kleine Öllampe. Kjolu nahm diese an sich und deutete zur Treppe. Seyka sah ihn an.
„Da runter?“ flüsterte sie.
Der Junge nickte: „Laut Aufzeichnungen aus der Bibliothek in Aramid soll die Bibliothek im Keller des Palastes sein.“
„Ich weiß nicht,“ Seyka blickte hinab ins Dunkel...
In diesem Moment fiel Kjolu eine Spieluhr ins Auge, die dem Auge von Selmbach ähnelte. Gerade entfaltete sie ein bläuliches Schimmer und der blanke Augapfel flimmerte. Kjolu zeigte auf diese, dann winkte er Seyka energisch zu Treppe.
Das Auge begann langsam zu rotieren und eine feine Spieluhrmelodie entpuppte sich, die langsam immer lauter wurde.
„Wie stellt man das Ding ab?“ fragte Seyka. Kjolu schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht, am besten wir verschwinden einfach in den Keller!“
Er stellte die Lampe auf eine kleine Flamme und tastete sich Schritt für Schritt die Treppe hinab.
Währenddessen war die Spieluhrmusik nahezu ohrenbetäubend laut geworden. In der Ferne erklangen die herannahenden Schritte der Ritter. Der Ritter der Unruhe saß hoch oben im Thronsaal des Palastes. „Es geht los, sie sind da,“ murmelte er mit grenzenloser Erleichterung.
Auch die Ritter unten in den Ruinen, die gerade in Scharen zum Palast strömten spürten, dass die Zeit gekommen war. Sie waren nahe davor, nahe vor der Freiheit. Es galt nur, dieses letzte Kapitel der langen Geschichte der Ruinen Arzingtons zu überstehen.
Die einzige die von der Aufruhr profitierte war Aydia, der plötzlich niemand mehr Beachtung schenkte. Und so machte sie sich auf den Weg quer durch die Stadt zum Palast. Sie hatte ihren Bruder bereits zweimal erblickt, das letzte mal, als er mit hoher Geschwindigkeit auf den Palast zuschoss.
Kjolu und Seyka hatten bereits das Ende der langen Treppe erreicht, als sich der kleine Raum über ihnen mit Rittern füllte. Sie konnten nicht genau ausmachen wie viele es waren, doch das spielte auch kaum eine Rolle, das die Ritter sich scheinbar nicht lange aufhielten, sondern gleich die Treppe hinabstürmten.
Kjolu wurde sich der Gefahr bewusst und zog Seyka in eine Mauernische. „Wir müssen jetzt verdammt schnell handeln,“ bemerkte der Junge, „wo wollen wir entlang?“
Er leuchtete mit der Lampe den hinter der Treppe liegenden Gang hinab, der in einiger Entfernung in einem großen Gewölbe mit langen Regalreihen endete. Jeweils links und rechts befand sich eine Tür, die noch gut erhalten schienen.
58 Die gebrochene Stadt
Der letzte Ausläufer des Steinforstes ragte weit in die Ebenen hinein und zwang die grasüberwucherte Straße, die von der großen Handelsstraße zwischen Rabenstätt und den Windlanden nach Westen hin abzweigte zu einem weitauslaufenden Bogen nordwärts.
Hinter dieser Biegung erreichte die Gruppe der Rebellen die verwitterten Reste einer einst gewaltigen Mauer, die jedoch im Laufe der Jahrhunderte von Wind und peitschendem Regen geschliffen und abgetragen wurde.
„Dies ist die ursprüngliche Mauer des alten Gilbburgs,“ verkündete Lennart mit hohler Stimme, „die letzte große Mauer des alten Reiches, die gefallen ist.“
Veerá sah hinab auf die traurigen Reste. Der Wind wehte beständig und versetzte das wuchernde Gestrüpp in ständige Bewegung, das vergeblich die dunkle Geschichte zu verbergen schien, die unmittelbar mit dem Fall dieser Mauer verbunden war.
„Viele Männer fanden hier ihr Ende,“ brummte Marc, „es war nach dem Fall Arzingtons, die letzten Überlebenden der großen Stadt im Berg waren bereits geflohen, die Horden der Magier zum größten Teil zerstreut, viele auf dem Rückzug. Doch dieser Rückzug führte an Gilbburg vorbei, das vom Krieg nahezu verschont noch in alter Stärke im Schutze des Steinforstes stand. Doch es war einer der Magier, vom Blutdurst gepackt, der gegen den Willen seiner Brüder diese Stadt angriff und zerstörte.“
Der Tross war mittlerweile bedächtig einige Schritt weitergezogen, und in einer breiten Lücke in den Mauerresten weiter in Richtung Gilbburg gezogen. Sie befanden sich jetzt im Innenraum zwischen der alten Außenmauer und dem neuen Schutzwall der Stadt. Die Straße zog sich nun gerade über die letzten weiten Wiesen zum Stadttor Gilbburgs. In einiger Entfernung ragten etwas hintereinander versetzt zwei große metallene Statuen auf.
„Wer war dieser Magier?“ fragte Kiriss, als sie an der ersten Statue ankamen.
„Forl, der die Maschine genannt wird,“ entgegnete Marc, „er gilt als der grausamste Magier des Zirkels. Seine beiden untergebenen Mitglieder des Zirkels fielen den Kriegern Gilbburgs zu Opfer. An ihren Fall gedenken diese beiden Statuen.“
Die Übrigen sahen an den Statuen empor. Die erste zeigte die verzerrte Gestalt eines gequälten Mannes, der über und über mit Zahnrädern und Eisenbolzen gespickt war. Scheinbar hatte ihn gerade der Todesstoß getroffen, denn er stand mit zum Aufschrei aufgerissenem Mund und einknickenden Beinen dort oben auf seinem Podest. Eine Gravur am Sockel verkündete:
Morask, Tyrann der Mechanik
Ein Stück weiter war die Statue von Girameus, Tyrann der Artefakte erbaut worden. Sie zeigte den bereits am Boden liegenden Körper eines jungen Mannes mit weichen Gesichtszügen und weiter Kleidung. Girameus schien keine Wunde zu haben, mit Ausnahme eines langen Kreuzes, in dessen Mitte ein einzelner Augapfel prangte, in dessen Pupille zwei gekreuzte Dachsschwänze eingeprägt waren, die Insignien der Heimatstadt Forls, Selmbach.
Veerá sah über das Grasland zurück zur alten Mauerruine. Sie versuchte sich vorstellen, wie hier die letzten Krieger Gilbburgs gegen die Horden der Magier gekämpft hatten. Oft hatte sie gehört, dass die Armee der Magier aus den sonderbarsten Wesen bestanden hatte, doch niemand schien zu wissen, wie diese Wesen aussahen. Sie hatte einige unterschiedliche Zeichnungen gesehen, die allesamt übertrieben deformierte Ungeheuer zeigten, die zum großen Teil jedem Gesetz der Natur trotzten. Sie fragte sich, wie diese Wesen wohl wirklich ausgesehen haben, kam jedoch zu keiner klaren Vorstellung.
Sie hatten schließlich das Stadttor erreicht, das zu Veerás Verwunderung verschlossen war. Vier hühnenhafte Stadtwachen standen davor.
„Halt!“ rief einer von ihnen, ein bärtiger Mann mit kantigen Gesichtszügen trat vor.
Kesch stieg von seinem Pferd ab und bedeutete dem Rest des Trupps zu warten. „Rungo...“ sprach er die Wache an.
„Seid gegrüßt, Kesch,“ erwiderte Rungo, „lasst mich einen Augenblick mit Euch reden.“
Die Wache wies mit der linken Hand auf ein kleines Wachhäuschen neben dem Tor. Kesch nickte kurz dem Trupp zu, dann folgte er Rungo ins Wächterhäuschen.
Der Wächter schloss die Tür hinter ihm. Kesch lehnte sich an die Kante des kleinen Tisches: „Was gibt es?“
„Verstärkung ist da,“ gab Rungo kurz Auskunft. Der Rebellenführer war überrascht: „Das ist eine unerwartete Nachricht... jedoch eine unerwartet gute. Wir haben einige Leute nahe Argnolion verloren, ein paar mehr noch an der Arlsburg.“
„Ihr wurdet an der Arlsburg angegriffen?“ fragte der Wächter mit tiefer Besorgnis, „soweit sind sie schon?“
Kesch nickte kurz. Einen kurzen Moment überlegte er zu sagen, dass diese vorerst geschlagen wurden, doch er hielt es für besser nicht erklären zu müssen, wer die Drachenreiter bei der Arlsburg geschlagen hatte. Stattdessen sagte er nur: „Aber irgendetwas muss sie aufgehalten haben, denn auf dem Weg von der Burg bis hierher haben wir sie nicht mehr gesehen.“
„Hmm...“ Rungo überlegte kurz, dann schien ihm wieder einzufallen, was er Kesch sagen wollte, „um nochmal auf die Verstärkung zurückzukommen... ich wäre vorsichtig an deiner Stelle. Orohik wird bei einer solch großen Anzahl bald misstrauisch werden... was ist, wenn er Spione schickt?“
Kesch hatte gehofft, diese Vermutung würde niemals geäußert, vor allem, da er sich dieser Gefahr schon seit langem bewusst war: „Das Risiko ist natürlich gegeben.. aber was soll ich dagegen tun? Momentan gibt es für die Rebellen nur eine Möglichkeit, und die besteht darin, neue Verbündete zu finden, und das ist nicht gerade einfach. Ich habe meine Mittel festzustellen, wer Freund und wer Feind ist. Das ist zwar keine sichere Methode, aber die einzige, die wirklich Wirkung zeigt. Und wenn uns Spione unterwandern sollten, dann haben wir auch nicht mehr viel verloren. Wir sind momentan ziemlich am Ende. Es kann nur besser werden für die Rebellen. Deshalb bin ich hier...“
„Dann gebt gut auf Euch Acht, Kesch,“ seufzte Rungo, „und falls es gar nicht mehr anders geht, dann ruft die Wachen.“
Kesch rang sich ein Lächeln ab: „Habt Dank, Rungo... aber die Wachen sollten aus so etwas herausgehalten werden. Es würde nur noch mehr Schwierigkeiten geben, wenn sie da mit reingezogen werden.“
„Ich kann Eure Worte mal wieder nicht nachvollziehen,“ Rungo lachte kurz, „aber bisher habt Ihr noch immer das richtige vollbracht, großer Rebellenführer.“ Rungo grinste bei den letzten Worten erneut.
Auch Kesch musste lachen: „Ich nehme an, die Verstärkung wartet wie immer im ‘Grünen Sperling’? Wieviele sind es eigentlich?“
„Im ‘Grünen Sperling’, wie immer,“ der Wächter nickte und öffnete die Tür, „ein gutes Dutzend, schätze ich.“
„Oh,“ rief Kesch erstaunt, „das ist tatkräftige Unterstützung...“
Rungo trat hinter Kesch wieder nach draußen. „Die sind sauber, Männer... lasst sie durch!“ befahl er den übrigen Torwachen. Diese nickten kurz und stemmten die großen Torflügel auf. Kesch winkte dem Tross zu, und Veerá, Kiriss, Lennart, Marc und die Rebellen betraten die schützenden Mauern der noch immer hoheitlichen Stadt Gilbburg.
Gegen Abend des selben Tages fiel erneut die Tür des Wächterhäuschens ins Schloss. Eine blauhäutige Gestalt schlug den Mantelkragen hoch und entschwand in die Dunkelheit außerhalb der Stadt.
Im Fahlen Schein einer schwach brennenden Öllampe zählte Rungo im Innern des Wächterhäuschens einige Münzen ab. Ein schwaches, kaltes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Wächters. Kurz darauf verstaute er das Säckchen in seinem Bündel und verließ das Häuschen um zu seinem kleinen Haus am Rande der Stadt zu gehen.
Er würde seiner Familie mitteilen können, er hätte nun wieder etwas Geld für die nächsten Monate. Es würde wieder regelmäßige Mahlzeiten geben. Und er würde seinen schwerkranken Sohn Gilron endlich die benötigte medizinische Hilfe bezahlen können. Doch noch bevor er seine Haustür erreichte dachte er an Kesch und die Rebellen. Einige schwere Minuten standen ihm bevor...
59 Die Begegnung in der Bibliothek
Sie waren einfach losgestürmt. Die Schritte der Arzingtoner Ritter waren unaufhaltsam näher gekommen, und sowohl Kjolu als auch Seyka wussten, dass sie sofort gesehen werden würden, wenn sie nicht weiterliefen.
So kamen sie nach einigen Minuten des ziellosen Umherirrens auf einer Galerie zu stehen, die oberhalb eines Flügels der gewaltigen Bibliothek entlangführte. Eine Treppe hinab gab es nicht, doch sollte es möglich sein, vom Geländer der Galerie auf eines der unzähligen Bücherregale hinabzuklettern. Da sie noch immer irgendwo in der Ferne die schweren Schritte der Ritter hörten, schwangen sie sich über das Geländer und landeten auf dem ächzenden Holz eines Regals.
Kjolu sah an sich hinab. Ab den Knien abwärts umgab sie ein sonderbarer, goldener Schimmer. Und nicht nur ihre Beine waren in diesen Glanz getaucht, auch alles, was sich unterhalb einer bestimmten Linie befand schimmerte golden.
Seyka fasste sich als erste und setzte zum Sprung an. Leicht federte sie sich auf dem dicken, tiefblauen Teppich ab, der den Boden zwischen den Regalen bedeckte. Auch Kjolu landete nicht minder geschickt, jedoch weniger graziös neben ihr. Seyka blickte die Regalreihen entlang.
„Das ist sonderbar,“ murmelte sie. Auch Kjolu sah sich nun genauer um. Die Bücher waren in erstaunlich gutem Zustand. Es war ihnen schon vorher aufgefallen, dass in Arzingtons Ruinen einige Sachen nichts so zu altern schienen, wie im Rest der Welt. Das Holz war kaum verwittert, Papier zerfiel nicht bei der ersten Berührung sofort zu Staub...
Doch der Zustand der Bibliothek war wirklich beachtlich. Alles was unter diesem goldenen Schimmern lag, schien noch immer voll intakt zu sein. An den Wänden der Bibliothek brannten Fackeln, die Bücher waren geordnet und nahezu staubfrei, die Teppiche sahen einigermaßen gepflegt aus, und sowohl Feuchtigkeit als auch Meere an Spinnennetzen schienen sich aus dem Gewölbe der Bibliothek fernzuhalten.
Irgendwo oberhalb hörten sie Schritte näher kommen. Sofort drängten sich Kjolu und Seyka dicht an die Regale, und schon kurze Zeit später stürmten einige Ritter über die Gallerie, von der sie gekommen waren. Einen Moment später kehrte wieder Ruhe ein.
Die beiden Suchenden gingen langsam weiter den Flügel der Bibliothek hinab, als plötzlich hinter ein paar Regalen eine tiefe, männliche Stimme erklang: „Was gibt es neues?“ die Stimme klang kalt wie Stein, „wo ist Ronu?“
„Zurück in den Dünen,“ entgegnete die unverkennbare metallische Stimme von Forl. Kjolu zuckte unwillkürlich zusammen. Als er das letzte Mal auf Forl traf, so war er sich sicher, war es nicht in der Realität. Es war nur eine Art Traum. Doch jetzt wäre ein Treffen die harte Wirklichkeit gewesen, und das wollte der Junge auf jeden Fall verhindern.
„Wann siedelt er über?“ war wieder die erste Stimme zu vernehmen.
„Sobald er seine Hunde versammelt hat,“ gab Forl Antwort, „Sen-boku ist das Ziel.“
„Was will er in Sen-boku?“ erklang der erste unwirsch.
„Ihn abfangen, bevor er in unsere Reichweite kommt,“ entgegnete Forl geduldig, wenn auch kühl, „wir werden uns natürlich bemühen, dass Euer Erbe lebend hier ankommt.“
„Das will ich hoffen, Forl... doch ich werde Eure Machenschaften im Auge behalten. Und nun lauft und ruft die anderen sechs Magier zusammen!“
Sie hörten ein lautes Zischen. Seyka umrundete einige Regale um näher an das Geschehen heran zu kommen. Kjolu folgte ihr nur widerwillig. Schließlich konnten sie aus einer nahezu dunklen Ecke der Bibliothek auf einen breiten Gang sehen. Dort stand einer der Alten Magier, und Kjolu musste nachdem was er gehört hatte und dem Erscheinungsbild nicht lange überlegen, um zu dem Schluss zu kommen, dass dieser Mann nur Aarl sein konnte. Ein kalter Schauer lief dem Jungen über den Rücken, denn er war sich sicher, dass er in diesem Moment zugleich seinen Vorfahren und seinen größten Feind sah. Jedoch störte ihn etwas an der letzten Feststellung. Er hing diesem Gedanken einen Moment nach und folgerte schließlich, dass die größte Gefahr für ihn vermutlich von Seiten Forls kam.
Forl, ‘die Maschine’ war nicht zu sehen. Jedoch befand sich hinter Aarl ein blauschimmernder Kreis, durch den Kjolu nur verschwommen einige verworrene Strukturen in einem milchigen Weiß erkennen konnte.
Seyka stieß den Jungen an und deutete wieder auf den höchsten der Alten Magier. Aarl hielt ein Buch in der Hand. Ein Buch über die Rollen der Zeit. Es war das Buch, weshalb Kjolu sich überhaupt auf diese Reise gemacht hatte. Er hatte in den letzten Tagen und Stunden fast vergessen, dass es darum ging, an dieses Buch zu kommen. Nun war es zum Greifen nahe, doch noch hatte die lange Hand der Magier die Finger um dieses Objekt geschlossen, und der Junge hoffte inständig, dass es noch in Reichweite war, wenn diese Hand sich wieder öffnen sollte.
Aarl klappte das dicke Buch auf und blätterte scheinbar zufällig zu einer Stelle an der eine Seite fehlte. Missmutig schüttelte er den Kopf, dann schlug er das Buch zu und stellte es, zu Kjolus unbändiger Freude, wieder in das Regal zurück.
Aarl spähte in den Raum. In der Ferne waren wieder die Schritte der Ritter zu hören. Aarl drehte sich mit einem leisen Seufzen um und trat durch den bläulichen Ring. Es folgte ein blendender Blitz.
Als Kjolu nach einer Weile die Augen wieder öffnete, sah er zuerst nur Dunkelheit, dann jedoch im schwachen Fackelschein den leeren Korridor. Aarl war verschwunden, von den Rittern nichts mehr zu hören.
Schließlich gewöhnten sich auch Seykas Augen wieder ans Halbdunkel. Sie sah Kjolu bereits vor dem Regal stehen. Mit einem flüchtigen Blick in alle Richtungen trat sie an seine Seite. Der Junge hatte gerade das schwere Buch aus dem Regal genommen und hielt es nun in den Händen, als wäre es aus Glas.
Es waren viele Tage vergangen, seitdem er Aramid verlassen hatte. Er wusste vorher nicht, dass es eine solch beschwerliche Reise werden würde. Er hatte den Angriff der Schattenhunde überlebt, war vor der Zerstörung des Ulmetals geflohen, hatte den Kristallwald und Eibors Grab gesehen, mit Corten hatte er Ofons bestattet, er war auf Umwegen in die Windlande gelangt, hatte das Auge von Selmbach zerstört und schließlich auch die sagenumwobenen Ruinen der Stadt Arzington gefunden.
„Keine Zeit zu träumen,“ weckte ihn Seyka sanft, aber eindringlich aus seinen Gedanken.
Erneut kamen wieder einige Ritter näher, und diesmal schienen sie wohl endgültig in der Bibliothek angekommen zu sein. Trotz des dicken Teppichs hörte man ihre Schritte deutlich näher kommen. Kjolu und Seyka sahen sich an und rannten los...
„...die Ritter waren aufgrund ihrer schweren Rüstung zwar nicht sonderlich schnell, aber sie waren ausdauernd,“ erklärte Kjolu.
„Eine Sache verstehe ich nicht so ganz,“ warf Veerá ein, „Aarl hat Forl also gesagt, er solle die sechs anderen Magier zusammen rufen. Das wären dann mit Aarl und Forl zusammen acht. Waren es nicht ursprünglich fünfzehn?“
„Orohik ist desertiert,“ stellte Lennart fest, „ebenso Aerl. Morask und Girameus, die Untergebenen Forls sind bei Gilbburg gefallen. Dann bleiben nur noch elf übrig.“
„Und welche drei fehlen dann noch?“ hakte Veerá nach.
„Vielleicht die Gefolgsleute Aerls?“ stellte Kiriss eine Vermutung an, „es könnte sein, dass sie mit Aerl desertiert sind...“ sie zuckte mit den Schultern, „auf jeden Fall habe ich nichts dagegen, wenn es nur noch acht sind. Je weniger desto besser.“
„Was mir auch aufgefallen ist,“ meldete sich Kjolu wieder zu Wort, „dass Aarl sehr nachdenklich schien, und dass er offensichtlich mit Forl verschiedener Meinungen ist. Das könnte den Zirkel natürlich weiter schwächen.“
„Wo hat Forl gesagt, dass Ronu an Land gehen wird?“ fragte Lennart.
„Sen-boku... wo auch immer das ist,“ antwortete Kjolu.
„Na hör mal,“ sagte der Fischer, „das solltest du wissen, wenn du etwas über Sket syn Jerjet weißt. Das ist die Stadt an der Nordküste der Mittleren Ebenen, die unter der Herrschaft der Wilderfjorder Erben Skets autonom wurde. Ein Hort des Aufstandes, wie viele andere Städte der Ebenen auch in der Zeit des Untergangs des Reiches zerstört. Dort sind heute nur noch Ruinen...glaube ich.“
„Das wäre ja ganz in der Nähe,“ stellte Kiriss bedrückt fest.
„Aber die größte Gefahr lauert viel näher, denke ich,“ setzte Veerá niedergeschlagen an, „denn die andere Front lauert bereits in Gilbburg...“
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2008
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