Lange vor unserer Zeit gab es mitten im westlichen Ozean eine große ringförmige Insel. Wie ein kostbarer Edelstein schmiegte sie sich um einen nierenförmigen See, dessen Wasser in allen nur erdenklichen Türkis- und Blautönen changierte. Die Inselbewohner fürchteten den See wegen seiner Unergründlichkeit und den unberechenbaren Untiefen.
Den Kindern erzählte man mit erhobenen Zeigefingern Geschichten von einem gefährlichen Seeungeheuer, dass bei Vollmond sein Unwesen treibt und dessen unersättlicher Hunger auch einen saftigen Menschenbissen nicht verachtet.
Wenn an warmen Sommerabenden die Urgroßväter und Urgroßmütter unter einer alten Linde in der Dorfmitte zusammensaßen und ihren Apfelwein tranken, wurden alte Geschichten erzählt: Voll Trauer erinnerten sich die Alten an die besseren Tage ihrer Kinderzeit. Damals war der See voller Fische. Viele Wasservögel lebten am See und riesige Gänsescharen überwinterten auf der Insel, bevor sie im Frühling in den Norden zogen. Am Ufer wuchsen knorrige Korbweiden, die regelmäßig gestutzt wurden, um aus den Zweigen Körbe zu flechten.
Von dem Korbmacherhandwerk und dem reichhaltigen Fisch- und Wasservogelangebot lebten die Inselbewohner gut und sehr zufrieden.
Gern erinnerte man sich daran, dass auf der Insel bunte fröhliche Feste mit Gesang und Tanz gefeiert wurden. Viele Gäste aus aller Welt hatten die Insel wegen der Gastfreundschaft seiner Bewohner besucht. Sie brachten Geschichten und Lieder aus aller Welt als Geschenk mit.
Heute verirrte sich selten ein Gast auf die Insel. Niemand wusste mehr genau, was diese Veränderung bewirkt hatte. Es schien, als würden die Geschichten um das gefährliches Seeungeheuer die Insel einsam machen.
Die Fischer trauten sich nicht mehr auf den See hinaus, und es gab nur noch wenige Korbweiden. Die Insel selbst war hügelig und steinig und jede Hütte war von einer Steinmauer umgeben.
Die Bewohner sammelten die Steine in mühseliger Knochenarbeit aus dem Boden, um Felder und Gärten anzulegen, die ein armseliges Überleben ermöglichten.
Ihr Leben war so nicht nur schwerer, sondern ohne die fröhlichen Feste auch trister und langweiliger geworden. Selbst die Kinder verlernten das Lachen.
Die verlorene Lebenslust legte sich wie ein schwermütiger Trauerflor über der Insel. Viele junge Leute hatten die Insel bereits verlassen, um auf dem Festland ein leichteres Leben zu führen.
An einem schönen Spätsommerabend vor nicht allzu langer Zeit saßen die Dorfältesten mit ernsten Gesichtern unter der Dorflinde. Wieder war ein allzu mutiges Kind im See verschwunden. Geschichten über das Seeungeheuer machten die Runde. Was sollten sie nur tun? Die Angst nahm ihnen jeden Mut. Sie fraß sich wie ein bösartiges Geschwür in ihre Herzen und ließ sie beklommen und verzagt zurück.
Als es schon Nacht geworden war, die Sterne am samtblauen Himmelzelt blinkten und endlich auch der volle runde Mond auf sie herab schaute, erhob sich entschlossen eine alte Frau und sprach mit kraftvoller Stimme:
„Schlimme Dinge sind geschehen und wir haben tatenlos zugeschaut. Ich spüre, wie die Angst an uns nagt und wir kopflos werden. Sie, nicht das Seeungeheuer wird uns verschlingen. Wollt ihr dieser Angst eine solche Macht einräumen?“
Einige Männer und Frauen waren nun ebenfalls aufgestanden. Sie redeten durcheinander. Keiner konnte den anderen verstehen.
Gebieterisch erhob die Alte ihre Arme zum Himmel und wuchs über sich hinaus.
Die Blicke der anderen folgten ihr, und die verworrenen Worte verstummten.
„Erinnert ihr euch noch an jene Prophezeiung, die vor fast dreizehn Jahren über dem Taufbecken eines Kindes ausgesprochen wurde? Sie sollte uns Mut machen.“
beschwor die Alte eine scheinbar vergessene Erinnerung herauf.
Ein Raunen ging zwischen den Menschen von Ohr zu Ohr. Vorbehalte und Zweifel wurden ausgesprochen. Stirnen legten sich in Falten. Einige Stimmen erinnerten sich plötzlich. Ein vorsichtiges Lächeln zauberten sich in die Gesichter. War es nicht die dreizehnte Fee, die diese Prophezeiung ausgesprochen hatte?
„Wenn nur einer von uns den Mut aufbringt, in einer Vollmondnacht zum See zu wandern um dem Seeungeheuer ins Gesicht zu sehen, wird sie sich erfüllen. Die Zeit ist reif, um unseren Teil zu tun. Nur so wird sich die Prophezeiung erfüllen, die uns wieder bessere Zeiten verspricht.“
sprach die Alte weise.
„ Was soll einer von uns schon gegen das Ungeheuer ausrichten. Wir sind alt, können uns nicht mehr so gut bewegen, sind selbst auf Hilfe angewiesen.“
sprach einer der Männer
„ Ja, wir sind alt. Unser Leben geht bald zu Ende. Keiner von euch muss zum See gehen, aber das auserwählte Kind braucht unsere Lebenserfahrung. Warum sollten wir nicht all unseren Mut zusammennehmen und ihm den Rücken stärken? Was haben wir schon zu verlieren? Wenn sich die Prophezeiung erfüllt, wird es uns und unseren Nachkommen besser gehen.“
gab die alte Frau zu bedenken.
„Dornrosis wird die Prophezeiung nur mit unserer Hilfe erfüllen. Aber wie sollen wir sie unterstützen?“ fragte eine leise Stimme
„Heute ist es schon zu spät , um Genaueres zu planen. Jeder von euch kann darüber schlafen und nachdenken, welche Hilfe er dem Kind mit auf den Weg geben kann.“
antwortete die Alte
An diesem Abend flüsterten die Alten noch lange miteinander und Hoffnung begann in ihren Herzen zu keimen.
Texte: Einband: Borkum 09, fotografiert von Jannwal
Text: Angelika Röhrig
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
In Erinnerung an meine Schreibanfänge. Mein Dank gilt Günther Brück, der ein ausgezeichneter Lehrer ist und bei dem ich eine Weiterbildung zum NLP-Master absolviert habe. Mein Dank gilt auch dem ev. Stadtkirchenverband, über den ich im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit im April 2003 meine erste Schreibwerkstatt erleben durfte.