Mein Atem bildete weiße Wölkchen in der eisigen Luft. Die blasse Wintersonne kämpfte sich durch die wenigen Wolken und warf ihren Schein auf die trostlose Umgebung.
Ich vergrub meine Hände tief in den Taschen meiner gefütterten Jacke und hoffte so dem kalten Wind zu entgehen, der sich zwischen den Gräbern hindurch schlängelte. Um mich zu wärmen trat ich auf der Stelle auf und ab. Den Blick hatte ich starr auf die Buchstaben gehäftet.
Ich klammerte mich an die Worte die in simpler Schrift auf den rauen Stein geschrieben waren. Der Stein der das Grab markierte in dem ich so viel verloren hatte. Der Frost hinterließ weiße Abdrücke auf dem grauen Grund und verriet so den nahenden Winter. Erneut fiel mein Blick auf die Wörter.
Die Namen die mir so viel bedeuteten und die Gesichter die nun unter der Erde lagen. Auf ewig der Kälte verfallen, in den grausigen Fängen des Todes. Das Grab war noch frisch, erst vor wenigen Tagen ausgehoben. Rohe braune Erde verdeckte dass was ich immer für selbstverständlich gehalten hatte.
Ich spürte das verräterische Brennen in meinen Augen als ich ihre Namen zum wiederholten Male las.
Samuel Hover
Caitlin Hover
Für immer in unseren Herzen und auf ewig geliebt.
Die Schrift war so neu, wie die Wunde die in meiner Seele klaffte. Ich ignorierte die stillen Tränen die sich den Weg über meine Wangen bahnten. Sie tropften zu Boden wo sie mit der Erde eins wurden. Würde ich jemals in der Lage sein an sie zu denken ohne gleich in Tränen auszubrechen? Schwer vorzustellen.
Ich holte meine rechte Hand aus der Tasche und wischte ärgerlich die salzigen Tropfen aus meinem Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung zog ich mir den Schal zurecht und strich mir eine Strähne meines braunen Haares hinter die Ohren. Mein Kopf wurde von Bildern durchzuckt die mich früher zum Lachen gebracht hatten, doch heute brachten sie mich nur zum weinen.
Erinnerungen. Erinnerungen waren alles was mir blieb. Ich konnte mich nur erinnern, bis die Erinnerungen irgendwann verblassten. Bis ich lernte damit zu leben und zu akzeptieren. Bis ich in den normalen Alltag zurückkehrte und einfach weiter machte. Der Tod führte mir etwas vor Augen.
Und zwar dass ich keine Angst davor hatte zu sterben.
Sondern davor vergessen zu werden.
Denn irgendwann geht der Schmerz einfach vorbei und es wird normal. Normal. Das Wort klang so falsch. Was war normal daran? Gar nichts! Es war nicht fair oder gerecht! Es hätte nicht so kommen müssen! Das war kein Schicksal! Das war nicht vorbestimmt! Es war ungerecht! Es war nur schrecklich, weiter nichts! Niemandem war dabei geholfen worden. Es war nichts als Leid zu gefügt worden.
Ich blickte nach oben in den Himmel. Ein Ast, dessen Blätter schon lange gefallen waren, nahm mein Sichtfeld größten Teils ein.
Ich wollte schreien. Alles aus mir herauslassen. Die ganze angestaute Wut in die Wolken schreien.
Doch ich tat es nicht.
Ich wollte mich zu Boden werfen. Wie ein kleines Kind dass kein Eis bekommen hatte.
Doch ich tat es nicht.
Ich wollte auf den Menschen einprügeln der die Schuld an allem trug. Dem Menschen der nicht einen Kratzer davon getragen hatte.
Doch ich tat es nicht.
Ich tat nichts von alldem.
Ich stand nur da, den Blick auf die Wolken gerichtet und weinte. Ich hatte in den letzten Tagen oft geweint. Mich versteckt. Ich hatte unzählige Hände geschüttelt. Mir das Beileid vieler Leute angehört und doch nicht wahr genommen. Ich hatte nicht geschlafen, nicht gegessen und kaum geredet. Ich war mit diesem leeren Blick durch den Tag gewandert und hatte auf die Nacht gewartet. In der Nacht hatte ich wach gelegen und auf den Tag gewartet.
Ich wollte nur, dass es vorbei ging. Und das tat es. Ich akzeptierte es nicht. Ich hatte einfach Angst, dass das Leben ohne sie auch ein Leben war. Und das war es. Wir waren so vergänglich und es würde immer weitergehen. Es würde einfach weitergehen. Immer und immer weiter. Niemals würde es enden. Dieser Kreislauf.
Leben und sterben.
Ich wusste nicht wie lange ich so nach oben sah und nach dachte, doch irgendwann waren meine Tränen versiegt. Ich zitterte als ein eisiger Lufthauch an mir vorüber zog. Meine Wangen waren gerötet, teils durch Trauer teils durch die Kälte. Vorsichtig bewegte ich die tauben Finger und hoffte sie so etwas wärmen zu können. Ich verschloss die Augen, da ich den Anblick nicht länger ertrug. Vor den geschlossenen Liedern sah ich kleine Filme ablaufen, die mir zeigten was ich nun nie wieder haben konnte.
Erneut fühlte ich wie die Tränen kamen.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf der Schulter, sie riss mich aus meiner traurigen Welt zurück in die Wirklichkeit. Ich drehte mich um, wandte ihnen den Rücken zu. Ich blickte in das Gesicht, des dazu Getretenen. Der große, dünne Mann sah mich an. In seinen Augen spiegelte sich mein eigenes Leid wieder. Die grauen Augen die stets von Lachfalten umgeben waren und immer ein belustigtes Funkeln trugen, waren nun matt und traurig. Sie waren auch leicht gerötet, doch er schämte sich nicht geweint zu haben.
Die Glatze war unter einem Hut verborgen und der gebräunte Körper unter Jacke und warmer Hose. Er sagte nichts. Das musste er auch nicht, wir verstanden uns stumm. Wir wussten dass Worte nicht genug sagen konnten um die Schmerzen zu lindern.
Er streckte seine Arme aus und umfing mich. Ich reagierte zuerst nicht auf die Umarmung. Menschliche Nähe war mir seit Wochen nicht mehr zu Teil geworden. Man hatte mich mit vorsichtigem Abstand behandelt, als wäre ich so zerbrechlich wie dünnes Eis. Nie ging es über einen Händedruck hinaus. Zögernd erwiderte ich diese sanfte Geste. Sie war tröstlich. Schließlich lösten wir uns von einander.
Ein mattes Lächeln umspielte die gealterten Lippen. Ich lächelte nicht zurück, das konnte ich noch nicht. Er verstand das. Er beugte sich vor um mich anzusprechen. Es war Zeit zu gehen. Ich warf einen letzten Blick auf den herzlosen Stein und hauchte ein paar Abschiedsworte, die nur ich verstand. Der Wind trug sie fort und ich ergriff die ausgestreckte Hand.
Er führte mich wie eine Blinde, die sich in unbekannten Gebieten bewegte.
Ich vertraute und folgte ihm ohne zu fragen wohin die Reise ging.
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2014
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Widmung:
Wir widmen dieses unserer Familie und unseren Freunden, weil sie sonst beleidigt sind.