Die Göttin sprach:
„Es werde Licht. Es muss hell werden um mich herum.“
Sie saß auf ihrem himmlischen Wolkenbett und in der Ferne sah sie den ersten Schein der aufgehenden Sonne.
Die Göttin reckte und streckte sich, gähnte und stellte sich auf ihre Zehenspitzen.
„Wo bleiben sie denn, meine himmlischen Helfer. Licht, ich brauche Licht.“ sagte sie zu sich selbst und wippte ungeduldig von einem auf den anderen Fuß.
Sie hatte wirklich lange geruht und fühlte sich quicklebendig. Voller Tatendrang und mit einem Schalk im Nacken wollte sie endlich ihren göttlichen Aufgaben nachgehen.
Endlich, vom Osten her schwebten die Himmlischen Heerscharen herbei und brachten das Morgenlicht mit.
Ein Lächeln stahl sich in das Gesicht der Göttin. Sie streckte die Arme weit aus und ein kleines kugeliges Etwas kam wie der Blitz laut jubelnd in ihre Arme gerannt.
Es war Fantasius, der kleinste Engel im Himmel. Die Göttin liebte ihn über alles. Immer dann, wenn die himmlischen Heerscharen spürten, dass die Göttin schlechte Laune hatte, schickten sie Fantasius voraus. Bisher hatte er es mit seinem kindlichen Charme, den ausgelassenen Späßen und seiner mitreißenden Phantasie noch immer geschafft, ein Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern. Fantasius schlug die Arme fest um die Göttin und sie herzten und küssten sich.
Heute allerdings war Fantasius besonders zappelig und nervös. Er musste die Göttin unbedingt an etwas erinnern.
Schließlich gelang es ihm, ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
Die Göttin wurde ernst und rief ihre Oberengelin Visuella.
Alle Engel, die zu den himmlischen Heerscharen gehörten, hatten ihren Fähigkeiten entsprechende Aufgaben. Auch im Himmel musste nun mal alles seine Ordnung haben und die Göttin war eine strenge Herrin. Visuellas Aufgabe bestand darin der Herrin ihre Augen zu leihen, denn die waren ziemlich scharf und konnten bis in die tiefsten Tiefen und in die höchsten Höhen schauen. Nicht die kleinste Kleinigkeit blieb ihnen verborgen.
„Visuella, Deine Augen bitte!“ forderte die Göttin mit Nachdruck. Visuella nahm vorsichtig ihre Augen heraus und reichte sie ihrer Herrin mit einer tiefen Verbeugung.
Die Göttin bedankte sich huldvoll und verabschiedete die himmlischen Heerscharen. Nur Visuella und Fantasius sollten ihr Gesellschaft leisten.
Konzentriert und voller Ernst zog sie Visuellas Augen an und schaute hinunter auf die Erde. Sie suchte und fand schon bald die drei mal sieben Erhebungen mit den grünen Tälern des Sternschnuppengebirges:
Virgin Regenbogen war gerade zum Wasserfall gegangen, um sich zu duschen. Es war ein heller klarer Morgen und das Wasser glitzerte in der Sonne. Es war herrlich frisch und kühl. Virgin dehnte und streckte sich und schickte ein Dankgebet hinauf zur Göttin. Heute war ein besonderer Tag. Eine ihrer allerbesten Freundinnen, Wassernixe Silberstrumpf feierte heute ein Fest.
In der letzten Zeit hatte Virgin Regenbogen ihre Freundin nur selten gesehen. Sie selbst war mit so vielen Dingen, Ideen, Visionen und Aufgaben beschäftigt gewesen, dass sie kaum durchatmen konnte. Mehr als einmal musste sie Wassernixe Silberstrumpf vertrösten. Sie hatte schon ein ganz schlechtes Gewissen. Aber nun lag eine ruhigere Zeit vor ihr . Mit den drei anderen Virgins war sie nach Satyrikon gewandert. Es war ein langer mühevoller aber auch erfolgreicher Weg gewesen. Satyrikon war der gläserne Palast des Herrschers über das Sternschnuppengebirge. Einmal im Jahr lud er die besten Künstler in seinen Palast und verlieh denen, die ihr Handwerk besonders gut beherrschten die Masterwürde.
Sie hatten dort großen Erfolg gehabt und waren ehrenvoll entlassen worden. Viele Türen standen ihnen nun offen. All die Mühen und Herausforderungen des letzten Jahres hatten sich gelohnt. Virgins Herz war voll von Dankbarkeit über all die neuen Erfahrungen, die sie hatte machen dürfen. Es rührte sie, wie viel Unterstützung, Verständnis und Geduld sie von Freunden und Familie erhalten hatte. Ohne sie alle hätte das nicht funktioniert.
Jetzt wurde es Zeit, sich wieder um Familie und verlässliche Freunde zu kümmern. Heute wollte sie mit Wassernixe Silberstrumpf tanzen, lachen und reden. Schließlich war die Nixe nun drei mal vierzig Jahre alt geworden. Ein gutes Alter für weise Frauen im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie selbst hatte diesen besonderen Geburtstag schon vor längerer Zeit gefeiert.
Und was hatte sie seitdem alles erlebt, ihr ganzes Leben hatte sich verändert. Noch nie im Leben hatte sie sich so mutig und lebendig gefühlt.
Virgin Regenbogen verließ den Wasserfall und lief zurück in ihr Haus. Im Gedanken konzentrierte sie sich auf den Punkt genau über der Nasenwurzel, schloss die Augen und betrat ihren geheimen Garten. Sie setzte sich unter den blühenden Kastanienbaum und begann mit den Vorbereitungen für ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk. Mit all ihren Regenbogenfarben wollte sie es weben. Niemand würde sie hier stören.
Die Göttin richtete sich befriedigt auf, gab Visuella ihre Augen zurück und schenkte Fantasius ein strahlendes Lächeln.
„So mein kleiner Lausbub, jetzt kommt deine große Stunde. Schwebe auf die Erde und geh zu Virgin Regenbogen. Sie ist in ihrem geheimen Garten. Versteck dich dort im Kastanienbaum. Möglicherweise kann Regenbogen deine Hilfe gebrauchen. Sie darf von niemanden gestört werden, denn sie webt gerade ein besonderes Geburtstagsgeschenk für Wassernixe Silberstrumpf. Deine Anwesenheit kann sie dabei unterstützen. Du weist ja wie sie so ist. Manchmal fällt es ihr schwer, wirklich bei der Sache zu bleiben. Zu viele Wesen lauern nur darauf, sie mit ihren Geschichten zu beglücken. Virgin Regenbogen benötigt diese Zeit, um zu sich selbst zu kommen. Sie wird es sich nie verzeihen, wenn sie ihr Geschenk nicht rechtzeitig fertig bekommt.“
Fantasius hatte konzentriert zugehört. Er war stolz darauf, einen so besonderen Auftrag ausführen zu dürfen. Nun wollte er all sein himmlisches Wissen benutzen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Er wollte der Göttin beweisen, dass er nicht zu klein war, um seinem Namen gerecht zu werden. Schließlich war es an der Zeit, erwachsen zu werden.
Fantasius gab der Göttin einen Kuss, verabschiedete sich und flog zur Erde.
Die Göttin nahm ihr Horn und tutete dreimal hinein: “Tut, tut, tut“ und schon bald erschien Auditiva, der Oberengel mit den besonders hellhörigen Ohren. Sie grüßte ehrfurchtsvoll, nahm ihre Ohren ab und reichte sie ihrer Herrin.
Die Göttin richtete ihre Ohren auf einen anderen Ort im Sternschnuppengebirge:
Fröhliche, beschwingte Musik ertönte aus der kleinen Fischerhütte von Wassernixe Silberstrumpf. Die Wassernixe stand vor ihrem in Gold eingefassten, großem, ovalen Spiegel und raufte sich die glänzenden, rotschimmernden Haare. Sie war nervös. Heute sollte ihr großes Fest stattfinden. Alles war vorbereitet. Eigentlich konnte sie sich nun in Ruhe um sich selbst kümmern. Was sollte sie anziehen, welchen Schmuck wollte sie anlegen, welches Make-up auftragen? Darauf konnte sie sich nicht konzentrieren. Etwas anderes bereitete ihr Sorgen.
Lange hatte sie ihren Feuertanz einstudiert. Heute abend würde sie auf der Bühne stehen und ihn ihren Gästen darbieten. Aber im Augenblick zweifelte sie an sich selbst. Würde es ihr gelingen, den Rhythmus zu finden, all das Prickelnde, Sprühende, Zischende, Ekstatische, was sie in ihren Tanz hineingelegt hatte zum Ausdruck zu bringen?
All die Lebendigkeit, die sie in der letzten Zeit wiedergewonnen hatte, aber auch all die Traurigkeit, ihre Wut, all der Kummer und die Verzweiflung, ihre Tränen und ihr Lachen, die sprühende Lebensfreude würde sie in ihren Tanz legen. All die Gefühle, die sie so lange schon in sich aufbewahrte, würden im Tanz ihren Ausdruck finden.
Ein Diamant, mit tausend Facetten und einer sensiblen Seele würde zum Vorschein kommen. Im Bauch spürte sie das bekannte Kribbeln, leicht wie Schmetterlingsflügel, aber etwas wollte aus ihr heraus. Es war stärker als ihre Aufregung.
Sie stellte sich nun vor, wie all ihre Gäste um sie herum stehen, sie betrachten und ihr neugierig zusehen;
Im Hintergrund hört sie ihre Musik. Sie sieht die aufwendig hergerichtete und geschmückte Bühne, die vielfarbigen Lichter der Beleuchtung. Sie riecht den Rosenduft, der sich über die Bühne hinaus ins Publikum verbreitet. Sie spürt ihr seidiges Feuerkleid an ihrem Körper. Bei jeder ihrer Bewegungen schwingt es mit und versprüht tausende von Glitzerfunken um sie herum. Sie beginnt zu tanzen, langsam zunächst mit weichen, runden Bewegungen, hingebungsvoll. Als die Musik schneller wird, wirbelt sie über die Bühne, hört nur noch die Musik und ihre innere Stimme..........
Die Gäste haben die Augen vor Staunen weit aufgerissen. Sie sehen, spüren und erleben mit jeder Faser ihres Körpers, dass da auf der Bühne ein Schmetterling aus seinem Kokon schlüpft. Sie sind seltsam berührt, beginnen zu ahnen, dass auch in ihnen vielleicht Fähigkeiten stecken, die zum Leben erweckt werden wollen, sind verzaubert von diesem magischen Augenblick und fühlen sich verbunden mit der Musik, dem Tanz und der Metamorphose von Nixe Silberstrumpf.
Das Kribbeln der Schmetterlingsflügel in Nixe Silberstrumpfs Bauch wich einer warmen, freudigen und energievollen Zuversicht. Warum sollte sie noch länger zweifeln? Es würde ihr gelingen. Sie musste nur bei sich selber bleiben.
Jetzt konnte sie sich wirklich um sich selbst kümmern.
Die Göttin seufzte wohlig und zog Auditivas Ohren aus. Tiefbefriedigt sagte sie zu sich selbst: „Wie schön, dass zwei meiner Lieblingskinder auf ihrem Weg hinaus in die Welt und bereit sind, meine Botschaft zu verbreiten: Werden, der du bist!“
Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort verwebt Virgin Regenbogen gerade die allerletzten Fäden. Befriedigt betrachtete sie ihr Werk.
Vor ihr liegt ein Bild von sprühender, rotgoldener Intensität. Der tanzende Wirbelwind soll ihre Freundin daran erinnern, wer sie wirklich ist und dass sie alle Fähigkeiten und Ressourcen mitbringt, um aus dem vollen zu schöpfen. Sie hat es wirklich nicht nötig, sich zu verstecken und ist nun wirklich alt und weise genug, um mit Vertrauen an sich selbst zu glauben.
Fantasius hatte es an Arbeit nicht gemangelt, denn es waren viele Zaungäste gekommen, um Virgin von ihrer Arbeit abzulenken. Aber er hatte es geschafft. Keiner war in den geheimen Garten gelangt. All sein Können hatte er eingesetzt, um ihnen Einhalt zu gebieten. Er hatte sie an Bilder, Gedanken, Ideen und Wünsche erinnert, die tief in ihrem Inneren verborgen lagen und die nur sie sehen konnten. Erstaunt hatten sie sich gefragt, was mit ihnen geschah. Alle waren tief befriedigt und mit einem glücklichem Gesichtsausdruck nach Hause gegangen, um ihre neuen Ideen und Visionen mit denen zu teilen, die ihnen am nächsten standen.
Fantasius hatte nicht nur den Auftrag der Göttin gut erfüllt, er hatte auch erreicht, dass die Phantasie ein Licht entzündete, dass in die Welt hinaus getragen wurde. Virgin Regenbogen hatte ihn nicht entdeckt. Er bedankte sich für den Schutz des Kastanienbaumes und breitete seine Flügel aus. Jetzt wollte er zurück zur Göttin.
Virgin Regenbogen legte ihr Werk nieder, bedankte sich bei der Göttin, verließ den geheimen Garten und kehrte zurück in ihre Wirklichkeit.
Texte: Text und Bild: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Annette!