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Kapitel 5

Ana erzählte von der Zeit, als es auf der Insel noch grün und fruchtbar war, von dem Fischreichtum des Sees und von den vielen Zugvögel, die damals, sie war selbst noch ein Kind hier überwintert hatten. Sie sprach von den vielen Besuchern der Insel, ihren Lieder, Tänzen und Geschichten.

„Dann geschah etwas Schreckliches und alles änderte sich. Unter den Inselbewohner gab es einen alten Mann, der große Macht hatte und über Zauberkräfte verfügte. Einmal vor vielen Jahren wurde ein großes Fest auf der Insel gefeiert. Viele Gäste wurden eingeladen und alle Inselbewohner waren an den Vorbereitungen beteiligt. Alle waren voll Vorfreude und taten ihr Bestes, um die Insel in ein Festtagsgewand zu kleiden. Jedes Haus war geschmückt und auf dem großen Marktplatz baute man lange Tische auf. Sie waren mit den besten Speisen und Getränken der Insel bestückt. In den Bäumen hingen bunte Lampions und warteten darauf, am Abend entzündet zu werden. Es gab eine Bühne für die Musiker, Tänzer und Märchenerzähler aus aller Herren Länder. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag, die Lindenblüten dufteten und am blauen Himmel zogen weiße Schäfchenwolken. Alles war bestens vorbereitet und geplant. Nur eins hatten die Inselbewohner vergessen. Der alte Mann hatte keine Einladung erhalten. Und das war ein Fehler.

Als das Fest an jenem lauen Sommerabend seinen Höhepunkt erreichte, schickte der alte Zauberer in seinem Zorn dicke Gewitterwolken. Mit den Gewitterwolken schickte er Regen, der sich eimerweise über die Pracht ergoss. Als der letzte Blitz am Himmel zuckte, erschien er selbst und sprach einen Fluch aus: Eure Felder sollen verdorren, euer See keine Fische mehr bergen bis zu dem Tag, an dem ein Mensch mutig genug sein wird, dem Seeungeheuer in die Augen zu schauen und bereit ist, die Aufgaben zu erfüllen, die es ihm stellt.

Die Inselbewohner bekamen Angst und die Angst untergrub ihre Zuversicht, und es geschah, wie der Zauberer gesprochen hatte. Die Bewohner verloren ihr Selbstvertrauen. Sie wurden misstrauisch und kleingläubig. Fremde von außerhalb der Insel wurden mit Skepsis betrachtet und blieben nach und nach aus. Die Insel verlor ihre Gastfreundschaft. Hatte man früher viel gelacht, gesungen, getanzt und erzählt, wurde nur noch gegrübelt und geklagt. Die guten Geister der Insel, die Elfen, die Zwerge und der große Troubadour wurden von den Inselbewohnern ausgeschlossen. Weil die Menschen der Insel sie übersahen und den Glauben an sie verloren, gerieten sie in Gefangenschaft und konnten nichts mehr für ihre geliebte Insel tun. Nur aus diesem Grunde wurde das Seeungeheuer so groß, und sein Appetit immer größer.

Dornrosis hatte wie gebannt zugehört.


Kapitel 6


Wie ein blanker Silberspiegel lag der vom Mond beschienene See inmitten einer atemberaubend schönen, melancholisch anmutenden Landschaft. Auf die heimlichen Beobachter wirkte alles wie ein vor Urzeiten entstandenes erstarrtes Gemälde:

Kein Windhauch bewegte die Blätter der Pflanzen am Rande des Sees; kein Nachtvogel kreiste mit lautlosen Schwingen über das Wasser; Kein Frosch quakte auf Seerosenblättern und keinen Wasservogel sah man, der seinen Kopf unter das Gefieder gesteckt hatte, um zu ruhen.

Plötzlich geriet die Landschaft in Bewegung. In der Mitte des Sees kräuselte sich unmerklich das Wasser. Zarte Wellen liefen in Kreisen zum Ufer hin aus. Schaumkronen bildeten sich, als ein lebendes Riesenwesen langsam die Wasseroberfläche durchbrach. Die Stille wurde durch eine an- und aufsteigende Kakophonie klagender Geräusche unterbrochen.

Das Geschöpf, das dem See entstieg war von überwältigender Körperfülle. Sein ganzer Körper trug ein Schuppenkleid, das im Sonnenlicht in allen nur erdenklichen Türkis- und Blautönen changierte.

Auf dem voluminösen Körper saß ein kleiner, zierlicher Kopf. Die großen Augen waren voller Tränen, die wie kleine Diamanten im Mondlicht strahlten und wie Perlen ins Wasser fielen. Auf dem von langen grünen Haaren bedecktem Kopf zitterten lange antennenähnliche Tentakel im Rhythmus mit dem auf- und abschwellenden Schluchzen des zu Tode betrübten Ungeheuers.

Das Seeungeheuer hatte sich nun vollends aus dem Wasser erhoben. Seine langer Schwanz peitschte das Wasser. Rechts und links von seinem dicken, plumpen Leib saßen merkwürdig kleingeratene Flügelansätze, an deren Spitzen klauenartige Hände hervorlugten. So als wenn es gleich zum Flug über den See ansetzen wollte, hob und senkte es seine Flügel. Aus seinem Mund drangen unharmonische Klagelaute, die sich allmählich in einen verständlichen Singsang verwandelten. Seine Augen hatte es zum Mond erhoben:

„Ach, ach, guter alter Mond, schau mich nur an. Ich bin so grässlich hässlich, dass mich niemand ansehen will. Jeder fürchtet sich vor mir, und sie haben ja recht, so unersättlich wie ich bin. Bald gibt es in diesem See keine Fische mehr und nur ab und zu verirrt sich eine Möwe hierher. Ich habe solchen Hunger. Es ist eine Sucht! Immerzu muss ich fressen und jetzt bleiben mir bald nur noch die Menschen, um meinen großen Hunger zu stillen.“

Der Mond wanderte weiter und schien dem Ungeheuer tröstend zuzuzwinkern.

„ Du hast gut reden alter Mond, du ziehst am Himmel deine Bahnen und bist frei. Sieh mich an. Ich bin gefangen in diesem See, meine Flügel sind viel zu klein, um all mein Gewicht zu tragen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werde ich hier verhungern.“
Und es weinte dicke, silberne Tränenperlen, während sein ganzer Körper unter den Schluchzern bebte.

Der Mond schien ein wenig vom Himmel herabzusteigen. Er wurde größer und es sah so aus, als flüstere er dem traurigen Seeungeheuer etwas zu.

„ Ja ich weiß, früher als ich noch klein und beweglich war, da haben mich meine Flügel getragen. Damals musste ich auch nicht immerzu an Fressen denken. Es gab viel zu sehen, zu hören und zu spüren. Auf der Insel wurde viel gelacht, erzählt und getanzt. Es war schön, hier zu leben. Aber jetzt ist es so langweilig und öde geworden. Vor lauter Frust, muss ich immerzu fressen.“

Noch einmal neigte sich der Mond hinab und flüsterte dem Seeungeheuer etwas ins Ohr.

„Du meinst, ich kann etwas tun, und es gibt da eine Prophezeiung, die uns retten wird?“

Der Mond schien zu nicken.

„Es stimmt, wenn ich ehrlich bin, weis ich schon längst, was mir eigentlich fehlt. Aber wie bekomme ich nur was ich brauche? Ich muss nachdenken, da war doch etwas!“

Impressum

Texte: Einband: Borkum 09, fotografiert von Jannwal Text: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In Erinnerung an meine Schreibanfänge. Mein Dank gilt Günther Brück, der ein ausgezeichneter Lehrer ist und bei dem ich eine Weiterbildung zum NLP-Master absolviert habe. Mein Dank gilt auch dem ev. Stadtkirchenverband, über den ich im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit im April 2003 meine erste Schreibwerkstatt erleben durfte.

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