Kerzen aus Holz und Flammen aus Rauch
"Blas sie schon aus!", schreit Marlene und wirbelt mit den Händen wie mit einer Fahne.
Crispin nimmt kräftig Luft und pustet die ersten Beiden Kerzen aus. Es stecken keine Vierzehn in dem Schokoladenkuchen, aber vier sind ein Anfang. Mom steht noch an der Küchenzeile, strahlt, aber er will keine verständnisvolle Mutter! Er will eine, die ihn tadelt und ihn in die Schranken weißt. Wie soll er denn sonst erwachsen werden?!
Crispin löscht auch die hinteren Beiden leuchtenden Kerzen und schiebt die Torte willig seiner Schwester hin. Marlene schneidet sich ein Stück ab und nickt ihm zu. Bei ihr heißt das so viel wie "Ich vergöttere dich".
Noch während sie essen klingelt es an der Tür. Alle stöhnen genervt auf. Nicht an Crispins Geburtstag- Nicht heute! Nach ein paar rebellierenden Blicken von Marlene und ein paar flehenden von dem Geburtstagskind geht die Frau im Hause an die Tür. Ein Mädchen steht davor; schick gekleidet wie an einer Hochzeit. Ihr Kleid ist weiß und berüscht und die Strumpfhose grau und glänzend. Linny strahlt, obwohl sie traurig ist und ist traurig, obwohl heute ein schöner Tag sein sollte. Eine Menge mieser Tage sollten eigentlich schöne sein!, denkt sie sich und gibt Crispins Mutter die Hand. "Ist er da? Ich möchte ihm nur ungestört Glück wünschen.."
Die Mutter ruft Crispin aus dem Esszimmer, lässt die Beiden allein und Linny seufzt.
"Weißt du wie anstrengend es ist zu lachen, wenn dein Körper sich dagegen sträubt?", fragt sie wiederwillig. Der Junge schüttelt den Kopf. Natürlich nicht! An seinem Geburtstag will er an garnichts Schlechtes denken!
"Warum bist du hier?", fragt er stattdessen und nimmt ihre Hand. Ihre Hand ist warm und weich. Sie fühlt sich nach Linny an und er spürt wie sehr er sich an dieses Gefühl gewöhnt hat in den letzten drei Jahren.
"Crispin",sagt Linny und schaut mich an wie ein kleines Kind. Sie weint nicht, hat auch keinen Grund dafür. Linny weint nie. Das mag Crispin an ihr. Dann holt sie Luft- atmet wieder aus und lässt seine Hand fallen. "Herzlichen Glückwunsch!"
Crispin ist sich nicht sicher, wer von ihnen Beiden glücklicher ist, er sieht nur das strahlende Gesicht seiner Freundin und malt sich aus, wie er dann aussehen muss. "Aber dafür bist du doch nicht so schick angezogen?", sinniert er.
"Stimmt", gibt sie zu und wirft einen Blick, der weit hinter ihm ist. Das kleine Kind, zu dem sie auf Kürze mutiert ist, scheint nun furchtbar erwachsen in dem Kleid aus feinen Stoffen, der Hochsteckfrisur und den schweren Ketten um den Hals. Wäre es ihre erste Begegnung, hätte er Linny sicher für ein Hirngespinst gehalten, oder unter die Kategorie Märchenfiguren gestempelt. "Mariza hat vor zu heiraten. In Thailand. Cris, sie wollen in Thailand heiraten!"
Crispin versteht nicht ganz, was sie ihm zu sagen versucht. Für ihn ist der Tag immer noch der Schönste, besonders jetzt, wenn die Nacht hereinbricht und Linny ihn so ansieht, als wolle sie ihn nie mehr gehen lassen, grundlos.
"Cris",sagt Linny wieder. "Wir werden eine ganze Weile in Thailand bleiben, verstehst du? Mom liebt Thailand und für Michael würde sie alles tun. Ich will aber nicht, dass wir in Kontakt bleiben. Es wäre nicht das Ganze! Ich brauche dich um mich, Cris, und nicht nur ein fahles Stück Papier, dass mir nicht hilft Lücken zu füllen!"
Marlene steht wieder im Flur, ist wie ein unerwünschter Gast und Crispin hätte sie am Liebsten raus geworfen, würde sie nicht hier wohnen. Ihre braunen Haare sind ungekämmt, sogar so sieht sie wunderschön aus- wie große Schwestern nun Mal aussehen sollen.
"Daddy hat angerufen", sagt sie nur und legt den Hörer auf die Holzkommode neben ihnen, verlässt den Raum. Normalerweise hätte Crispin sich jetzt gefreut, denn Dad hatte zwischen seinen vielen Jobs nie besonders viel Zeit, aber seine Laune hat eine Stufe erreicht, an der es nur noch abwärts geht.
Er nimmt das Telefon und legt auf, lässt die Glückwünsche die noch ertönen wie vom Wind getragene Worte verklingen. Tschüss.
"Was ist", sagt er an Linny gewandt. "Was ist mit der Liste? Sachen, die wir zusammen tun wollen? Es kann doch nicht sein, dass ich mich mit über zwanzig Jahren noch bei dieser Realityshow "Vermisst" melden muss, nur, weil ich dich nicht finden kann? Wo soll dass denn hin führen?"
Unbehaglich starrt sie auf den Boden und auf ihre nagelneuen weißen Schuhe. Was nützen sie ihr nun?
Ist sie glücklich damit?
"Ich weiß nicht. Wir waren eben bei der Anprobe... deswegen das Kleid und so. Aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich immer für die Hochzeit entscheiden" Sie sieht Crispin in die Augen- versucht kramphaft seinen Blick fest zu halten, denn er schwebt über den Wolken und sie will ihn unbedingt erreichen. "Ich möchte dass Mom glücklich ist. Ich habe sie lange nicht mehr lächeln gesehen, außer bei Michael. Und er ist wirklich nett! Ich gönne ihr das!"
Er wird sauer. "Und was ist mit deinem Glück?!" Nun schreit er fast und es ist ihm egal. Die ganze Welt soll hören, wie schwer ihm Linny auf dem Herzen liegt!
Linny zuckt mit den Schultern. "Das muss eben warten." Und dann: "Hör zu!"
Sie packt ihn am Kragen seines neuen Hemdes; es ist gebügelt und gewaschen und extra für diesen tag gekauft worden, nun dient es als Beweisstück für Linnys Verschwinden. Crispin wird es wohl wegschmeißen, da ist er sich sicher. "Wir sehen uns wieder. Irgendwann! Man... sieht sich immer zwei Mal im Leben. Oder so. Ich versuche vor der Abreise nochmal zu kommen... bitte fahrt nicht weg, ja?"
Wie Blitze durchzucken sie verschiedene Gedanken; Ab und zu spüren sie, dass sie das Selbe denken, und dann trauen sie sich nicht, an Abschied oder Tränen zu denken.
Danach rauft Linny ihr Kleid und starrt auf die polierten Schuhe, die sie jetzt sehen kann. Ein feiner roter Rand schnürt sich an ihrem Bein hoch.
"Linny", sagt Crispin mit plötzlicher Heftigkeit in der Stimme, als fällt er gleich durch ihre Haustüre. "Linny, was ist das?" Sie fasst sich an das rote Etwas, wischt es ab und rauscht durch den Flur.
"Du solltest deinen Vater zurückrufen. Du weißt, er ist nicht oft da. Ich sage mal eben Marlene und deiner Mom Auf Wiedersehen"
Linny dreht sich nicht mehr um, obwohl sie genau weiß, dass er sieht wie steif sie geht, dass er sieht, wie das Blut von ihren Bein abperlt, jetzt, wo die Wunde wieder offen ist. Die ersten Regentropfen perlen von geplatzten Wolken, dabei ist es noch früh am Mittag. Und obwohl die Sonne scheint und es gleichzeitig regnet, taucht kein Regenbogen auf. Crispin hört Alicia weinen und eine Tür zuschlagen. Marlene donnert nach oben.
Bevor Linny gehen kann, umarmt Crispin sie noch einmal.
"Ich komme wieder. Ein letztes Mal. Vielleicht auch nicht", sagt sie ohne eine Spur von Tränen in den sandigen Matschaugen.
"Versprich mir, dass du nochmal singst. Sing für mich, Linny", mehr kann Crispin nicht antworten.
Sie fragt nicht, welches Lied er hören will, denn sie Beide wissen, wenn sie nach vorne blicken: Es gibt nur ein Lied, das jemals richtig war.
Der Minutenzeiger rutscht träge vorwärts. Crispin verflucht ihn. Nur wegen der Zeit muss Linny gehen, nur wegen ihr muss Linnys Mutter heiraten. Er will nicht einsehen, dass sie es auch tuen, weil sie dann glücklich sind: Ms Carol, weil sie den Mann ihrer Träume hat und Linny, weil sie nicht mehr an den Jungen gebunden ist, ohne den es ihr besser geht.
Unbeholfen sucht sie in Crispins Augen nach Wahrheit- wird fündig. Sie sieht einen jungen Burschen, der noch nicht die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht hat, einen Anker ausgeworfen hat und trotz diesem seine ganze Familie verloren hat.
Mutter kommt in den Flur und ruft Crispin. Das Kind soll seinen eigenen Geburtstag nicht verpassen!
Iss viel, mein Junge, hab einen schönen Geburtstag und morgen wenn du aufwachst ist die Welt in Ordnung und du spielst draußen auf der Straße Ballfang mit Linny. Alles ist in Ordnung.
So verabschiedet er sich von ihr. "Ich singe nochmal mit dir!", ruft sie in die Küche, kurz bevor die Haustür zu geht, und nur weil sie die Zweifel in Crispins Augen gelesen hat. Würde sie, würde sie nicht?
"Nimm es ihr nicht übel", sagt Mama am Tisch und kaut auf dem Kuchen herum. Es ist ihre Lieblingssorte- ich will ihr nicht sagen, dass ich es unfair finde dass sie glücklich sein darf. Das will doch keine Mutter hören! Das sie glücklicher ist als das Geburtstagskind.
Crispin weiß, worüber sie redet. Nicht von Marlene.
"Wo ist sie?", fragt er darum. Erst in Mutter sichtlich verwirrt, aber dann merkt sie, dass er wissen will wo seine Schwester steckt. Noch nie hat er sich so für Marlene interessiert, aber Crispin hat das Gefühl dass sie trauriger als er ist. Darüber, dass Linny gehen muss. Und dass Lene mehr Liebe braucht als er selbst.
"Sie ist in ihrem Zimmer. Als Vater angerufen hat war sie völlig fertig- wer nicht? Und dieser..."
Mamas Wangen sind rot als sie merkt, dass ihre Worte nicht für einen Vierzehnjährigen bestimmt sind, sondern für einen achtundvierzigjährigen, alten Mann.
Also rennt Crispin die Treppe hoch und geht in Lenes Zimmer. Sie schließt nie ab, weil sie den Schlüssel als Kind verloren hat.
Crispin setzt sich neben sie, wiegt sie, hält sie fest. Und sie weint, weint, weint, vergisst einen Moment das sie sich ja hassen- abgrundtief- und lässt sich in Crispins Arme fallen.
"Du bist nicht wegen Linny traurig.", stellt er fest. Mit verheulten Augen schaut sie ihn an. Fade ist ihr Gesichtsausdruck und ihm wird klar dass der Anruf sehr schwer war.
"Er hat dich angerufen. An deinem Geburtstag. Er ruft dich jedes Jahr an! Mich wollte er nicht einmal sprechen. Nicht einmal ruft er an meinem Geburtstag an! Ich bin ihm scheiß egal! Vielleicht weiß er nicht einmal wann ich Geburtstag habe! Aber du bist sein Engel! Klar, du bist Crispin! Du müsstest die Nachbarn hören! Crispin, der nette Junge von Nebenan... Crispin, der mir geholfen hat die Tasche hinauszutragen... Crispin, der sich mit seiner Schwester rumschlagen muss und doch so tapfer ist!"
Wieder weint sie. Crispin wird klar was für einen Mist er gebaut hat. Er dachte... sie ist doch die ältere! Für sie müsste alles einfach sein! Daher nimmt sie doch den Mut ihn Tag für Tag zu schikanieren!
"Das ist nicht nur meine Schuld", sagt er leise. "Wenn du ein Bisschen über dich selbst nachdenken würdest, wäre es anders! Du hoffst, dass dir eines Tages alle sin den Schoß fällt! Das Paps dich anruft! Aber du hast es doch nie umgekehrt versucht. Wolltest du ihn jemals anrufen? Wolltest du jemals Miss Travelot von Nebenan helfen die Tasche herauszutragen? Wolltest du jemals mit jemanden über mich gut reden? Mich loben?"
Und obwohl Crispin verdammt sauer auf Lene ist, legt er den Kopf an ihre Schulter, der gut dahin passt, weil sie einen Kopf größer als er ist. Und die Welt ist in Ordnung.
Das große Glück und die wohl erste Entdeckung
Heute weiß Crispin es. Es gibt eine geheime Regel über die ihn Niemand aufgeklärt hat:
Jedesmal wenn ein Kind Tränen weint stirbt ein Menschenherz. Diesmal ist er vom Herzens-Bruch befallen. Anscheinend hat die Vorschrift "Das Geburtstagskind ist der große Star" schon lange keine Macht mehr.
Was hat schon Macht?
Viellecht Marlene die in ihrem Zimmer hockt und der Welt den Rücken zukehrt? Oder Papa der in Istanbul fremde Frauen umgarnt? Kleine Dinge die dein Leben wie eine Dampflok ankurbeln.
Crispins Hände kribbeln als wären sie an einem Wintertag zugefroren und nun dabei langsam wieder aufzutauen. Während er Kleid für Kleid in Linnys Koffer packt sucht sie ihre Notenblätter heraus. Eigentlich will der Junge ihr sagen dass ein Lied viel liebenswürdiger ist, wenn es von Herzen kommt und nicht von einem Stück Papier, aber dann fällt ihm ein dass er sie ja vielleicht nie wieder sieht. Jetzt will er keinen Streit.
"Du, Linny?" Crispin stupst sie an. "Welches Lied singst du?"
Sie macht ein Gesicht wie sieben Tage Regen.
Sie macht ein Gesicht wie sieben Tage Regen.
"Das weißt du doch. Das Lied das wir immer singen. An Weihnachten... das weißt du doch!"
Crispin erinnert sich. Linny hebt ein Blatt aus dem Stapel, betrachtet es missmutig und lässt eswieder fallen. Jetzt singt sie es auswendig, denkt Crispin, jetzt wird sie merken wie schön der Tag ist und wie schrecklich der Gedanke an Trennung.
Linn setzt sich neben ihn auf den Bettrand. Weiche, weiße Decken liegen darauf und Daunenkissen mit Spitze. Das ganze Zimmer sieht aus wie aus Glas.
"Puff, the magic dragon lived by the sea", beginnt das Mädchen mit den blutenden Schlingen an den Fußgelenken, welches wahrscheinlich das hübscheste in der Galaxie ist. Crispin setzt mit ein. Und zusammen singen sie das Lied aus der fernen Welt in der sie leben möchten und in der es kein Thailand gibt. "and frolicked in the autumn mist, in a land called Honah Lee.
Little Jackie Paper loved that rascal Puff. And bought him strings and sealing wax, and other fancy stuff"
Tränen laufen über Linnys Gesicht, glühend heiße, wie verregnete Straßen. Sind Straßen in Thailand auch verregnet? Sie bricht ab. Crispin fragt sich ob sie an den Sommer denkt. Der letzte Sommer zusammen. Die Sonne scheinend, die Kinder draußen wippend. Der Wind fegt über den heißen asphalt, tropische Temperaturen nehmen ihnen den Verstand. Linny und er lachen nur, während Linny auf dem Schaukelsitz durch die Luft schießt. Sie trägt kein Kleid wie die klischeehaften Mädchen in alten Filmen, sondern altertümlich einen Rock und eine geringelte Strumpfhose. Darüber trägt sie ein weißes Hemd mit hochwertigen Knöpfen. Sie ist schön. Crispin schaukelt sie höher, höher, bis ihr Kopf mit den Wolken verschwindet. Linnys Zöpfe fliegen durch die Luft und sie ist wieder das kleine Mädchen von früher.
"Oh, Puff the magic dragon", fängt sie noch einmal an, aber dann schafft sie es nicht mehr. Wieder nicht. Die Regenstraße endet auf dem Kissenbezug auf ihrem Bett.
Linny betrachtet sie verwirrt. Ihr Blick. Sie fragt sich woher diese Tränen kommen. Linny ist doch stark- Nie würde sie weinen!
"Crispin", sagt sie leise, so leise, dass er sich fragt ob sie mit ihm spricht oder doch wünscht, sein Name wäre eine Beschwörungsformel um in eine andere Welt zu gelangen. "Kein Wort. Zu Niemandem. In Thailand bin ich gut aufgehoben. Glaub mir. Ich kenne dort meine paar Leute. Mehr braucht ein Mensch nicht."
Crispin spürt dass ihr Blick sagt: Ein Mensch vielleicht nicht, aber eine Linny, eine Linny braucht dich!
Vielleicht wünscht er sich das auch nur. Er kann seine Gedanken nicht mehr von Linnys unterscheiden. Crispin weiß ja nicht einmal wo Thailand auf einer Landkarte liegt! Gebildet sind sie Beide nicht.
Manchmal ist Linny ein Wanderer ohne Kompass der nach Norden gehen will und nicht weiß wo Norden ist und manchmal ist sie ein kleines Kind ohne morgen und gestern dass tanzen möchte und einfach einen unsichtbaren Freund nimmt anstatt jemand wild fremdes zu fragen.
Linny holt einen weiteren Klamottenstapel aus dem Schrank und stellt ihn neben sich ab. Strümpfe folgen. Bis sie innehält.
"Was ist los?", fragt Crispin desinteressiert. Wirklich, sorgt sie sich darum, wie es ihm geht? Wird sie glücklich sein, in einem wundervollen, weißen Kleid stehend und Reis werfend, wie es in Thailand Brauch ist?
"Das", meint Linny nur, aber er erkennt nicht was mit 'Das' gemeint ist, da sie ihm immer noch den Rücken zu kehrt. Sowohl äußerlich als auch innerlich. Crispin kommt das Gefühl das er empfindet, wenn ihre Haut seine berührt nun so alt vor. Es ist, als würde er statt ihr eine weise alte Frau neben ihm stehen und ihn wortlos etwas über das Leben lehren. Das nicht alles, was von siebenjährigen Kindern in ein scheinbar nutzloses Buch mit Wachsmalkreide geschworen wurde, so viel wert ist wie es scheint. Wo ist es hin? Wo ist die Kraft in der Spitze der roten Farbe hin?
Linny dreht sich um. In ihren Händen hält sie eine kleine Schachtel. Linnys Schachtel. Crispins Schachtel. Ihre Schachtel. Er wusste nie wo sie ihre versteckt hatte, er fand lediglich seine in ihrem eigenen geheimen Versteck, welches nur er kennt. Linny klappt den Deckel auf und offenbart ihren Anteil ihres gemeinsamen Schatzes. Eine abgenutzte Schnur, gebraucht beim Bau ihres ersten Baumhauses. Ein Fotorahmen der selbst gemalte Erinnerungen wieder spiegelt. Linny, die ihre Hand um eine Blume gehalten hat. Die Blume ist keine spezielle Art. Eine normale Kinderblume, fünf Kreise die sich um einen kleinen Kreis in der Mitte schließen. So einfach war es damals.
"Das!", sagt Linny noch einmal. Diesmal ist sie jedoch nicht traurig sondern wütend.
"Ist! Alles! Deine! Schuld!", schreit sie nun, laut genug, dass ihre Mutter es hören kann. Linnys Zorn ist echt, das sieht Crispin wenn er sie anguckt. Sie funkelt ihn an. Sie hat Recht.
Ihre Gedanken sind völlig richtig. Wieso muss mir dieser Idiot immer einen Strich durch die Rechnung machen wenn ich doch nur versuche alles korrekt zu machen und alle glücklich? Er hat doch alles und muss nicht einmal um Liebe hungern!
Ja, was steht er hier, Crispin, dieser alte Idiot. Er geht auf Linny zu und atmet tief ein, den Duft, den er lieb gewonnen hat und der niemals mehr nach Familie sondern Verlust riechen wird. Crispin streichelt Linnys Arm, die feinen Härchen darauf die sich aufgestellt haben wie metallene Harken die ihn durchbohren wollen. "Gib mir die Kiste, Linny", sagt er sanft und sie löst ihre Hände von dem Deckel.
Crispin trägt sie nun und ist gerade an der Tür, als diese aufgeht und Mariza, Linnys Mutter, reinkommt.
"Was ist denn hier los?! Rosalinna Catherine Vellers! Ich sagte verabschieden und nicht dass ihr das Bett durchbrechen sollt! Ruhe jetzt! Und..." Sie dreht sich zu ihm um, während Linny knallrot anläuft. "Cris. Du gehst jetzt besser."
"Hatte ich sowieso vor", meint Crispin unschuldig, während Linny dazwischen fahren und erklären will, dass sie NUR Freunde sind.
Jeder Mensch hat Geheimnisse. Manche sind wirklich verhängnisvoll, andere wiederum einfache Mitläufer. Du schleppst sie mit dir rum und weißt nicht recht was du mit ihnen anstellen sollst. Reden kommt nicht in Frage, denn das wäre verhängnisvoll. Crispin durchwühlt die Kiste. Sie gehört nicht Linny, sondern einer Fremden. Wer ist das mit der Schleife im Haar und dem komischen Lächeln? Das überirdisch schöne Mädchen mit dem Lächeln wie ein sonniger Tag?
Crispin packt die Kiste weg. Marlene steht in seinem Türrahmen, angelehnt, und mit steinernem Blick. "Sie fehlt dir so sehr. Du gibst dir nicht einmal die Mühe das zu verdecken.",sagt sie nur und schüttelt den Kopf. "Und trotzdem hast du kleines Arschloch alles so leicht."
Am liebsten will er sie jetzt wieder in den Arm nehmen. Sie festhalten und ihr sagen, dass sie Recht hat, dass er ein Arschloch ist.
"Ja" Crispin setzt sich mit angewinkelten Knien auf den Fußboden seines Zimmers. Das Parkett ist an manchen Stellen leicht eingedrückt, da es billiges Material ist. und Linny früher mit ihren samtigen Ballettschuhen durch das Zimmer getanzt ist. Er sitzt nun in einer solchen Kuhle, die ihn weiter nach unten fallen lässt, als der Boden eigentlich erlaubt.
Texte: (c) Mareike Dlugosch
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Mom und meinen Dad und meine Schwester, gerade deshalb, weil wir uns nicht reimen!