Vorspiel
Ebby zeigt mir die Worte die sie auf die Innenseite der Brücke gesprayt hat- Letzte Nacht, als alle schliefen. So ist es immer. Wir, die Sprayer, sind zu feige bei Tag zu sprayen aber bei Nacht bekommen wir sozusagen eine große Klappe.
Ich gebe es ja zu. So sind wir alle. Alle beeinhaltet Ebby, Stanley, Keith, Jerome, Alan, Sydney, Helena und mich... Friday.
"Schau doch mal!", schnauzt Ebby mich an und nimmt mein Kinn, dreht meinen Kopf. Sie drückt so fest zu, dass es schmerzt. Ich sage keinen Ton. Reden kann den Sprayer in seinen Tod stürzen.
Ebby hat mit rot-orangener Farbe >>Hardcore-Zicken<< an die Wand gekleistert. Stanley, übrigens Ebbys Freund, nennt uns Sprayer anders. Es fing damit an, dass er vor drei Monaten (als wir am offenen Feuer am Sportplatz saßen) Ebby in den Arm nahm und sie sanft wiegte. In der einen Hand lag eine Zigarette und die Bierflasche schien ihm an die Lippen geklebt zu sein. "Wir", sagte er, als er die Glasflasche absetzte. "Sind Künstler. Künstler im Umgang mit Pinseln. Nur sind unsere Pinsel cooler als die Holzteile. Unsere sind ein Upgrade!"
Ebbys Kunstwerk ist nicht besonders Ausschlaggebend- aber ich lächle trotzdem und reibe meine Faust gegen die Farbe. Sie ist noch feucht.
"Wann?", frage ich verwirrt.
"Heute Morgen. Und heute Abend. Unser Treffen. Schon vergessen? Frie, Stanle hat es doch gesagt!"
Ich stöhne. Ja, ich habe es vergessen, aber ich habe auch eine kräftige Verteidigung.
"Sorry", meine ich, "aber durch die Wodkaflasche an seinem Mund hab ich das wahrscheinlich nicht gecheckt."
Ich sehe wie Ebby kocht.
"Stanley ist perfekt wie er ist! Außerdem trinkst du ja wohl das Meiste von uns! Und nur so hartes Zeug. Was ist mit Alans dreizehn Joints am Tag?! Ganz ehrlich, Frie, du hast doch einen Totalschaden."
Plötzlich kippen wir Beide ein Stück in Richtung Fahrbahn. Die Straßen sind tagsüber nicht unbefahren, so ziemlich alle Arbeitswege für die Jobs in der Innenstadt führen unter diesem Tunnel durch.
Ebby packt meinen Oberarm als ihr Ellebogen an den Rückspiegel eines BMW's prallt. Ich schreie. Sie schreit. Der BMW fahrer lacht. Wir hören es durch die runtergekurbelten Fensterscheiben.
"DU FUCK HURENSOHN!", schreit meine Freundin ihm nach. Ihr Echo hallt durch den Tunnel und Ebby erreicht das Kapitel ihres Zorns, dass ansonsten nur Abends in ihrer Volltrunkenheit zu erreichen ist.
"Beruhig dich, Dude", sage ich ihr und ziehe sie am Bürgersteig hoch.
"Beruhig du dich, Frie!", schnappt Ebby und tritt gegen die Steinwand auf die sie ihr Kunstwerk gesprayt hat. "Ich brauch meinen Stoff"
'ich brauch meinen Stoff' oder überhaupt das Wort Stoff in einem von Ebbys Sätzen ist das Stichwort für einen Fußmarsch (oder eine Motorradfahrt mit Stanley) zu Ebbys Stoffschieber.
Stoffschieber nennen wir unsere Hauptzufuhren ... unseren Drogendealern des Vertrauens.
Sie packt mich wieder am Oberarm und wir laufen zu der Bushaltestelle die nur wenige hundert meter von uns entfernt ist.
Ebby zaubert ein BlackBerry aus der Tasche ihres schwarzen Kapuzenpullis und drückt auf die Kurzwahl. Natürlich ist Stanley die Nummer eins. In vielerlei Hinsichten ist er das. Als Pizzabote bei Oscar's, wenn es darum geht wer in drei Minuten die meisten Bier intus hat und eben als Motorradservice für schwache Nerven.
"Stannie Baby. Wo bist du?" Sie zuckt im Sprechen nervös mit den Augenbrauen. Die Sehnsucht jemanden zu haben den ich "Baby" nennen konnte durchfährt mich wie ein Stromschlag. Andererseits. Will ich wirklich ein notgeiles 0815-Flittchen an der Seite eines Drogensüchtigen sein? Ein Blick auf Ebby und ich weiß: Ja, das will ich! "Das ist gut. Kannst du mich und Frie abholen? Bushaltestelle an der Ecke vierundfünfzigsten. Ja.... wirklich? Du bist der allerbeste, Stannie. Natürlich. Immer!" In Ebby tobt ein Wirbelwind aus Drogensucht, Verführung und Lust.
Wenn ich ehrlich bin ist Stanley, Stannie, einfach nur ein trinkender Perversling. Er ist nicht einmal besser als ein einziger protziger BMW Fahrer auf dieser Welt. Jeden Abend, erzählte mir Big-E einmal, wollte er sie nehmen und war anscheinend schon an der Türschwelle geil.
Aber so ein Flittchen war Aggro-E nun auch nicht.
Ebby beendet das Gespräch mit einem verführerischen "Ich dich auch" und ich bin mir ziemlich sicher dass Stanley nicht gesagt hatte: Am Liebsten würde ich dich an die Wand sprayen!, so wie er es zu jedem Jungen unserer Crew sagte. "Allesamt Amateure", meint Stanley nach einem Treffen der 'Anonymen Sprayer' immer.
Keine fünf Minuten später kommt Stanleys Harley schlitternd auf dem brennenden Asphalt zum stehen.
"Das macht drei Pfund die Damen. Wegen euch verpasse ich den evangelischen Gottesdienst!", meint er lächelnd. Ich zwinkere und schlage ihm so fest ich kann gegen die Schulter. Ebby jedoch lacht noch über den Witz ihres Freundes.
Ich steige eingequetscht hinter Ebby auf den viel zu kleinen Sitz und presse meine Hände um ihre Taille, als Stanley sagt: "Kein trinkgeld?!"
Auf der Harley brausen wir zu dem unscheinbaren Backsteinhäuschen am Ende der Gasse.
Ein Dealer muss immer eine gute Deckung haben. Ich spüre schon bevor wir anhalten Ebbys zitternden Körper unter meinen Händen. Sie braucht das Zeug wirklich dringend.
Stanley hilft ihr beim Absteigen und ich hieve mich neben hier von dem hohen Ledersitz.
Ebby strauchelt zu der Haustür des Mannes und drückt auf die Klingel mit dem Schild: Firmer-Button
Ein junger Typ, ungefähr 19, schiebt sein Gesicht zwischen Tür und Hauswand und fragt: "Der Drogenlieferservice. Was kann ich für sie tun?" und reißt die Augen auf als er mich sieht.
Ich bin sprachlos. Ebby zittert unkontrolliert. Nur Stanley meint entrüstet: "Alter, wenn du den Spruch aus Gewohnheit jedem beim Türöffnen ins Gesicht sagst bist du bald weg vom Fenster!"
Mir reißt bald der Boden unter den Füßen und verschluckt mich.
"Frie?!", lacht der Typ. Nicht der Typ. Mein Ex-Typ. Der Ex-Typ fügt hinzu: "Schon wieder auf dem Marihuana-Trip?"
Ebby stiert mich an und ich antworte: "Nein, aber ein Cannabis für meine Freundin" Ich deute mit dem Finger auf das bleiche Mädchen an meiner Seite und er Ex-Typ nickt langsam.
"Hab nurnoch wenig auf Lager. Cannabis ist die stärkste Droge, Mädel. Ganz sicher dass die das durchhält?"
"Hör mal, Clue", meine ich bissig. "Sie lebt von Canna, als rück endlich das Zeug raus ich weiß dass da 'ne Menge ist, Mann!"
Clues... Ex-Typ's Gesicht verschwindet und eine Hand und ein unrasierter Unterarm kommen zum Vorschein. Als ich noch mit Clue gearbeitet habe, hatte er sich noch regelmäßig rasiert. "Danke, Clue. Zeiten ändern dich." Ich nehme die Tüte in Clues Hand und reiche sie Ebby.
Die nickt dankbar und wir verschwinden von diesem Scheißort. Endlich.
Am Abend sitzen wir (Ebby, Stanley, Keith, Jerome, Alan, Sydney, Helena und ich... Friday) auf dem Kunstrasen des alten Sportplatzes. Wir sehen glücklich aus.
Ebby hat Stanley, Sydney ihren Keith und Helena und ich lächeln unser verschwörerisches Single-Lächeln und kippen ein Bier nach dem Anderen auf Ex. Auch Jerome wirkt zufrieden. Er diskutiert mit Alan über vergangene Freundinnen.
Ich erinnere mich daran wie ich früher (pinker Haarreif, hollywoodreifes Zahnpastalächeln- Erklärt alles) immer gewollt hatte, dass ich einen Jungen nie wie eine Throphäe sehen würde und auch andersherum nicht als Solche gesehen werden wollte. Jerome bricht meinen kindlichen Eifer.
"Was ist mit Frie?", fragt er. "Wie viele Punkte gibt die? Von 0 bis 100, Alan."
Ich versteife mich in meinem Lotussitz und Helena drückt meine Hand. Ich mag Helena. Sie ist wie meine kleine Schwester Louise im Großformat.
"Friday... 99", lacht Alan und zwinkert mir zu. Ich drehe mich weg und unterdrücke den Drang ihm meine noch nicht leer getrunkene Bierflasche an den Kopf zu werfen. Süße Träume, Alan.
Ich höre den Jungs nun nicht mehr zu und richte meine Aufmerksamkeit auf die pulsierende Wärme in meinen Wangen. Es ist schön zu vergessen und nur das Blut rauschen zu hören und Helenas Hand zu fühlen. Sie lässt nicht los, das ist angenehm. Ich nehme nur wahr wie Jerome noch meint: "Warte... du hattest doch Allysa und der hast du nur 88 Punkte gegeben. Alter, was hast du gegen blonde, schlanke Modells mit langen Beinen und solchen Dingern?!"
Wieder fällt mir auf, dass Keith und Clue die einzigen Jungen in meiner Umgebung sind, die nicht rund um die Uhr sexistische Roboter sein müssen.
"Ebby", wispert Stanley ohne zu merken dass er nicht bei Ebby Zuhause im Schlafzimmer liegt sondern auf dem dreckigen Staub und Schweiß unserer Fußballmannschaft. "Heute Abend malen wir ein Bild. Wir zwei. Aus unserer Fantasie heraus. Uns jeder soll es sehen. Der zehn Uhr Zug ist unserer, Ebby. Ich versprech's dir."
Ebby ist wohl das glücklichste Mädchen der Welt, denn sie glüht vor Aufregung. Ebby liebt Herausforderungen und mit Stanley auf Tour zu gehen (Mit Stanley- unserem besten Sprayer, abgesehen von mir!) ist beinahe schon ein Hauptgewinn.
Ich weiß schon, dass ich den Beiden folgen werde, falls Ebby etwas passieren sollte.
Sie kam als letzte in unsere kleine Crew, damals in dem Bären-Schlafanzug und den Worten: "Momme hat gesagt ich soll die Katzen verscheuchen gehen weil sie so laut miauen. Ihr seid keine Katzen!" Ebby war damals tatsächlich noch süße zwölf. Zwölf, als ich fünfzehn und mit Jerome zusammen war. Ich genoss meinen Titel als beste Sprayerin, war sozusagen in der Reifezeit in der meine Knospe aufspross wie ein Ballon. Seit jeher verspürten wir alle irgendwie das Gefühl Ebby schützen zu müssen, obwohl sie nun fünfzehn war und ich achtzehn.
Eine Weile sitzen Sydney und Keith noch fest umklammert da, dann beschließt Syd zu gehen.
"Bis Morgen Leute." Sie salutiert und wir Anderen verfallen wieder in unsere Wallung der Langeweile. Keith setzt sich neben mich, so dass ich nun die goldene Mitte bin.
"Nimm dir nicht so zu Herzen was die Idioten da sagen.", rät er mir und legt seine Hand auf meine Schulter. Ich fange an zu brennen und drohe auseinander zu reißen vor Sehnsucht. Meine Mom hat mich nie geküsst. Nicht einmal auf die Stirn. Es ist vollkommen ungewohnt so etwas zu fühlen und immer wieder habe ich die Ahnung, dass ich gleich kollabiere. "Syd machen sie genauso fertig, auch wenn die nur 72 Punkte bekommen hat. Aber hey, du bist ja auch Goldwert."
Keith legt den Kopf schief und drückt mir einen weichen Kuss auf die Stirn. Dabei berühren seine Lippen meine Haut kaum. Am liebsten will ich Keith festhalten und ihm sagen, dass es mir nichts ausmacht, dass er Sydney liebt. Ich würde damit klar kommen!
Keith aber geht gekonnt von dem Schneidersitz aus in die Hocke und steht nun aufrecht.
"Schönen Abend noch die Damen!", ruft er. Normalerweise habe ich nun Angst, dass er mit dieser Lautstärke womöglich die Nachbarn weckt, aber das Wodka hat mein Gehirn schon so zermatert, dass ich diese Angst ausblende.
Ich werfe einen Blick auf Helena. Sie lächelt mir zu, so dass mein Herz wärmer wird als meine vom Alkohol vibrierenden Wangen. "Du solltest nicht so viel trinken", sagt sie. Helena hat Recht, ich bin ein hoffnungsloser Rauschtrinker. "Das ist schon dein Zwölftes!"
Auch Helena ist noch relativ jung, dabei war sie von Anfang an dabei, als die anonymen Sprayer noch zu fünft waren. Brent, Jerome, Stanley,Keith und sie. Ich kam erst zwei Jahre später dazu- obwohl ich und Keith die ältesten sind- und auch nur, weil ich zu der Zeit mit Jerome zusammen war. (Keine Ahnung was mich geritten hatte) Ich entdeckte jedoch schnell mein Talent und gelte nun als vollwertiges Mitglied.
"Außerdem", fährt Big-E mich an (Ich wundere mich. Wenn Ebby mit Stanley unterwegs ist, ist sie normalerweise im absoluten Stand-By -Modus) "stehen Jungs nicht auf vollgesoffene Weiber!" Sie kichert und trinkt noch einen Schluck, während Stanley sie an sich drückt. Ich fühle noch den warmen Abdruck Keith' Lippen an der Stelle über den Nasenflügeln und zwischen den Augen. Ebby schreit: "CHEERS!"
Und dann sagt Alan das Dümmste, was er hätte sagen können... "Also ich finde Frie besoffen sexy!" und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Das bemerke ich nur halb, da Helena wie eine Verrückte gluckst. "Nicht, das du nicht auch nüchtern sexy bist, Frie, aber du weißt ja, als du das letzte Mal betrunken warst bist du mir gefolgt und ich hatte zufällig..."
"Uns ist allen klar was passiert ist!", motzt Helena nun. Das zweite Mal an diesem Tag bin ich wie vor den Kopf gestoßen. Helena ist NIE so laut. Sie ist die stille Schönheit unter uns. Nicht unbedingt sexy, aber bildschön. Sie steht mit einer Wuchtigkeit auf, die mich zurückfallen lässt, da ich in ihrem Griff lag. "Cheers, Ebby, wirklich. Cheers", schnauzt sie in Richtung Fummel-Abteil. Ihr Schrei ist mehr ein Schluchzen und plötzlich frage ich mich, warum ich nüchtern so viel blinder bin als betrunken.
Texte: (c) Mareike Dlugosch
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Schwester, die meine Schwester ist und ich liebe meine Schwester.