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Kennst du mich wirklich?


Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht als ich im späten Oktober das Internatsgelände umrundete.
Ich genoss die kühle Brise auf meiner Haut und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
"Hey Jaliyah!" Ich drehte mich in die Richtung, aus der ich die Stimme vernommen hatte. Mein bester Freund Jakob kam über den Schotterweg auf mich zugehastet. Ein Grinsen zog sich über mein Gesicht als ich mich demonstrativ abwandte, als wäre ich beleidigt.
"Seit wann treibst du dich denn hier draußen rum?" Fragte er, als er mich schließlich erreicht hatte. Keuchend presste er sich die Hand in die Seite.
Trotzig erwiderte ich seinen Blick "darf ich nicht? Ich meinte doch das Gelände sei für alle da"
"Ja schon, aber wollten wir nicht heute wieder in die Bibliothek?"
Ich musterte ihn einen Moment lang abschätzig, dann sagte ich "Mit dir? Niemals!" ich musste abermals grinsen und kehrte meinem besten Freund den Rücken zu.
"Aber..aber was hast du denn?" Jakob schien völlig von der Rolle. So kannte er mich gar nicht. Er packte mich am Ärmel und drehte mich zu sich um, damit ich ihm Rede und Antwort stand, da sah er, dass ich immer noch mühsam versuchte ein Lachen zu unterdrücken.
"Echt Jal, ich hasse deinen Humor!" Doch nun musste auch er lachen. Er boxte mir spielerisch auf den Oberarm und sagte dann : "also gehen wir nun?"
"Ich hab doch schon nein gesagt!" Rief ich, hakte mich jedoch lächelnd bei ihm unter und zusammen machten wir uns auf den Weg ins Paradies der Bücher.
Abends lag ich alleine in meinem Bett und machten mir dieselben Gedanken wie schon die letzten Wochen.
Alle drei Monate sollten alle 15-jährigen die Kultur aussuchen, in der leben wollten. Für Jakob war klar, dass wir beide zu den Profectus, den Wissenschaftlern und Forschern, gehen wollten, das hatten wir schon vor einer Ewigkeit vereinbart. Doch seit einiger Zeit beschlichen mich immer wieder Zweifel. War es wirklich das was ich wollte? Wollte ich tatsächlich den Rest meines Lebens in einer arroganten, hochnäsigen Gesellschaft verbringen? War ich auch so eine die mit ihrem Wissen prahlte, die sich deshalb selbst zur höheren Gruppe zählte? Tief in meinem inneren wusste ich: nein, das war ich nicht, doch ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen Jakob zu enttäuschen. In einer Woche war es so weit und ich wusste immer noch nicht was ich wählen sollte.

Natürlich war die Zeit, wie immer, gegen mich - die nächsten Tage flogen vorbei als wären es Minuten. Im einen Moment saß ich draußen auf der Bank und dachte nach, im nächsten lag ich schon wieder in meinem warmen Bett und grübelte weiter und im nächsten wieder, stand ich auf und mit einem Schock überflutete mich plötzlich die Erkenntnis. Heute! Heute musste ich wählen. Punkt zwölf Uhr, wenn die Sonne am höchsten stand, sollten wir den Schritt in die richtige Richtung, in unsere Zukunft wagen. Ich warf einen Blick auf die Taschenuhr auf meinem Schreibtisch. Elf Uhr. So lange hatte ich noch nie geschlafen. Müde schlappte ich ins Bad und stellte mich als erstes unter die Dusche. Ich dachte das heiße Wasser würde mich vielleicht etwas beruhigen, doch da hatte ich mich getäuscht. Mir hämmerten immer die gleichen Gedanken im Kopf. Heute, heute, heute, heute…
Nachdem ich mich geföhnt und angezogen hatte, musste ich mich schon auf den Weg machen. Die Wahl sollte am Mittelpunkt stattfinden, der Punkt, an dem die drei Gruppen voneinander getrennt wurden, dort wo auch das Internat war, dort wo alle Kinder aufwuchsen. Ich würde es nicht weiter herauszögern können, also schlug ich die Tür hinter mir zu, ohne etwas mitzunehmen. Ich wollte nichts aus meinem alten Leben behalten. Jetzt konnte ich ganz von vorne anfangen.
Vor der Wahl waren wir alle in einem Nebenzimmer versammelt. Die Stimmung im Raum war hektisch und aufgescheucht. Alle redeten durcheinander, wodurch ein stetiges hohes Summen in meinen Ohren entstand. Keiner wusste wie genau die Wahl ablaufen würde und so fragten alle neugierig herum.
Nach etwa einer halben Stunde, in der das Summen in meinen Ohren zu einem starken Kopfweh angeschwollen war, öffnete sich die Tür und ein junger Mann streckte seinen Kopf durch den Spalt.
„Okay, ihr könnt euch jetzt in einer Reihe aufstellen und rauskommen, ich werde euch dann auf verschiedene Räume verteilen.“
Die ganze schnatternde Meute strömte in Richtung Ausgang, doch ich hatte keine Eile hinauszukommen; ich suchte jemanden. Ich dachte schon er wäre bereits hinausgegangen, da erblickte ich ihn. Jakob stand neben der Tür und versuchte ebenfalls jemanden in der Menge auszumachen. Schnellen Schrittes ging ich zu ihm herüber und umarmte ihn einfach. Wortlos. Auch er drückte mich ganz fest an sich. Nach einigen Sekunden löste ich mich von ihm und sah ihn an. Ich bemerkte, dass in meinen Augen Tränen standen, die ich kaum zurückhalten konnte. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, er konnte ja nicht wissen, dass ich vorhatte ihn zu verlassen. Schließlich murmelte ich einfach nur „Machs gut, ja?“ und war bereits zur Tür hinaus verschwunden, ich konnte es nicht ertragen ihn noch länger anzusehen, sonst würde ich mich nie trennen können. Ich reihte mich hinter einem großen Jungen mit dunkelbraunem Haar ein und warf noch einen Blick zurück. Jakob stand etwas weiter hinten in der Reihe und starrte ziemlich betrübt zu Boden. Ahnte er etwas?
Der Mann der uns eben schon aus dem „Wartezimmer“ geholt hatte, wies mich jetzt in eines der kleineren Zimmer ein und nahm sich dann den nächsten aus der Schlange vor. Hinter mir wurde die Türe geschlossen. Tschüss Jakob.
Ich sah mich in dem Raum, in dem ich warten sollte, um. Er war etwa zwei mal zwei Meter groß – ich kam mir fast vor wie in einer Besenkammer, aber, klar, natürlich bekommt nicht gleich jeder eine Luxussuite mit Himmelbett, damit er darin zwei Minuten warten konnte. Ich schüttelte den kopf und grinste ein wenig über diesen Gedanken, dann fiel mir ein, dass ich ja eigentlich traurig sein sollte, schließlich hatte ich gerade meinen besten Freund verloren. Plötzlich sehr müde, rutschte ich an der Wand hinunter und zog die Knie an. Von draußen hörte ich nur ab und zu eine Tür zuschlagen und Schritte. Wieso dauerte das bloß so lange?
Ich dachte schon sie hätten mich vergessen, da wurde meine Tür aufgerissen und wieder der gleiche Mann stand vor mir und bedeutete mir stumm, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen wir durch eine Tür am anderen Ende des großen Saals. Dann fand ich mich auf einmal in einem sehr merkwürdigen Zimmer wieder. Es sah aus wie eine halbe Pizza, in drei gleich große Stücke geschnitten. Ganz links schien ein halber Wald aus dem Boden zu sprießen, Gras wuchs auf dem Boden und ein großer Apfelbaum verhinderte fast, dass sich ganz hinten noch eine Tür befand. Darauf stand „Solum“ geschrieben und darunter war das Zeichen dieser Kultur abgebildet – ein Drache. Denn die Solum waren die einzigen Menschen, die jemals eine freundschaftliche, wenn auch respektvolle Beziehung zu den Drachen aufbauen konnte.
Weiter rechts brach das Gras plötzlich ab und ging über in Glasboden. Hier waren überall Bücher, fein säuberlich nach Farbe sortiert, gestapelt - es sah aus wie ein Regenbogen. Am Ende war ebenfalls eine Tür – Profectus. Ihr Zeichen war eine Hand, aber es war keine ganz gewöhnliche Hand; es war eine Roboterhand.
Zuletzt ging ganz rechts der Glasboden in Wolken über. In Wolken? Wie konnte das denn sein? Aber tatsächlich wurde hier der Fußboden luftig leicht, weiße Wolken, wie Zuckerwatte, schienen den Boden zu bedecken und Drumherum schwebte ein heller, ja, fast leuchtender Nebel. Die Tür hinten verschwand beinahe darin. „Otium“ war darauf geschrieben. Ihr Zeichen war eine Kerze – beruhigend und sanft.
Der Mann hinter mir räusperte sich. „Wähle“ sagte er mit tiefer, ruhiger Stimme. Ich zitterte leicht als ich einen vorsichtigen Schritt nach vorne machte und an die Grenze trat, die normales Parkett von den verschiedenen, anderen, merkwürdigen Böden trennte. Profectus oder Solum, Profectus oder Solum… Mir fiel gerade auf, dass es mir nie in den Sinn gekommen war die Otium zu wählen und auch jetzt zog ich es nicht in Erwägung, ich war nicht dieser Typ, ich war nicht ruhig und ausgeglichen und ich wollte es auch nicht werden. Ich war… lebendig! Ja ich war lebendig. lebendig und laut. Und das wusste jeder, so kannte mich jeder.
Ein weiteres, leises Räuspern riss mich wieder aus den Gedanken. Ich rang einen Moment lang mit mir selbst, ehe ich beinahe das Gleichgewicht verlor, weil ich mich so abrupt nach links wandte. Mit großen Schritten ging ich auf die Tür zu. Schneller, schneller, bevor mich wieder die Zweifel plagen! Ich drückte die Türklinke herunter, dann öffnete ich die Tür mit einem Ruck.

Ich fand mich in einem dunklen Raum wieder. Ein Dutzend Augenpaare starrten mich an. Es roch nach frisch gemähtem Gras.
„Ähm..hi?“ Meine Stimme klang unsicher
„hi“ sagte jemand anderes
„Seid ihr.. seid ihr auch neu?“ oh mein Gott. Das konnte doch unmöglich meine Stimme sein!
„Ja“
„und wisst ihr was wir hier in diesem Raum machen?“
„nein“
Der ist ja sehr gesprächig, dachte ich grimmig, als ich mich mit einem Brummen abwandte. Eine gewisse Zeit verstrich, während der sich immer wieder die Tür öffnete und danach ein kurzes Gespräch, ähnlich wie meines eben, entstand. Irgendwann wurde es ganz still – die Tür blieb geschlossen. Dicht zusammengedrängt, weil der Raum so klein war, standen wir da und warteten ängstlich.
Nach einiger Zeit, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, fiel plötzlich ein gleißender Lichtstrahl auf mein Gesicht. Schützend hielt ich meine Hand über die Augen und blickte nach oben. Dort, an der Decke, war eine kleine Luke geöffnet worden; ich hatte sie vorher überhaupt nicht bemerkt. Ein freundliches Gesicht sah zu uns hinunter.
„Okay, lange genug gewartet!“ rief die Frau fröhlich „kommt mal hoch. Verblüfft sahen wir uns an. Wie sollten wir bitte da hochkommen? Nicht mal die größten von uns konnten überhaupt mit den Fingerspitzen die Decke erreichen. Ein Mann lachte.
„Na da müsst ihr euch zu helfen wissen“ meinte er nur.
Ich begriff. Sofort stellte ich mich unter die Luke und machte mit meinen Händen für den nächstbesten eine Räuberleiter. Das Mädchen zog sich an meinen Schultern hoch und konnte sich oben an der Luke festhalten. Ich hob meine Hände noch ein bisschen höher und sie zog sich ganz heraus. So gelangten alle nach und nach durch die Öffnung in der Decke. Ich war die Letzte. Mir fiel kein anderer Weg ein, also sprang ich hoch und hielt mich am Rand der Luke fest. Angestrengt keuchend strampelte ich mit den Beinen in der Luft, was ziemlich albern aussehen musste, doch ich hatte nicht genügend Kraft um mich hochzustemmen. Dann packten mich starke, große Hände an den Oberarmen und zogen mich hoch. „Danke“ ich sah meinem Helfer ins Gesicht. Er war groß und hatte kurzes dunkelbraunes Haar, es ging schon ein bisschen ins rötliche. Seine Augen waren von einem satten hellbraun – wenn das Sonnenlicht darauf fiel schimmerten sie golden. Er hatte ein kantiges Gesicht, hohe Wangenknochen und breite, muskulöse Schultern. Es war derselbe Junge, der vorhin vor mir in der Schlange gestanden hatte. Breit grinste er mich an „Kein Problem“
„Ooookay!“ rief die Frau, die uns gerade „befreit“ hatte, was mich dazu veranlasste mich von den Jungen weg- und zu ihr hinzudrehen. „Nun, da ihr alle mehr oder weniger elegant“ sie blinzelte mir belustigt zu „hinausgelangt seid, werden wir jetzt als erstes in unser Hauptlager gehen, wo ihr allen vorgestellt werdet, und ihr werdet ebenfalls die wichtigsten Persönlichkeiten bei uns kennenlernen. Danach marschieren wie alle zusammen ins Trainingslager, dort werden euch in den ersten Wochen die wichtigsten Grundlagen beigebracht. Wie es dann weitergeht werdet ihr später noch erfahren.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und schritt weit aus.
Erst jetzt registrierte ich richtig wo wir uns befanden – mitten in der Wildnis. Überall um uns herum wuchsen uns die Gräser bis über die Knie. In der Ferne entdeckte ich einen kleinen Wald mit weit auseinander stehenden Bäumen.
Doch entgegen meiner Erwartung liefen wir nicht lange; nach einer Weile gelangten wir an einen breiten, wilden Fluss mit gefährlicher Strömung. An einen sehr schräg stehenden Baum waren vier kleine Boote aus Holz gebunden. Sie trieben vom Wald weg und stießen dabei immer wieder sachte gegen das Ufer. Für mich sahen sie nicht so aus als könnten sie den heftigen Wassermassen standhalten. Die Frau und der Mann, die uns leiteten, banden die Boote los.
„Gut“ schrie die Frau über das Getöse, das der Fluss veranstaltete, hinweg, während der Mann uns gar nicht beachtete, sondern auf das Wasser starrte. Es sah aus als hätte er Angst. Die Frau versuchte weiter den Lärm zu übertönen „ Ihr geht jetzt zu fünft oder sechst in eines der Boote, sie werden euch von alleine zum Wald tragen.“ Was hatte sie da gesagt? Wie sollten uns bitte die Boote zum Wald tragen, wenn die Strömung in die komplett andere Richtung floss? Ich blinzelte verwirrt und drehte mich zu den anderen um. Sie sahen nicht so aus als würden sie sich wundern. Als ich mich wider zurückdrehte stockte ich kurz. Wie bitte? Wurde ich jetzt völlig verrückt?
Die Strömung ging in Richtung Wald.
Ich schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte ich zu wenig Schlaf abbekommen.
Gemeinsam mit ein paar anderen Leuten kletterte ich in eines der Boote. Es schaukelte heftig hin und her, aber ich war noch nie seekrank gewesen, mir machte das Schaukeln nichts aus. Im Gegensatz zu anderen – einige von ihnen sahen jetzt schon ziemlich grün um die Nase aus.
Ich seufzte, ließ mich etwas zurücksinken und nahm meine „Mitfahrer“ etwas genauer unter die Lupe.
Gegenüber von mir saß ein Mädchen. Sie hatte dunkelblonde Haare, Sommersprossen und eine kleine Stupsnase, daneben saß der Junge, der mir aus der Luke geholfen hatte. Ich blickte zur Seite. Neben mir hatte es sich ein schwarzhaariger Junge mit spitzem Kinn und dunklen Augen gemütlich gemacht; er starrte ständig auf ein Mädchen mit dunklen Locken, ganz hinten im Boot und neben ihr saß ein weiterer Junge…

Endlich Daheim



„Jakob?!“
Erschrocken fuhr er zu mir herum „Jal?“
„Was machst du denn hier?
„das sollte ich dich fragen!“ er schüttelte leicht den Kopf, doch er schien ziemlich erleichtert mich zu sehen. Ich muss hinzufügen, dass ich auch sehr erleichtert war ihn zu sehen, trotzdem war das gerade ein kleiner Schock für mich, denn ich hätte nie damit gerechnet, dass er etwas anderes wählen könnte als die Profectus. Jakob schien das selbe von mir gedacht zu haben.
Ich wollte aufstehen und ihn umarmen, doch das war wohl keine so gute Idee, denn die Boote hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und rauschten mit einer enormen Geschwindigkeit den Fluss entlang.
Der Wind pfiff mir in den Ohren und die Sonne brannte heiß auf meinem Gesicht.
Das war es.
Ich fragte mich wieso ich jemals gezweifelt hatte zu den Solum zu gehen. Die Natur war mein Zuhause, nicht irgendwelche dreckigen, nach Abgasen stinkende Straßen. Ich liebte die frische Luft und außerdem… jetzt war alles gut – denn Jakob war bei mir und zwar dort wo ich mich am wohlsten fühlte.

„Alice Brook“ die Erste wurde gerufen um den Anführern vorgestellt zu werden. Sie machte eine merkwürdige Bewegung, im ersten Moment dachte ich sie wolle sich verbeugen, doch dann trat sie einfach nur auf die drei hochgewachsenen Männer und zwei Frauen zu und streckte dem Ersten ihre Hand entgegen. „Hi ich bin Alice“
„Tja Alice, tut mir Leid, aber du bist schon durchgefallen“
erschrocken sah sie ihn an. Er war noch relativ jung, ich schätzte ihn so auf Mitte zwanzig. Sein Gesicht war braungebrannt, sein Haar hell und seine Augen blitzten verschmitzt auf als er Alice lachend erklärte: „Hier reicht man sich nicht die Hand, man umarmt sich, aber keine Angst ich habe Erbarmen und gebe dir noch eine zweite Chance.“ Er zwinkert ihr zu
Zögerlich, mit sichtlicher Scheu trat sie auf ihn zu und schloss ihn für einen sehr kurzen Moment in die Arme. Das tat sie bei den anderen vier genauso.
Es ging weiter mit der Nächsten.
Die Gruppe der Wartenden wurde immer kleiner und schließlich wurde mein Name gerufen.
„Jaliyah Bens“ Langsam trat ich nach vorne, auf die Anführer, die etwas entfernt von uns standen, zu. Eine von ihnen lächelte mir aufmunternd zu.
Ich zögerte ebenfalls etwas, doch dann trat ich entschlossen einen Schritt vor und umarmte alle nacheinander. Nach mir war Jakob dran.
Am Schluss wurden uns nacheinander die Namen der Anführer genannt.
Ramon, Chayton, Nael, Elja und Janay
Mir fiel auf, dass sie alle offenbar keinen Nachnamen besaßen, oder dass dieser hier nicht von besonders großer Bedeutung war.
„Wir umarmen uns“ sagte der Anführer mit dem Namen Ramon „da wir alle gleich sind. Wir sind alle genau das Gleiche wert, eure Meinung zählt haargenau so viel wie die unsere. Ihr sollt lernen, dass wir keine wirklichen Anführer sind, nur leider“ er ließ ein kleines Lachen hören „klappt es nicht ohne jemanden der hier für Ruhe und Ordnung sorgt. Damit nicht einer alleine hier vorne steht, sind wir, wir ihr natürlich sehen könnt, fünf. Und jedes Jahr werden wir neu gewählt.“ Er sah uns einen kurzen Moment an, dann sprach er weiter „auch ohne abgeschlossene Ausbildung könnt ihr schon wählen. In exakt einem Monat ist die nächste Wahl fällig, in zweieinhalb Monaten, habt ihr eure Ausbildung abgeschlossen – durchfallen kann niemand“ er zwinkerte Alice Brook zu.
„Außerdem!“ rief er, als wäre es ihm grade so noch eingefallen „ Während eurer Ausbildung werdet ihr eure jetzigen Namen tragen, doch sobald ihr diese abgeschlossen habt“ er machte eine kurze Pause „werden wir euch Namen geben, und zwar eure wahren Namen! Wir werden euch bis dahin, nun ja ich will nicht beobachten sagen, aber wir werden euch bis dahin gut kennen und wissen wie eurer Namen eigentlich lauten sollte, diesen werdet ihr dann annehmen.“
Gemurmel machte sich unter uns breit. Wir sollten, nachdem wir uns fünfzehn Jahre lang an unseren Namen gewöhnt hatten, plötzlich anders heißen? Das war schon ein Ding.
„Gut!“ rief die Frau, die uns hierhergebracht hatte und übrigens Lynn hieß. „Nun, da das Wichtigste gesagt ist, werde ich euch zuerst mal zeigen wo ihr wohnen werdet. Folgt mir doch bitte“
Also watschelten wir ihr folgsam wir eine Entenfamilie hinterher, bis zu einer großen Lichtung im Wald.
„Hier werdet ihr wohnen“ sie deutete gen Himmel. Ich folgte ihrem Finger mit dem Blick und erst jetzt entdeckte ich, dass überall in den Bäumen um uns herum Baumhäuser waren. Kleine, schlichte Baumhäuser.
„Jeder von euch hat sein eigenes Baumhaus“ hörte ich wieder Lynns Stimme.
Ich war hellauf begeistert. Schon als Kind, hatte ich immer davon geträumt ein eigenes Baumhaus zu haben, doch einige andere schienen nicht ganz so erfreut zu sein. Unter ihnen auch Jakob; mir fiel wieder ein dass er von klein auf unter Höhenangst litt. Ich grinste ein wenig und warf ihm einen Blick zu, der aufmunternd sein sollte, doch er sah wohl eher belustigt aus. Jakob schickte mir einen vorwurfsvollen Blick zurück.
Lynn ergriff wieder das Wort „Kleidung bekommt ihr hier; wir essen alle gemeinsam morgens und abends – wo, werde ich euch später ebenfalls noch zeigen. Jeder sucht sich jetzt irgendeines der Baumhäuser, das werdet ihr wohl untereinander ausmachen können oder?“
Sofort liefen alle los und auch ich ging zielstrebig auf ein Baumhaus zu, welches mir schon von Anfang an gut gefallen hatte. Es war an einen Baum mit dunkelroter Rinde und hellgrünen Blättern gebaut worden und zwar mit fast weißem Holz. Außerdem hatte es eine Art Veranda um das Häuschen herum, nur ohne Geländer.
Ich fragte mich gerade wie wir denn auf die Bäume kommen sollten, da bemerkte ich, dass kleine Stufen in den Baum eingelassen waren. Ohne lange zu überlegen kletterte ich mühelos hoch.
Auf halber Höhe ließ mich Lynns Stimme innehalten – sie musste schreien damit sie alle verstanden, denn wir waren schon in alle Richtungen verstreut. „Die Baumhäuser könnt ihr nach eurem Geschmack gestalten und verändern, ihr könnt entweder die Stufen lassen oder euch eine Strickleiter basteln oder euch sonst irgendetwas einfallen lassen. Meinetwegen könnt ihr euer Haus auch abreißen weil ihr doch so unbedingt unter freiem Himmel schlafen wollt. Schneidet Herzchen in die Wände oder klebt Rosen dran. Was ihr wollt, okay? Ich will nur nicht dauernd nach der Erlaubnis gefragt werden!“ Ich grinste und kletterte weiter hoch.
„In zwanzig Minuten hol ich euch wieder ab!“ rief sie uns noch hinterher „dann gehen wir zum Trainingslager“
Ich nahm die letzten paar Stufen hoch zu meinem (meinem!) neuen Baumhaus und sah es mir erst mal genauer an.
Auf einem großen Plateau war das Häuschen gebaut worden, es war etwa 5 x 5 Meter groß und bis jetzt stand erst ein einzelnes Bett darin. Ich war ziemlich froh darüber, denn dann konnte ich das Zimmer ganz wie ich wollte einrichten.
Da es nicht gerade viel zu sehen gab, begab ich mich wieder nach draußen, setzte mich an den Rand der, nun ja, nennen wir es mal Terrasse und ließ die Beine herunter baumeln. Neugierig ließ ich den Blick schweifen. Die Lichtung, um die die Baumhäuser gebaut wurden, schien so eine Art Treffpunkt für die Neulinge zu sein. In der Mitte war eine Feuerstelle und außen herum war viel Gras und Stroh gelegt worden, damit sich alle bequem niederlassen konnten.
Als ich mich weiter umschaute, bemerkte ich, dass der ganze Wald gar nicht so riesig war, wie er von weitem aussah – nur einige Kilometer entfernt, so schätzte ich, fingen die Berge an. Das mag jetzt vielleicht komisch klingen, aber ich hatte die Berge noch nie zu Gesicht bekommen, höchstens mal als Silhouette am Horizont. Ich nahm mir vor, dem Gebirge so bald wie möglich einen Besuch abzustatten. Nach einer Weile kam Lynn wieder zurück und zeigte uns den sogenannten Trainingsplatz, der einfach nur aus plattgetrampelter Erde bestand. Hier sollten wir das Schießen mit Pfeil und Bogen lernen. Außerdem sollte uns im kommenden Monat beigebracht werden, wie man ohne jegliche Hilfsmittel alleine in der Wildnis überleben konnte. Nach diesen vier Wochen sollten wir auf unseren Spezialgebieten, jeder einzeln, weiter unterrichtet werden. Ich fragte mich wie viele verschiedene Dinge es da gab, aber darüber hatte Lynn kein Wort fallen lassen.
Stattdessen führte sie uns herum, zeigte uns dies und jenes, wie zum Beispiel den Ort wo alle gemeinsam aßen, den Sitz der Anführer, verschiedenste Läden, und, und, und.
Zum Schluss wurde jedem von uns ein kleines, aus Leinen genähtes Säckchen in die Hand gedrückt.
Darin befanden sich viele kleine Kupfermünzen, etwa zwei Zentimeter Durchmesser, fünf Millimeter breit und mit einem Loch in der Mitte.
„Das“ ergriff Lynn das Wort „sind von den Anführern zur Verfügung gestellte Zahlungsmittel. Damit ihr Bescheid wisst, das ist nicht gerade wenig, was ihr da in den Händen haltet. Ihr bekommt diese Münzen nur ein einziges Mal und es muss euch die ganze Ausbildungszeit über halten, danach könnt ihr euch ja selber euren Lebensunterhalt verdienen.“ Sie machte eine kurze Pause, dann erklärte sie weiter „Die Hälfte eures Geldes wird für Essen draufgehen. Ihr könnt euch das für einen Monat, zwei Monate, sechs Monate oder ein Jahr holen; als Zeichen dass ihr bezahlt habt, bekommt ihr professionelle Henna Tattoos, die exakt vier Wochen halten, das heißt also ihr müsst sie einmal im Monat nachzeichnen lassen. Ihr könnt euch, egal, für wie lange ihr bezahlt habt, zwischen hunderten von Motiven entscheiden. Es gibt, soweit ich weiß, für jede Zeitspanne ein Buch von knapp fünfhundert Seiten.“
Getuschel machte sich unter allen breit. Auch ich machte mir da so einige Gedanken. Könnten dann nicht viele einfach die Tattoos fälschen?
Lynn schien genau zu wissen, weshalb wir alle so aufgeregt waren.
„Die Tattoos kann man nicht fälschen. Zum einen, haben wir im Moment nur einen einzigen Zeichner im Stamm, der diese Kunst perfekt beherrscht – da nützt es auch nichts die Linien nachzufahren, denn an der Essensausgabe, arbeiten nur die Mitglieder, deren Blick gut geschult ist. Und zum anderen“ sie sah uns der Reihe nach an „beruht diese Kultur auf Vertrauen. Und wer hier versucht zu bescheißen, der landet ganz unten, das heißt, er darf nicht mehr arbeiten und muss gucken ob ein paar der anständigen Leute Erbarmen mit selbstsüchtigen, hinterhältigen Drecksschweinen haben.“ Das hatte den Leuten, die tatsächlich dachten sie könnten sich hier irgendwie durchmogeln, vorerst einen mächtigen Dämpfer verpasst.
Nach dieser kleinen Rede durften wir gehen und machen was wir wollten. Die Leute die sich schon kannten fügten sich zu kleinen Grüppchen zusammen, ein paar andere schlossen sich an, und zurück blieben nur Jakob und ich.
Und noch ein Junge.
mit braunrotem Haar.
und goldenen Augen.
„Hi ich bin Wim“ sagte er und grinste mich an „ Wir haben uns ja schon, mehr oder weniger, kennengelernt“
„Jaliyah“ sagte ich und grinste zurück „und das ist Jakob, mein bester Freund“ ich deutete zu Besagtem.
„Hi“ sagte dieser mit einem leichten Lächeln.
Wim nickte. Nicht abweisend; nur wie jemand, der nicht zweimal hintereinander ‚hi‘ sagen wollte.

Viel mehr ereignete sich an diesem Tag auch nicht, naja, heute war ja auch schon viel passiert, das sollte eigentlich reichen.


Bald gehts weiter ;)

Der erste Tag im neuen Leben


Ich träumte. Irgendetwas Merkwürdiges. Ich träumte immer merkwürdige Dinge.
Irgendwie saß ich mit Wim auf einer blauen Wiese und wir beide kamen nicht darauf was an dem Gras anders aussah als bei normalem Rasen. Nach einer Weile bemerkten wir, dass Gras ja eigentlich rot ist und wir lachten über unsere eigene Dummheit. Dann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts Jakob vor uns auf, welcher felsenfest behauptete, dass eine Wiese normalerweise lila ist, während Wim und ich auf der Meinung beharrten, sie sei rot. Irgendwann läutete Jakob eine riesige (ebenfalls aus dem Nichts erschienene) Glocke um eine Volksversammlung einzuberufen und über dieses Thema zu diskutieren. Ich schrie ihn an; sagte, er solle gefälligst aufhören zu läuten, denn das Geräusch ging mir durch Mark und Bein. Es war so laut, dass ich mir die Ohren zu hielt und mich hin- und her-wälzte. Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der Schulter. Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf. Ich war aus dem Bett gefallen.
Und dieses verdammte Klingeln wollte einfach nicht aufhören!
Mit verquollenen Augen schlappte ich aus der Türöffnung und sah Lynn unten auf dem Platz. Mit einer riesigen Glocke. Offenbar sollte das ein Weckruf für die Schüler sein. Mehrere, andere Jugendliche standen ebenfalls, sich die Augen reibend, vor ihren Baumhäusern.
Nach einer weiteren Minute durchdringendem Läuten schien Lynn der Meinung zu sein, dass nun alle wach waren. Sie holte einmal tief Luft und rief dann mit einer Lautstärke, die mich angesichts ihrer relativ zierlichen Gestalt ziemlich schockte „Heeeeeee! In zehn Minuten seid ihr alle hier unten und zwar fertig für euren ersten Trainingstag!“
Unter einigem Gebrummel und Gejammer schlurften alle wieder zurück in ihre Baumhäuser. Auch ich wollte mich gerade umdrehen, als mir der Atem stockte. Hatte ich gerade richtig gesehen? Na klar! Hinten in den Bergen flog ein einzelner Drachen seine Runden. Er sah, auch aus dieser Entfernung wunderschön aus. Der Drache flog tiefer, und war schon bald hinter den Gipfeln verschwunden.
Seufzend wandte ich mich ab und ging zurück in mein Baumhaus.
In einer Ecke fand ich einen Stapel frischer Kleidung, der mir Tags zuvor noch nicht aufgefallen war. Prüfend nahm ich eine Hose hoch und musterte sie. Sie war aus Leinen, fein gewebt. Es sah nach richtig guter, fortgeschrittener Kunst aus. Achselzuckend zog ich sie an, schlüpfte in ein, ebenso fein gewebtes, rot gefärbtes T-Shirt, versuchte mit den Fingern ein wenig meine strubbeligen Haare durchzukämmen, was mir kläglich misslang, und machte mich anschließend ganz langsam auf den Weg nach unten.
Kurze Zeit später waren dann alle eingetrudelt und der erste Trainingstag konnte beginnen. Wir versammelten uns in einem Kreis um Lynn und einen weiteren Mann, den wir hier noch nie gesehen hatten.
„Gut.“ Fing Lynn an „Da ja nun alle da sind... das ist Nahuel. Er wird euch die ersten zwei Wochen trainieren. Ich bin jetzt nicht mehr eure Ansprechpartnerin, sondern er. Daher übergebe ich nun auch das Wort an ihn.“
„Jaah genau“ begann Nahuel „Ich werde euch jetzt im Umgang mit Pfeil und Bogen lehren, außerdem im Häuten der Tiere und Verarbeiten des Fleisches, die dritte und vierte Woche werdet in anderen, verschiedenen, grundlegenden Dingen unterrichtet, nicht von mir, sondern von einer Kollegin.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab, winkte uns, ihm zu folgen und schritt in die Richtung, in der ich den Trainingsplatz vermutete.
Nach zwei Minuten Fußmarsch wurde meine Vermutung bestätigt. Wir standen wieder am Rande der riesigen Ebene mitten im Wald. Sie sah aus wie gestern, nur mit dem winzigen Unterschied, dass nun eine Reihe an Bögen, mit jeweils einem Köcher voller Pfeile daneben.
Nachdem wir uns alle automatisch in einer Reihe hingestellt hatten und Nahuel sich vor uns, richtete dieser wieder das Wort an uns.
„Zum Einstieg, und um zu sehen wer denn hier das meiste Talent hat, habe ich hier ein kleines ‚Spiel‘“ er setzte das Wort mit den Fingern in Anführungszeichen „für euch vorbereitet. Wir haben exakt zweiundzwanzig Bögen mitsamt Köcher, genauso viele wie ihr es seid. Die Pfeile haben alle andere Muster oder Farben hinten aufgemalt. Ihr werdet euch jetzt gleich Bogen und Köcher holen – Gleich!“ sagte er scharf, denn einige Übereifrige wollten sofort losstürmen „dann zeigt ihr mir Farbe und Muster eurer Pfeile, was ich dann aufschreiben werde und wenn ihr dann alle voll ausgestattet vor mir steht, werde ich euch weitere Informationen geben. Und…los!“ rief er und klatschte in die Hände. Das war das Kommando für alle, loszurennen und sich sein Material zu schnappen.
Nach kurzer Zeit schon, standen wir, in Reih und Glied, voll ausgestattet, da, während Nahuel sich nacheinander von jedem, die Pfeile zeigen ließ und etwas auf ein kleines Blatt Pergament schrieb. „Fein“ sagte er, als wären wir Hunde, nachdem er fertig war „In diesem Spiel geht es zum einem darum, gut zu schießen, zum anderen aber auch um die Schnelligkeit und ums Aufspüren. Und da ihr ja alle so darauf zu brennen scheint, endlich loszulegen, möchte ich euch jetzt ganz schnell alles erklären. Also, hier im Wald, im Umkreis von ein bis zwei Kilometern, sind hoch oben in den Bäumen rote Punkte angebracht. Eure Aufgabe ist es, diese Punkte zu finden und sie als Erster zu treffen. Am Ende werden alle Pfeile eingesammelt, gezählt und wer die meisten Punkte getroffen hat, bekommt eine kleine Überraschung von mir. Alle verstanden? Na dann, worauf wartet ihr noch?“
Und los ging es.
Alle stoben in verschiedene Richtungen davon und auch ich machte mich auf den Weg. Schützend hielt ich mir eine Hand über die Augen, um diese vor der Sonne zu schützen. Langsam lief ich weiter in den Wald hinein, drehte mich immer mal wieder im Kreis und hielt Ausschau nach irgendetwas Rotem. Es dauerte nicht lange, da hatte ich auch schon etwas zwischen den Zweigen, hoch oben an einer dunklen Kiefer entdeckt. Tatsächlich, es musste einer der besagten Punkte sein. Entschlossen zog ich einen Pfeil aus meinem Köcher. Mein Muster war rot, es sah ein wenig aus wie Flammen, die um das Holz tanzten.
Da ich noch nie in meinem Leben Pfeil und Bogen auch nur berührt hatte, war ich äußerst überrascht, dass mein Schuss nur um zwei Meter den Baum verfehlte. Dasselbe Erlebnis machte ich mit den restlichen neunzehn Pfeilen. Seufzend, obwohl ich eigentlich nichts anderes erwartet hatte, schulterte ich meine Sachen und machte mich auf, die, in weiten Abständen verteilten, Pfeile wieder aufzusammeln.
Nachdem ich meine sieben Sachen – es waren tatsächlichen sieben Dinge, wenn man, ähm, naja, eben nur fünf Pfeile mitzählte – wieder beisammen hatte, kehrte ich wieder zurück zu dem markierten Baum, um mein Glück erneut zu versuchen, da bemerkte ich, dass dort bereits ein Pfeil steckte. Mit zwei stinknormalen, lilafarbenen Streifen.
Nun gut. Achselzuckend ging ich weiter.
Kaum eine Minute später entdeckte ich einen weiteren Punkt, doch auch hier war mir jemand zuvorgekommen.
Wie viele Bäume wurden eigentlich rot markiert?
Irgendwann fing es an zu regnen.

„Na also, so schlecht war das ja gar nicht!“ Nahuel grinste über das empörte Gemurmel einiger Anwesenden. „Ich will es ja nicht so spannend machen, deshalb komme ich gleich auf den Punkt.“
Erwartungsvolle Gesichter.
„Dritte ist: Cleo! Sie hat neun von sechsunddreißig Kreisen getroffen!“
Tja, besser als ich allemal.
Nahuel sprach weiter „Und zweiter ist Wim!“
Anerkennend grinste ich ihm zu. Nicht schlecht!
„Wim hat elf Mal getroffen. Und zu guter Letzt – Die meisten Pfeile, sechzehn Stück, hat Erik an die Bäume geschossen.“
Ein Junge mit einem schwarzen Haarschopf und spitzem Kinn sah hämisch in die Runde.
Irgendwoher kannte ich ihn.
Nahuel trat mit den Händen hinter dem Rücken, als würde er dort etwas verbergen, würdevoll auf Erik zu. Als er dicht vor ihm stand, beugte er sich herunter und flüsterte, jedoch so laut dass es jeder hören konnte „Freu dich ja nicht zu früh, kleiner Scheißer“
Dann trat er wieder einen Schritt zurück und hob die Stimme „Ja, es stimmt, Erik hat viele Pfeile an den Bäumen zurückgelassen. Leider, leider hat er sie aber nicht geschossen, nicht wahr?“ Nahuel gab Erik eine deftige Kopfnuss.
„Nein, er fand es gemütlicher, einfach hinauf zu klettern und in aller Ruhe seine Pfeile von Hand in die Scheiben zu stecken“ Er stieß Erik von sich, als sei er ein ekliges, aufdringliches Tier, das um Essen bettelte. „Aber natürlich habe ich das nicht selbst herausgefunden, ich habe hier gewartet. Aber ich habe wohl ganz aus Versehen“ seine Stimme triefte vor Sarkasmus „vergessen euch mitzuteilen, dass ihr überwacht werdet. Von meinen lieben Kollegen, die mir, noch bevor ihr zurückkahmt, Bericht erstatteten. Demnach…“ Er strich etwas auf seiner Liste durch. „…ist Wim nämlich Erster, Cleo Zweite und Dritter ist Joey!“ Ein Junge mit kurzen, blonden Haaren, ganz hinten, schien freudig überrascht.
„Außerdem“ fuhr Nahuel fort „ haben wir einen kleinen Trostplatz, denn Jaliyah hat zweiundzwanzig der sechsunddreißig Punkte als Erste entdeckt, auch wenn sie eine Null im Schießen ist, sie hat halt keinen einzigen Punkt getroffen“ Er grinste.
Gleichzeitig belustigt und beschämt sah ich zu Boden. Jakob klopfte mir zwinkernd auf den Rücken.
„Legt bitte Bogen und Köcher ordentlich auf den Boden. Dann könnt ihr gehen. Wir haben…“ Suchend blickte er zum Himmel und erblickte die Sonne „…Mittagszeit. Ihr könnt jetzt Essen gehen, wo der Platz ist, wisst ihr ja. Lynn hat ihn euch gezeigt“
Schwätzend und lachend tröpfelten langsam alle vom Feld. Wim schloss sich Jakob und mir an. Da keiner von uns bereits wirklichen Hunger hatte, beschlossen wir, jetzt Henna-Tattoos für einen Monat machen zu lassen.
Der Laden war groß und hell. Gleich nachdem wir ihn betreten hatten, eilte uns ein Mann entgegen, obwohl ich nicht wusste, ob ich das, was ich hier sah, wirklich noch als Mann bezeichnen konnte.
Sein Körper war über und über bedeckt mit rostbraunen Tattoos, man konnte kaum sagen, was nun Tattoo und was Haut war.
„Hey ihr drei. Ihr wollt Tattoos? Für wie lange?“
Wir sahen uns kurz an „für einen Monat denke ich mal, oder?“ meinte ich, während die anderen zwei zustimmend nickten.
„Gut, dann könnt ihr ja mal hier reingucken und mir sagen, was ihr für ein Motiv haben wollt.“ Mit diesen Worten knallte er uns einen riesigen Wälzer vor die Nase. Zögernd schlug ich diesen auf.
Auf jeder Seite war ein riesiges Bild von verschiedensten Tattoos. Das ging von Spielwürfeln, bis zu Wildschweinen, genauso gab es Croissants und Schlüssel. Es fehlte an nichts.
Jakob entschied sich schließlich für eine Hand, die so aussah, als würde sie seinen Oberarm umschließen. Wim ließ sich eine kleine Westerngitarre auf den Hüftknochen malen, denn er hatte, wie er mir erzählte, im Internat leidenschaftlich Gitarre gespielt.
Ich nahm letztendlich eine Wüstenlandschaft, die sich einmal um mein Fußgelenk wand.
Da wir allein fürs Aussuchen eine gute halbe Stunde gebraucht hatten, und für jedes Tattoo weitere zwanzig Minuten, hatten wir doch ein klein wenig Kohldampf bekommen.
Nun konnten sich unsere Tattoos der ersten Prüfung unterziehen – natürlich bestanden sie alle.
Es gab Geflügel mit Kartoffeln und einer Kräutersoße

zwei Augen, zwei Ohren, vier Beine


„Das ist ein Gänseblümchen, Joey, kein Fliegenpilz“
Grinsend streckte er mir die Zunge raus. „Man du bist so doof, echt, ich meinte doch nicht das sondern das da!“ Er deutete auf etwas am Fuße des Baums.
Ich wuschelte ihm versöhnlich durchs dunkelblonde Haar. „Das weiß ich doch“ Ich grinste zurück.
Joey und ich waren in eine Gruppe eingeteilt worden, um zehn Sachen zu sammeln, von denen wir dachten, sie seien giftig. Es war der zweite Tag unserer vierten Trainingswoche.
In der dritten Woche, hatten wir hauptsächlich Dinge wie einen kleinen Unterschlupf bauen, oder Feuer machen gelernt. Darin war ich auf jeden Fall besser als im Schießen, obwohl ich mich im Laufe der vergangenen Wochen, auch dabei, deutlich gebessert habe.
„Okay, ich denke das reicht, nimm diesen Fliegenpilz, oder was auch immer das ist, noch mit“ Ich lächelte ihn an. Er war echt niedlich. Irgendwie erinnerte er mich an ein kleines, tollpatschiges Babykänguru, mit seinen riesigen, blauen Augen.
„Gut.“ Er stopfte das rote Ding in seine linke Hosentasche und stapfte dann an mir vorbei in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich beeilte mich, ihm hinterherzukommen, verhedderte mich kurz in einem Dornenstrauch, beschloss, dass dieser ebenfalls als tödlich eingestuft werden sollte nachdem ich mir das halbe Bein aufgekratzt hatte, befreite mich schließlich und stolperte Joey hinterher. Wir waren nicht weit entfernt vom Treffpunkt, sodass wir schon das zweite Team waren, das bereits zurückgekehrt war. Das erste Team waren zwei, mir unbekannte, Mädchen.
„Ah gut! Ihr seid auch schon zurück!“ rief Tahnee, unsere neue Trainerin, kaum waren wir zwischen den Bäumen hervorgetreten. „Dann lasst mal sehen, was habt ihr mir denn Schönes mitgebracht?“ sie lächelte. „Aha, ja, das sieht doch schon mal gar nicht so schlecht aus!“ meinte sie, nachdem sie einige Dinge, die wir ihr zeigten, betrachtet hatte „Okay, das lass mal gleich weg, das ist Bärlauch. Ja aber ansonsten, klasse Leistung!“ lobte sie uns, während wir mit unserem Grinsen Honigkuchenpferden Konkurrenz machen könnten.
Fröhlich miteinander redend und lachend, setzten wir uns nebeneinander in den Schneidersitz um auf die anderen zu warten, die dann auch nicht mehr lange auf sich warten ließen.
„Also dann, legt mir doch bitte alles was ihr mitgebracht habt, hier vorne zu mir und dann besprechen wir gemeinsam was essbar ist und was nicht, danach teile ich euch noch die Pläne für die restliche Woche mit.“
Eine Weile wurde hin- und her- sortiert, bis wir eine einigermaßen klare Vorstellung davon hatten, was giftig, oder sogar tödlich war.
Dann kam ein winzig kleiner Schock.
„Viel mehr habe ich jetzt nicht zu sagen“ meinte Tahnee „nur noch eine vielleicht wissenswerte Sache“ Sie zwinkerte.
Getuschel.
„Morgen habt ihr Prüfungen.“
Lauteres Getuschel.
„Prüfungen?“ rief eine Stimme dazwischen „Wir haben Prüfungen?“
„Oh nicht wir ihr denkt, nicht so wie in der Schule, nein, nur praktische Prüfungen“
Noch lauteres Getuschel.
„Ihr sollt für drei Tage, ganz allein in der Wildnis überleben, die Grundlagen dafür habt ihr jetzt. Glaubt mir, das hört sich jetzt vielleicht hart an, aber so schwierig ist es wirklich nicht. Ihr könnt jetzt gehen und euch auf morgen vorbereiten.“
Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr wuchs die Angst.

Ich wurde, wie jeden Tag, von dem schrecklichen, durchdringendem Läuten geweckt, doch ich hatte es bisher erst vier Mal geschafft aus dem Bett zu fallen. Heute sollte wohl auch nicht das fünfte mal sein. Ich war sowieso nur im Halbschlaf. So sprang ich eilig aus dem Bett und huschte unter meine provisorische Dusche, die eigentlich nur aus einem Eimer kalten Wassers mit Sieb obendrauf bestand, und bei der unter meinem Baumhaus durchgehende Leute vielleicht aufpassen sollten.
Dann stieg ich in irgendwelche, spontan ausgesuchten Klamotten und kletterte den Baum herunter. Ich war viel zu aufgeregt um auch nur einen Moment stillzustehen, wir sollten heute doch tatsächlich mit nichts und wieder nichts komplett alleine irgendwo im Wald ausgesetzt werden, natürlich jeder einzeln.
„Auf geht’s“ Tahnee klatschte in die Hände, kaum dass der Letzte angekommen war. „mir nach bitte!“
Es ging los.
Wir wurden wieder zum Fluss geführt und sollten in die dort liegenden Boote einsteigen. Alles ging plötzlich so schnell, wie immer wenn es ein nicht gerade erfreuliches Ereignis gibt. Ungefähr alle zwei Kilometer wurde einer von uns am Rand abgesetzt. In drei Tagen sollten wir, wenn die Sonne am höchsten stand, dort warten um wieder abgeholt zu werden.
Jetzt waren schon vier von uns weg. Ich hatte es gar nicht mitgekriegt. Wieso flog die Zeit nur so? Auf einmal fand ich mich alleine am Ufer sitzend wieder – in der Ferne verschwanden zwei kleine, schaukelnde Bötchen.
Eine Weile saß ich nur da und starrte auf die Stelle, an der die Boote verschwunden waren.
Schließlich rappelte ich mich auf und wanderte eine Weile in den Wald hinein, bis ich eine winzige Lichtung fand. Ich konnte es nicht ertragen, einfach nichts zu tun, also begann ich viele, große Äste zu suchen, um mir als Erstes einen kleinen Unterschlupf zu bauen. Sorgfältig lehnte ich die längsten und geradesten Zweige gegeneinander, dann flocht ich kleine, biegsame Äste waagerecht hindurch, um dem Ganzen einen gewissen Halt zu geben. Die Spitzen oben band ich mit langen Efeuschnüren zusammen, die Blätter ließ ich dran, irgendwie sah das hübsch aus. Schließlich sammelte ich Massen an Farnen, die ich ordentlich obendrauf und auf die Wände legte, bis keine Löcher mehr zu sehen war, auch hier band ich einfach um die gesamte Wand Efeu, damit die Farne auch hielten. Ganz zum Schluss suchte ich mir noch Moos, Laub, Gras, Farne und ähnliche Dinge zusammen, welche ich dann auf den Boden legte. Ein weiches Bett. Glücklich betrachtete ich mein Kunstwerk. Es war vielleicht nicht das schönste, aber es würde leichteren Regen abhalten und machte auch einen ganz stabilen Eindruck. Ich legte mich einmal zum Testen unter das kleine Dach und war erstaunt wie gemütlich es war. Das war ja fast besser als eine Matratze! Seufzend bettete ich meinen Kopf auf die Arme und versuchte ein wenig zu dösen.

Es musste mir wohl gelungen sein, denn als ich aufwachte, stand die Sonne bereits schräg über mir und mein Magen knurrte. Ich rappelte mich schnell auf und lief eine Weile ziellos umher, auf der Suche nach irgendetwas Essbarem. Nach circa einer Stunde war mein Gesammeltes schon bemerkenswert. Ich hatte einige Steinpilze, Sauerklee, Bärlauch, Brombeeren, Walderdbeeren, ein paar Kräuter und die Taschen voller Haselnüsse. Das sollte für heute und morgen reichen. Mittlerweile war die Zeit auch schon weit fortgeschritten. Die Sonne war kurz davor, den Horizont zu berühren.
Also begann ich, einige, große, herumliegende Steine in einem Kreis auf den Boden zu legen, dazu etwas Moos. Dann riss ich mit Gewalt ein großes Stück Rinde von einem nahestehenden Baum ab und hob ein trockenes Stöckchen von Boden auf. Feuer machen. So leicht wie es in Büchern beschrieben war, oder im Fernsehen gezeigt wurde, war es nicht. Ich setzte die Stockspitze auf die Rinde und drehte das Stöckchen so schnell wie möglich zwischen meinen Fingern hin und her. Irgendwann – ich wollte schon aufgeben – stiegen kleine Rauchwölkchen hoch und ich sah einen Funken. Schnell beugte ich mich, während ich dennoch weiterrieb, hinunter und blies sachte auf die Stelle. Es dauerte weitere 15 Minuten voller Fingerspitzengefühl und Holz nachlegen, bis ein sehr kleines Feuer brannte. Ich fächerte noch ein wenig Luft hinzu, doch inzwischen war mein Hunger schon zu groß und meine Geduld zu gering. Deshalb spießte ich zwei der Pilze auf einen Ast, dazu noch etwas Bärlauch und Sauerklee, obwohl ich mir nicht sicher war, ob man das Grünzeug in Feuer halten sollte. Wohl eher nicht, aber egal.
Die Pilze rochen super und schmeckten, mit ein paar Kräutern gewürzt fantastisch. Auch mein kleines Experiment, Pilz mit Brombeeren, war gar nicht so schlecht.
Fast die Hälfte meines Vorrats war weg, ich hatte es mir ja auch so eingeteilt. Eine Weile blieb ich noch am wärmenden Feuer sitzen, als es heruntergebrannt war legte ich mich schlafen.
Mein zweiter Tag verlief ähnlich und irgendwann merkte ich, so schwer war das gar nicht.

Sonnenstrahlen fielen auf mein Gesicht und kitzelten mich wach. Ach ja, das war der Vorteil dieser Prüfung. Man konnte endlich mal wieder ausschlafen. Heute war der letzte Tag, dem Sonnenstand nach, war es um die zehn Uhr. Seufzend stand ich auf, ich war fast enttäuscht, dass es heute vorbei sein sollte. Schnell drückte ich mir die restlichen Beeren vom Vortag rein, trank einen Schluck Wasser, ich hatte in der Nähe eine Quelle entdeckt, und wandte mich dann Richtung Fluss.
Ich war gerade drei Schritte gelaufen, da fiel ein Schatten auf mein Gesicht; der Himmel verdunkelte sich. Erschrocken blickte ich nach oben. Oh nein, es hatte sich keine Wolke vor die Sonne geschoben. Über mir schwebte ein gigantischer Drache, mindestens zweieinhalb Meter groß. Er flog einen Kreis, und landete sanft auf dem feuchten Erdboden.
Ich war so fasziniert über seinen Anblick, dass ich darüber beinahe meine Angst vergaß. Er schimmerte dunkelrot, hatte einen schlanken Körper und eine spitze Schnauze, seine Ohren waren größer als meine Hände und über von der Stirn ausgehend, liefen kleine, schwarze Stachelnd seinen Rücken entlang und endeten an der zuckenden Schwanzspitze.
Doch was mich beeindruckte, waren weder seine Größe, noch sein Dornenbesetzter Körper.
Es waren die Augen.
Sie erschienen mir wie zwei hellgrüne Lampen, leicht schrägstehend und schwarz umrandet. Sie blickten nicht freundlich drein. Aber auch nicht boshaft. Das einzige Wort, das es gerade noch am ehesten träfe, war… >würdevoll

Verwirrung


Ein kleiner Feuerstrahl stieß aus seinem Maul, als der Drache seinen linken Fuß noch ein winziges bisschen weiter nach vorne setzte. Sein Schwanz ringelte, wie eine Schlange, hinter ihm her. Dann schien sich plötzlich sein gesamter Körper anzuspannen, während er mir tief in die Augen sah. Ein leises Zischen entfuhr ihm.
Dann begann er zu sprechen. Ich wusste nicht, dass Drachen unsere Sprache beherrschten, doch er tat es.
„Mit Krallen bewehrt,
von Flammen geschützt,
Wirst Glück uns bescher’n,
Wirst sein uns’re Stütz,
Solange die Vier hält,
Du bist gewählt.“
Mit diesen verwirrenden Worten blies er mir sanft eine schwarze Rauchwolke ins Gesicht. Ich begann zu Husten, konnte kaum noch was sehen, meine Augen stachen. Mir wurde schwindelig, meine Knie knickten ein und ich stürzte nach vorne ins Gras. Als ich aufsah, war der Drache verschwunden.
Vorsichtig rappelte ich mich auf und sah mich um, doch er war nirgends zu sehen.
Stolpernd und mich immer wieder umsehend, setzte ich meinen Weg zum Fluss fort. Die Sonne stand nun fast über mir.
Nach einer Weile begann ich zu rennen. Was, wenn ich zu spät käme? Wie würde ich denn zurück ins Lager kommen? In der Ferne sah ich bereits die tanzenden Lichter auf den Fluten. Das Wasser blitzte und funkelte im Sonnenlicht. Mir war nie zuvor aufgefallen wie schön so ein Fluss sein konnte und überhaupt! Das Sonnenlicht war heute so intensiv, auch die Erde schien rotbraun zu glühen, von dem Grün der Bäume ganz zu schweigen.
Keuchend blieb ich am Ufer stehen und spähte, die Hand über den Augen, flussaufwärts. Mehrere braune Pünktchen schaukelten am Horizont hin und her. Glück gehabt, ich war rechtzeitig.
Während dem Warten, zog ich meine alten Turnschuhe aus und ließ die Füße ins Wasser hängen. Kühl plätscherte das klare Wasser um meine Zehen.
Meine Gedanken glitten wieder zu dem Drachen. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich versuchte angestrengt, mir das Gedicht wieder in Bewusstsein zu rufen.
Mit Krallen bewehrt. Krallen? Er hatte vielleicht Krallen, ich nicht.
Und Flammen besaß ich auch keine. Oder sollte ich als Drache erwählt worden sein?
Ganz bestimmt! Wahrscheinlich würden mir gleich Flügel wachsen, haha.
Nein, eher hatte er mich verwechselt, das war wohl die einfachste Erklärung, auch wenn ich mir das kaum vorstellen konnte.
Ich war so in meine Grübeleien versunken, dass ich kaum merkte, dass die Boote da waren. Erst als ich meinen Namen hörte, sah ich auf.
Wim winkte mir von einem Bötchen aus zu, während dieses auf mich zu steuerte. Mit etwas zu viel Schwung, sodass ich in meinen besten Freund prallte, sprang ich hinein und setzte mich schleunigst hin.
„Und wie lief es bei dir?“ Wim beugte sich zu mir herunter.
„Prima!“ erwiderte ich „Ich hatte es mir viel schwieriger vorgestellt und bei dir?“
„Ja es lief echt gut, aber ich hab nie ein Feuer hinbekommen, es war ziemlich kalt“
Ich sah ihn mitleidig an.
Seine goldenen Augen.
Und seine roten Lippen. Am liebsten würde ich ihn…
Äh… wie bitte? Wim und…. Da merkte ich es erst. Jedes Mal wenn Wim mich mit seinen intensiven Honigbraunen Augen ansah, durchlief ein warmes Gefühl meinen Körper. jedes Mal wenn er mich berührte durchfuhr es mich wie ein Elektroschock.
Wim war nicht nur ein Freund für mich.
Unsere Blicke trafen sich und peinlich berührt sah ich schnell in die Landschaft und genoss die Aussicht.
Die Schiefergrauen Berge mit den schneeweißen Spitzen, der Wald aus grün, rot und Brauntönen, das funkelnde Wasser, die gleißende, warme Sonne und ein kühler Wind um die Nasenspitze. Hier waren alle Jahreszeiten vorhanden. Wir holten noch die restlichen Leute ab und kamen dann bald in unserem Lager an.
Jetzt erst wurde mir bewusst, dass wir die Hälfte der Trainingszeit hinter uns hatten und den ersten Teil bestanden.
Strahlend empfing uns Tahnee.
„Na also! War doch gar nicht so schwer oder? Ihr könnt nun auswählen, in welchen Bereich ihr eure Ausbildung fortsetzen wollt. Es gibt viele viele Möglichkeiten…“
Es standen tatsächlich einige Ausbildungen zur Verfügung. Das waren Kampf und Jagd, Heilkunde, Kochkunst, Handarbeit, Tischlerei, Schmiede, Glasbläserei, Feinarbeit, Pflanzenanbau, Viehzucht und, und, und…
„So ich werde dieses Pergament unten an meinem Baumhaus aufhängen, ihr könnte jederzeit kommen um euch noch mal Ideen zu holen.“ Sie sah uns an.
Ihr Blick blieb an mir hängen, und einen Moment schien es als würden sich ihre Augen erschrocken weiten, doch das hatte ich mir wohl eingebildet, denn in der nächsten Sekunde war sie wieder ganz normal. „Ihr könnt jetzt gehen“
Mittagessen. Gemeinsam mit Jakob und Wim wandte ich mich zum Gehen, als mich plötzlich eine kräftige Hand packte und mich wegzog.
„Komm doch bitte mit Jaliyah“ Tahnees Stimme klang aufgeregt.
„Wohin?“ Verwirrt sah ich zurück. Wim und Jakob erwiderten den Blick, nicht minder überrascht.
Tahnee antwortete nicht, sondern zog mich einfach weiter. Wir waren nun am Führerplatz.
Was hatte ich angestellt?
Nael, einer der Anführer, sah auf, als wir eintraten. „Tahnee, was ist los?“
„Sieh sie dir an“ zischte sie „los schau ihr Gesicht an!“ Mein Gesicht? Oh mein Gott, wie verunstaltet musste ich denn sein?
Nael erstarrte. „Du hast Recht. Bring sie zu Keanu.“
Tahnee nickte stumm, drehte sich auf dem Absatz um und bedeutete mir, ihr zu folgen.
„Was ist denn los? Bitte, was ist mit meinem Gesicht?“ Ich war verzweifelt
„Gleich, gleich…“ murmelte sie mir abwesend zu.
Wir befanden uns nun in einem Teil des Lagers, den ich noch nie gesehen hatte. Vor einer kleinen Lehmhütte blieb Tahnee stehen.
„Keanu!“
Es polterte laut, dann erschien ein sehr alter Mann im Türrahmen.
„Tahnee!“ Er schien erfreut „Was führt dich denn zu mir?“
Tahnee schubste mich ein wenig nach vorne „Schau sie an“
Er nickte, als wüsste er sofort was los war „Ja, das ist in der Tat sehr selten. Selten, aber nicht unmöglich, es ist schon einige Male vorgekommen, ich war auch ein solcher Fall.“
„Dürfte ich mal erfahren was hier genau los ist?“ brauste ich auf. Ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten. Ich kam mir vor wie ein Mastschwein, das doppelt so fett ist, wie im Normalfall. Welch Sensation!
„Nur mit der Ruhe, kommt erst mal rein, dann kann ich dir alles erklären.“
Er geleitete uns hinein in seine Hütte. Dort setzte er sich an einen einfachen Holztisch.
Ich ließ mich ihm gegenüber nieder.
„Also Jaliyah“ ich fragte ihn nicht woher er meinen Namen kannte „Was den meisten Schülern und auch bereits vollständigen Mitgliedern hier verschwiegen wird, ist, eine Information und Gabe, die nur wenige erlernen dürfen. Du bist eine von ihnen“
Er drückte mir einen Spiegel in die Hand – ich hatte keine Ahnung wo er ihn so plötzlich her hatte.
„Sieh hinein“
Mir grauste vor dem was ich dort erblicken sollte, doch ich gehorchte ihm.
Auf den ersten Blick sah ich nichts, doch dann schaute ich mir selbst in die Augen. Sie waren grün.
hellgrün. Neongrüne Lampen. Wie Drachenaugen.
Ich war als Drache ausgewählt worden?
„Du wurdest von den Drachen erwählt.“ Eine Feststellung, keine Frage. Trotzdem nickte ich.
„Was war das für ein Drache, ich meine, die Farbe, hast du dir die Farbe gemerkt?“
War Keanu auch von den Drachen gewählt? Auch er hatte knallgrüne Augen.
„Er war“ meine Gedanken waren so verwirbelt, dass ich einen Moment überlegen musste „Rot. Dunkelrot“
Keanu schien überrascht.
„Nun, du scheinst mir wirklich ein besonderer Mensch zu sein. Auch das ist sehr selten.“
Was war selten?! Verdammt noch mal, konnte mir nicht mal endlich jemand alles erklären.
„Jaliyah, unser Volk hütet seit mehreren Jahrhunderten, nein Jahrtausenden, eine wertvolle Kunst, die nur die vertrauenswürdigsten Personen erlernen dürfen. Wir haben seit langer Zeit einen Pakt mit den Drachen. Deshalb werden die Würdigen von ihnen ausgewählt, wir besitzen nicht die Kräfte und die Weisheit, um solche Entscheidungen zu treffen.“
Welche Information? Wie man fliegen lernt und Feuer speit? „Und ich wurde erwählt? Erwählt für was?“
„Für die Kraft die vier Elemente zu kontrollieren, zu beherrschen“
Solange die vier hält…
Also doch kein Drache. Ich war erleichtert. Aber, die Elemente, Feuer, Wasser, Luft und Erde, das war… Das war eine riesige Macht und eine unendliche Verantwortung aber es war auch, nun ja, es war einfach, ich fand kein besseres Wort dafür es war…
„cool“ sagte ich leise
Keanu lachte auf „ob du es glaubst oder nicht, aber mein letzter Schüler hat genau das Gleiche gesagt, als ich es ihm erzählt habe.
Ich grinste ein bisschen schief, abwesend.
Da fiel mir noch etwas ein „Aber, was ist denn nun so besonders an mir?“
„Normalerweise wird etwa alle zehn Jahre ein neuer Lehrling erwählt. Das Besondere an dir ist, dass die letzte Wahl erst ein halbes Jahr zurückliegt“
„oh“ sagte ich „und der Drache? Der rote Drache?“
„Ja, das ist etwas noch viel Ungewöhnlicheres, aber dafür muss ich etwas weiter ausholen. Also, es war schon immer so, dass jeder, der die Elemente beherrschen konnte, eine besonders starke Verbindung zu einem bestimmten Element hatte. Die Drachen spürten das und je nachdem, welches Element es war, haben sie einen anderen Drachen vorgeschickt. Blau für das Wasser, Grün für die Erde, Rot für das Feuer und Silbern für die Luft. Dein Drache war rot.“
Ich nickte kurz, obwohl es keine Frage war.
„Das Merkwürdige ist, der Letzte, mit einer besonders starken Verbindung zum Feuer, ist vor bereits über hundert Jahren verstorben.“
Abermals „oh“
„Das ist etwas Besonderes, Jaliyah“
Als ob ich mir das nicht denken könnte. Was für ein… darf ich fragen, welches Element dir am nächsten ist?“
„Das darfst du. Mein Element ist die Luft.“ Er lächelte.
Ich fragte ihn nicht, warum dann ausgerechnet er in einer Lehmhütte auf der Erde wohnte.
Einen Moment herrschte Stille, dann meldete sich Tahnee wieder zu Wort, ich hatte inzwischen beinahe vergessen, dass sie auch da war. „Jaliyah, du wirst nun, anstelle von beispielsweise Heilkunde, in diesem Bereich ausgebildet, du wirst eine Weise unseres Stammes werden.“
Eine Weise, wow, das klang ja fast so, als wäre ich hundert.
„okay“ das war alles, was mir dazu einfiel.
„Gut, eigentlich habe ich nun nichts mehr zu sagen, außer, Jaliyah, du hast noch eine Frage“
„Nein“ ich schüttelte den Kopf.
„Na dann, morgen sollen die anderen alle ihren Bereich wählen, übermorgen erwarte ich dich zum Sonnenaufgang hier. Und Jaliyah?“
Ich sah ihn fragend an?
„Du darfst niemandem, wirklich niemandem von diesem Geheimnis erzählen, es sei denn, du vertraust ihm vollkommen. Denn die Profectus ahnen schon seit langer Zeit, dass wir etwas vor ihnen verbergen und wenn sie herausfänden, welches Geheimnis wir hüten, wäre die Hölle los. In Ordnung?“
„In Ordnung“ Ich lächelte schwach. Da konnte ich mich ja schon auf die Fragen von Jakob und Wim freuen. Obwohl, ich konnte ihnen auch einfach sagen, ich sollte eine Weise des Stammes werden, perfekt.
„Gut, du kannst nun gehen, aber vergiss nicht! Übermorgen, Sonnenaufgang!“
Freundlich nickend, dass ich verstanden hatte, ging ich hinaus.


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Tag der Veröffentlichung: 24.08.2012

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