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Fuchs und Gans

Die Geschichte vom Fuchs und der Gans Mimi hat zwei Schauplätze. Da sind die Fuchs­mutter mit ihren fünf Babys vor oder in ihrem Bau und der Bauernhof mit all den Tieren, die früher zu jedem echten Bauern­hof gehörten. Wie diese zwei Schauplätze zu einer Geschichte gehören? Wir wollen sehen.

Es war einmal eine Fuchsmutter mit fünf süßen, kleinen und wohlgeratenen Fuchsbabys. Viel­leicht keine richtigen Babys mehr. Schon etwas größer. Und auch etwas hungriger. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen, wenn sie mit­einander spielten und sich balgten. Nur selten musste die Mutter in übertriebener Sorge eingreifen, wenn sie es gar zu wild trieben. Übertrie­ben deshalb, weil die Kinder sich in Abwesenheit der Mutter, wenn diese zum Mäusefang aus war, noch viel wilder balgten. Und tatsächlich war es einmal geschehen, als die Mutter zurückgekommen war, hatte ein Kind seinem Bruder im Kampf ein Ohr gespalten, und es hatte geblutet. Na und? Das heilt doch wieder!

Aber da war ein Problem. Übrigens nicht nur für unsere Fuchsfamilie, sondern auch für die Mäusebussarde. Es gab in diesem Sommer nämlich nur sehr wenige Mäuse. Wie das sein konn­te? Ich weiß es auch nicht. Viel­leicht war der Winter sehr kalt oder lang gewesen. Jeden­falls hatte die Fuchsmutter die größte Not, genügend Mäuse zu fangen, um ihre fünf Kinder satt zu bekommen. Und da die Kinder wuchsen, wuchs auch ihr Hunger. Zum Leid­wesen der Mutter fehlte ihnen jedes Verständnis für ihre Mühen und Sorgen. Sie war ver­zwei­felt. Von allen Seiten unter Druck und ständig im Stress, aber ohne Erfolg. Es hatte keinen Zweck, so weiterzumachen. Man darf die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschlie­ßen. Aus den Kindern würden nie große und starke Füchse werden, wenn sie nicht richtig ernährt werden. Etwas musste geschehen! Das ewige Gequän­gele war nicht mit Worten zu beruhigen. Taten mussten folgen.

Nun wissen wir ja: Füchse sind listig und schlau. Unsere Fuchsmutter besonders.

Deshalb sprach sie so: „Liebe Kinder, ihr habt Hunger und ich kann nicht genügend Mäuse heranschaffen...“

„Warum denn nicht?“ rief das Kleinste dazwischen.

„Ruhe! Ich rede! Passt auf. Ich habe einen Plan: Ich werde euch eine große, fette Gans bringen…“

Freudengeheul der Kinder schnitt ihr das Wort ab.

„Ruhe! Dafür brauche ich aber Zeit. Ich werde euch jetzt alleine lassen und bin nicht vor mor­gen Abend zurück.“

„Und was sollen wir bis dahin essen? Sollen wir vielleicht verhungern?“

„Ruhe“, rief die Fuchsmutter, diesmal wirklich energisch und entnervt. „Es tut mir leid, ihr müsst an den Wur­zeln nagen, die in unserer Höhle von der Decke herunter hängen. Das habe ich auch schon mal in einem schlimmen Winter gemacht. Zumindest für kurze Zeit vergisst man dann den Hunger. Übrigens, als ich noch klein war, hat meine Mutter uns Kindern oft nur Schnecken gebracht. Auch davon kann man leben.“

„Pfui“, riefen die Kinder im Chor. „Wir aber nicht!“

„Also, jetzt hört mal her. Ihr müsst mir versprechen, nur bis dorthin“ – sie zeigte auf die große alte Buche, die nicht weit von dem Eingang des Baus stand – „und nicht weiter zu gehen. Und wenn ihr irgendetwas hört oder riecht, was ihr nicht kennt: sofort alle in unseren Bau! Und du bist der Erstgeborene, du bist mir verantwortlich. Auf dich verlasse ich mich.“

„Jawoll“, sagte der Älteste deutlich.

Er wurde wirklich schon vernünftig und manchmal merkte die Mutter das ganz deutlich. Aber nicht sehr oft. In der jetzigen Lage blieb ihr aber nichts anderes übrig. Sie musste es riskieren und der Älteste fühlte irgendwie, dass das heute keine alltägliche Sache war. Jetzt hing wirklich viel von ihm ab. Das machte ihn stolz und glücklich.

Wir wollen ja alle gerne gebraucht werden. Allerdings ist es ein großer Unterschied, ob man für Alltagsaufgaben gebraucht wird oder ob - wie in diesem Fall – es um das Wohl der ganzen Gemeinschaft geht. Die Mutter musste ihren Ältesten mit der Autorität des Hauptes der Familie betrauen. Dieser Verantwortung stellte er sich gerne.

Das deutliche ‚Jawoll‘ des Ältesten erfüllte die Fuchsmutter mit Vertrauen und Stolz. Aus dem wird mal was, dachte sie und machte sich auf ihren Weg zu einem wahrhaft abenteuerlichen Unternehmen.

 

Wir wollen jetzt die zurück gebliebenen Kinder der Fuchsfamilie verlassen und erst am Ende der Geschichte wieder dorthin zurückkommen. Den Fortgang werden wir aus Sicht der Bewohner des Bauernhofes beobach­ten.

Dieser Hof lag nicht sehr weit entfernt von dem Wald, in dem die Fuchsmutter mit ihren Kindern lebte.

Für die Tiere des Hofes ist jeder Fuchs eben ein Fuchs und sie keinen Unterschied machen zwischen weiblichen und männlichen Füchsen. Wir wollen ab hier nur noch vom Fuchs sprechen, meinen aber immer unsere treu sorgende Fuchsmutter. Als solche wird man sie bald nicht mehr wiedererkennen. Sie spielte jetzt wie im Theater eine Rolle, die ihrer Natur ganz und gar nicht entsprach.

Auf dem Bauernhof gab es diese Tiere:

  • Ein Pferd,
  • einen Ziegenbock,
  • ein Schaf,
  • ein Schwein,
  • einen Hahn und sechs Hühner,
  • vier Enten, zwei davon mit insgesamt achtzehn Küken,
  • zwei Gänse, eine war die Mimi
  • und einen Hofhund, leider immer mit einer Kette an seiner Hütte angebunden.

Vielleicht ahnt schon der eine oder andere, dass sich die Gans Mimi vom Hof irgendwie mit der Fuchsfamilie vereinen wird. Wie wohl?

Alle Hoftiere wussten ob der Gefahren, die das Leben so nah am Wald mit sich brachte. Keines glaubte zwar an den bösen Wolf, mit dem der Hund ihnen manchmal Angst zu machen versuchte. Aber im vorigen Jahr war es tatsächlich vorgekommen, dass ein Habicht urplötzlich aus den Höhen des Himmels herab­geschossen kam und mit je einem Entenküken in jeder Klaue wieder davon flog. Seitdem hat immer eine Ente die Auf­gabe, den Himmel zu beobachten. Das ist recht unbequem. Enten haben ja die Augen an der Seite des Kopfes und des­halb müssen sie den Hals um 900 (das ist soviel wie ein Viertel von einem Apfel) verdrehen, damit ein Auge den Himmel überwacht. Diese verdrehte Kopfhaltung kann kein Mensch -nein, ich meine natürlich keine Ente - lange aushalten. Aus diesem Grunde waren die Enten übereingekommen, die Habichtswache immer nur zwei Stunden dauern zu lassen. Dann wird abgewechselt.

Alle Tiere aber wissen: der Fuchs ist die größte Gefahr für ihre Gemein­schaft, jedenfalls für das Federvieh.

Plötzlich sahen sie ihn.

Am helllichten Tage kam er. Nicht angeschlichen, sich hinter Büschen und Steinen versteckend und jedes frei einsehbare Areal meidend. Nein, ganz gelassen und so, als ob es völlig normal sei, dass er auch mal auf dem Hof vorbeischaut; so kam er heran. Alle wussten, was sie zu tun hatten. Das Pferd gab die Order. „IN DEN STALL UND DANN TÜR ZU!“ Der Hund bekam von dem Ereignis nichts mit, weil er vor dem Wohnhaus angekettet war und das liegt auf der ande­ren Seite des Stalls.

Als nun alle Hoftiere im Stall waren, stellte sich das Pferd ans Fenster. Es war nämlich als einziges groß genug, um hindurch zu sehen. Und der Hahn flog auf die Fensterbank.

„Was ist los? Was macht er?“ wollten die anderen wissen.

Das Pferd antwortete nicht sogleich. Dann sagte es, etwas verlegen, als ob es sich für diese Auskunft schämte: „Er sitzt mitten auf dem Hof und frisst Gras.“

„Hä?“ „Was hast du gesagt?“ „Red‘ keinen Quatsch!“ Und ähnliche Äußerungen des Unglau­bens und des Zweifels an dem Verstand oder zumindest der Seh­schärfe des Pferdes waren die Antwort. Das hatte es geahnt und darum war ihm auch so unwohl bei dieser Auskunft.

„Hahn, was siehst du?“ fragte man jetzt.

„Das Fenster ist leider nicht sehr sauber - alles voller Spinnweben; ich kann nichts klar erken­nen“, sagte der Hahn, um nicht auch dem Spott und Zweifel der andern ausgesetzt zu sein. „Aber es sieht wirklich so aus. Er sitzt da und scheint ein bisschen an dem Grünzeug zwischen den Steinen zu knabbern. Auch sieht er irgendwie krank oder traurig aus. Er lässt die Ohren hängen und bewegt sich, als hätte er Rückenschmerzen.“

„Ja, ja“; bestätigte das Pferd, „irgendwas ist nicht in Ordnung mit ihm.“

„Das ist ein fauler Trick. Er will uns nur raus locken“, meinte die zuletzt wachha­bende Ente, deren Sinne für Gefahren aus dem Wald geschärft waren. Eulalia war ihr Name; wir werden später noch von ihr hören.

„Jetzt bewegt er sich, er kommt hierher“, rief der Hahn in großer Erregung, um aber gleich hin­zuzu­fügen: „Nein er sitzt schon wieder und frisst Gras. Aber da ist es frischer und saftig grün.“

„Schluckt er es wirklich runter“, wollte das Schwein wissen.

„Ich kann ihm nicht in den Rachen sehen und habe auch keine Lust, sein Kau- und Schluckverhalten von innen zu studieren.“ Der Hahn ärgerte sich über eine so dumme Frage.

Das Pferd kam zu einem Entschluss: „Mir tut er nichts. Ich werde zu ihm gehen und ihn in den Wald zurück schicken. Wir wollen hier keine Füchse auf dem Hof haben - ob gesund oder krank.“

Alle waren einverstanden. Hinter dem Pferd wurde die Tür gleich wieder fest verschlossen und der Hahn berichtete den anderen, was er sah.

Wir aber hören uns das Gespräch der beiden auf dem Hof an.

„Hau hier ab! Wir brauchen hier keine Hühnerdiebe. Oder soll ich dir einen Tritt geben, damit du lernst, wie man in den Wald fliegt.“

Auf die Reaktion des Fuchses freilich war das Pferd nicht gefasst und bald begann es, sich zu schämen für seine grobe Begrüßung. Mit von Schluchzern unterbrochener Stimme klagte der Fuchs: „Was kann ich dafür, dass ich kein Fleisch mag!? Will mich denn niemand verstehen? Kein Fuchs will etwas mit mir zu tun haben. Ich bin anders. Niemand spricht, geschweige denn spielt mit mir! Und alle die kleinen lieben Tiere tun so, als sei ich nicht ein Fuchs, sondern gar ein Wolf. Und wenn ich das wäre, könnte ich dir, dem größten und stärksten und dank deines großen Kopfes auch klügsten aller Tiere doch nichts antun.“

An dieser Stelle biss der Fuchs eine Löwenzahnblüte ab und kaute lang­sam darauf herum und dicke Tränen rollten über seine Gesichtsfell. Das Pferd hörte nicht ungern die Aufzählung seiner Eigenschaften. Insbeson­dere die Herausstellung seiner Klugheit tat ihm gut. Wie oft hatte es sich vor allen anderen Tieren von dem Bauern seine Dummheit vorhalten lassen müs­sen, wobei der Hund selten versäumte, hinzuzufügen, dass man gerade wegen seines großen Kopfes eigentlich erwarten könnte, dass es beson­ders klug sei. Das Pferd wollte wissen, wie es denn komme, dass der Fuchs sozusagen wider die Natur Vegetarier - also ein Pflanzenfresser sei.

„Ich weiß es nicht!“ rief der Fuchs verzweifelt aus. „Fest steht, dass die Milch, die ich aus der Brust meiner Mutter sog, das letzte war, was ich an tierischer Nah­rung zu mir nahm. Meine sieben Geschwister fraßen die von der Mutter heran geschafften Mäuse - und es gab viele in jenem Jahr. Ich aber hatte von Anfang an einen Widerwillen gegen alles stinkende Fleisch und fühlte mich gleichzeitig mit Macht zu den Köstlichkeiten der grünen Pflanzen und ihrer Früchte hinge­zogen. Das kannst du doch bestimmt verstehen.“

„Es gibt nichts Besseres“, bestätigte das Pferd.

„Von dem Tage an“, fuhr der Fuchs fort, „als meiner Familie klar wurde, dass ich kein Fleisch esse, war ich ein Ausgestoßener. Die Geschwister spielten nicht mehr mit mir und meine Mutter nannte mich ‚abartig‘. Als einmal mein Vater uns besuchte, was bei Füchsen nur selten vorkommt, gebrauchte er das Wort „pervers“ und hat unsere Familie danach nie wieder be­sucht. Nun dachte ich, weil du so vernünftig und klug bist und hier auf dem Hof das Sagen hast, du könntest bei deinen Freunden für mich ein gutes Wort einlegen und um ein wenig Verständnis für mich bitten. Ich weiß, meine Geschichte ist kaum zu glauben, aber ich schwöre“ – laute Verzweiflung, aber auch Entschlossenheit, vermochte der Fuchs in diese Worte zu legen – „ich schwöre, dass ich niemals ein Tier getötet habe, noch es je tun werde. Ich kann es überhaupt nicht, weil ich doch ein Vegetarier bin wie du. Sieh doch nur meine Zähne an!“ Dabei zog der Fuchs ein wenig seine Oberlippe hoch und darunter zeigte sich ein ganz norma­les Fuchsgebiss mit gefährlich spitzen Zähnen. Aber das Pferd war von des Fuchses Rede so beeindruckt, dass es flache Mahlzähne wie seine eigenen zu sehen vermeinte.

„Ist das das Gebiss eines Hühnerdiebes, wie du mich genannt hast?“ Und wieder brach er in Tränen aus.

 

Bei dem Pferd hatte der Fuchs sein Ziel erreicht. Es war gutmütig, dumm und eitel, was, wie wir noch sehen werden, im Wesentlichen auch auf die anderen Tiere und - unter uns gesagt - zu­min­dest was die beiden letztgenannten Eigen­schaften betrifft, auch auf sehr viele Menschen zutrifft.

Zurück in den Stall gekommen stieß das Pferd auf den gleichen Unglauben wie vorher, als es von dem Gras fressenden Fuchs berichtete. Alle hatten Ihren ge­sun­den Tierverstand bewahrt. Es war doch klar. Die List der Füchse ist all­ge­mein bekannt und diese allen Gesetzen der Natur wider­sprech­ende Geschichte beweist nur eines: Füchse sind eben sehr schlau und ver­fügen über viele Tech­niken, um zu ihrem räuberischen Ziel zu gelangen. Das arme Pferd musste sich wieder etwas Gemeines über das Miss­verhältnis zwischen der Größe seines Kopfes und seiner Intelligenz anhören und sagte dann nichts mehr. Immerhin war der Hahn, der die Szene auf dem Hof die ganze Zeit durch das vor Schmutz halb blinde Fenster beobach­tet hatte, neugierig geworden und wollte auf den großen Lindenbaum in der Mitte des Hofes fliegen und von einem Ast aus siche­rer Entfernung sich selbst die Geschichte anhören.

Die besorgten Hennen baten ihn inständig, diesen lebensgefährlichen Plan auf­zugeben. Vergebens. Er versicherte, das falsche Spiel des Fuchses zu durch­schauen, sich aber den Genuss der Begegnung mit diesem offenbar schauspie­lerisch hochbegabten Fuchs nicht entgehen lassen zu wollen. Die Ente Eulalia rief ihm nach „Auf eigene Gefahr!“

 

Draußen tat der Fuchs so, als bemerke er den Hahn gar nicht. Er biss hier ein Blatt ab und dort eine Blüte, setzte sich, um sich hinter dem Ohr zu kratzen und schien mit seinem Spitzen Maul einen Floh aus seinem Fell herauszuziehen; kurz, er brachte den Hahn in die Verlegen­heit, als erster das Gespräch mit ihm suchen zu müssen.

„Bildest du dir ein, irgendeiner hier auf dem Hof würde dir deine Geschichte glauben? Für wie dumm hältst du uns? Na gut, das Pferd ist dir auf den Leim gegangen. Das hab ich mir gleich gedacht; leider ist es nicht weit her mit seiner Intelligenz. Man muss aber berücksichtigen: so wie der Bauer das arme Tier Tag für Tag von früh bis spät schwer arbeiten lässt - da bleibt nicht viel Raum zum Denken.“

Der Fuchs zeigte sich erfreut, den Hahn im Baum zu entdecken und sagte: „Guten Tag, Herr Hahn. Ich freue mich, sie hier anzutreffen. Es ist mir eine Ehre, dass sie mir ihre Aufmerk­samkeit schenken.“

Mit dieser förmlichen Anrede wollte der Fuchs dem Hahn andeuten, dass er, der Fuchs, gesellschaft­lich weit unter ihm stehe. Er wusste nämlich, dass unter allen eitlen Gecken der Hahn der eitelste ist. Darum spricht man ja auch von einem Mann dieses Typs als von einem ‚eitlen Gockel‘.

„Wieso schenke ich dir Aufmerksamkeit? Ich sage dir nur: du kannst wieder nach Hause gehen. Hier machst du keine Beute. Heute Abend lässt der Bauer den Hund los und dann geht es dir an den Kragen. Also geh lieber jetzt.“

Der Fuchs blieb bei seiner förmlichen Höflichkeit. „Herr Hahn, darf ich ehrlich sein?“

„Bitte sehr.“ Das hätte der Hahn nicht sagen sollen. Damit übergab er dem Fuchs die Gesprächsfüh­rung.

„Herr Hahn, ich bin ein großer Bewunderer ihrer Gesangskunst. Oft, wenn ich hier in der Gegend zu tun habe, setze ich mich hin, mache eine Pause und genieße ihren Gesang. Wie glücklich müssen die Bewohner dieses Hofes sein, sie, verehrter Meister, in ihrer Mitte zu haben.“

„Es ist richtig, meine Hennen wissen den Gesang zu schätzen. Leider trifft das auf meine ande­ren Freunde nicht zu. Es kommt sogar vor, dass man mich bittet aufzuhören, vor allem, wenn ich morgens ganz früh im Stall zu krähen beginne.“

„Nein, wie ist das möglich!“ rief der Fuchs. „Welch eine Verschwendung von höchster Kunst. Ich will ihnen gestehen: ich habe schon versucht, ihren Gesang nachzuahmen; aber es ist mir nicht vergönnt, ohne qualifizierten Unterricht mich ihrer Kunst auch nur anzunähern. Tatsächlich habe ich schon davon geträumt, sie um die Gunst einer Gesangsstunde zu bitten.“

„Das lässt sich machen.“ In seinem kleinen Gehirn hatte nur noch das Platz, was der Hahn für seine Musik hielt. „Ganz einfach! Hör nur zu. Kikerikiii, kikerikiii. Nun versuch du es selbst.“

Der Laut, den der Fuchs aus seiner Kehle quetschte, ist nicht zu beschrei­ben. Jedenfalls hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Krähen des Hahnes.

„Nein“, sagte der Hahn, „so geht es nicht. Der Ton muss auf dem richtigen Weg aus der Brust kommen. Sieh mich an, wenn ich krähe.“ Und alles vergessend, was er sich vorgenommen hatte, flog er von seinem sicheren Ast und stellte sich neben den Fuchs. „Beobachte genau, wie ich zuerst tief Luft hole. Dadurch wölbt sich die Brust. Und dann den Kopf heben, so dass die Luft auf geradem Weg aus dem Brustkorb durch die Stimmbänder nach oben ausströmen kann. Aufge­passt! Kikerikiii.“

Der Fuchs war hingerissen. „Herrlich! Ich bewundere sie! Welch ein Wohllaut!“,

„Genug, genug; nun aber du“, sagte der Hahn schon ganz im Ton eines Lehrers, der von seinem Schüler ver­langt, bei der Sache zu bleiben. Der Fuchs versuchte die Körperhaltung des Hahns nach­zuah­men. Der jetzt produzierte Laut war etwas voller als der erste Versuch, aber beim besten Willen nicht als Krähen zu bezeichnen. Es war eher ein Jaulen.

„Na siehst du“, sagte der Hahn ermunternd, um nicht zugeben zu müssen, dass hier alle Mühe vergebens war und auch immer bleiben werde. „Das war doch schon viel besser. Jetzt heißt es üben, üben, üben und nochmals üben.“

In diesem Augenblick wachte der Hahn aus seinem Tagtraum auf, der ihn in die Welt der Musik entführt hatte und er wunderte sich, dass er noch am Leben war.

Der Fuchs bedankte sich höflich und versicherte, der Hahn habe ihm sehr geholfen und obwohl er es nie zu der soeben erlebten Meisterschaft bringen werde, wolle er dem Rat des Meisters fol­gen und ab heute jeden Tag üben. Damit verabschiedete sich der Fuchs und entfernte sich.

Vom Stall aus hatte das Pferd den Vorgang beobachtet und laufend berichtet. Entsetzen, als man hörte, der Hahn sei zum Fuchs herunter geflogen. „Er ist des Wahnsinns fette Beute“, hatte Eulalia, die wachhabende Ente, geschrien.

Nun kam der Hahn herein und tat so, als sei nichts Bemerkenswertes gesche­hen. Keinesfalls sollte irgendjemand merken, dass der Fuchs ihn durch seine Schmeicheleien um seinen Verstand gebracht hatte. Aber er lebte ja noch und für den Hahn war das der Beweis, dass tatsäch­lich dieser Fuchs ein Pflanzen­fresser war.

„Wie konntest du vom Baum herunter fliegen? Das war doch Wahnsinn“, sagte Eulalia.

„Nun, durch meine Gabe der Empathie war ich mir völlig sicher, dass der Fuchs mich nicht anrühren würde.“

Unverständnis bei allen. „Empathie, was ist das?“ „Stinkt Empathie?“

„Das ist die Gabe, das innerste Wesen eines anderen zu verstehen. Mit Empathie dringt man in die Seele eines anderen ein und kann sich in dessen Gefühle und Gedanken hinein versetzen. Und deshalb wusste ich: dieser Fuchs ist anders, ein wahrer Kenner meiner Gesangskunst und ein Vegetarier dazu. Nie würde er auf den Gedanken kommen, .... ich will und kann es nicht aus­sprechen. Ich täusche mich nie. Hier stehe ich vor euch und bin der lebendige Beweis, dass es so ist, wie ich sage.“

„Wenn du ganz in die Seele des Fuchses gekrochen wärest, hättest du wahrscheinlich mitge­fühlt, dass er dich zum Fressen gern hat“, quakte Eulalia, die weder dumm noch auf dem Mund gefallen war. „Aber dieser Fuchs hat Größeres im Sinn als dich mageres Klappergestell. Zuerst hat er das Pferd und nun auch dich von seiner Unschuld überzeugt. Aber ich sage Euch: am Ende werden wir es erleben, auf wen von uns er es abgesehen hat. Ich glaube nicht an das Wunder vom Grünzeug fressenden Fuchs. Mich und meine Kinder jedenfalls bekommt er nicht zu packen.“

Jetzt verließ das Schwein sein gemütliches Strohlager und grunzte: „Mir kann er nichts antun. Ich gehe zu ihm und werde herausfinden, was oder vielmehr wen er hier sucht, wenn Eulalia recht hat.“ Sprach’s und ging hinaus.

„Dich kocht er auch noch weich!“ rief Eulalia ihm nach.

„Guten Tag, du armes Schwein.“ So grüßte der Fuchs.

„Ich verbitte mir diese Begrüßung! Wieso nennst du mich ‚armes Schwein‘? Ich bin gut zufrie­den. Dir scheint etwas zu fehlen. Was suchst du hier?“

„Ich hab’s ja dem Pferd erzählt und bestimmt hat es euch alles berichtet. Weil ich so anders bin, finde ich unter meinen Artgenossen wenig Freunde und also wenig Freude. Was ich hier suche? Ein wenig Verständnis. Weißt du, ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Und da wünscht man sich natürlich, mit anderen zu sprechen. Denken die auch so wie ich oder ist das alles dummes Zeug, was ich mir da ausdenke. Deshalb bin ich hierher gekommen. Und auch, um die Freu­den des Alltags mit anderen zu teilen.“ So sprach der Fuchs.

„Zeit habe ich auch. Der Bauer gibt mir mehr als genug zu fressen und so kann ich mich den lieben Tag lang am Teich in den feuchten Matsch legen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen lassen.“

„Ich glaube, da hast du dein Problem genau angesprochen.“

„Was für ein Problem? Warum sollte ich ein ‚armes Schwein‘ sein?“

„Eben, wegen deines Problems. Hör zu. Warum meinst du, gibt dir der Bauer so viel zu fres­sen?“

„Muss mich das interessieren?“ antwortete das Schwein mit einer Gegen­frage. Und der Fuchs erkannte, dass das Schwein nicht nur ein armes son­dern auch ein dummes Schwein war. Sein Plan mit der ungewöhnlichen Begrüßung - Guten Tag, du armes Schwein - würde Erfolg haben. Aber Geduld braucht es.

„Ich meine schon. Das sollte dich interessieren. Es geht um Leben und Tod.“

Man muss wissen, dass fast alle Tiere keine Vorstellung vom eigenen Tod haben. Sie sind so geschaffen, dass sie vor Todesgefahren fliehen, weil sie den Schmerz von Verletzungen fürch­ten. Aber weiter denken sie nicht. Anders der Fuchs. Er hatte schon Hunderte von mun­teren Mäuschen erlebt, die nach einem kurzen Biss tot waren. Dieser, auf das eigene Leben bezoge­ne erschreckende Unterschied zwischen lebendig sein und tot sein, hatte ihn oft berührt, obwohl er trotz allen Nachdenkens zu keiner ihn über­zeugenden Erkenntnis gekom­men war, wie diese Erfahrung sein Leben beeinflussen sollte. Hunger und die Pflichten als Mutter einer Familie drän­gen zu ständiger Aktivität. Keine Zeit, keine Zeit; wir kennen das. Man sagt, ‚das Leben geht weiter, aber richtig muss es heißen ‚das Leben treibt uns weiter`. Und über die wesentli­chen Dinge denkt man später einmal nach, vielleicht zu spät.

Immerhin wusste der Fuchs, was der Bauer mit den Gänsen und Schwei­nen macht. Schon zu oft hatte er auf seinen nächtlichen Streifzügen die Blutspuren und Schlachtabfälle - welch fürchterliches Wort! - von Haus­tieren gefunden, die gestern noch gelebt hatten. Ihm war’s recht, aber es schauderte ihn, wenn er sich daran gütlich tat.

„Hm“, machte das Schwein nur, als es vom Fuchs mit Leben und Tod konfrontiert wurde.

„Sieh mal“, sagte der Fuchs, um ganz vorsichtig auf den Punkt zu kommen. „Der Bauer füttert den Hund, damit er bellt, und mich vertreibt. Auch soll er aufpas­sen, dass nachts keine Diebe kommen. Ist das so?“

„Ja, das ist doch klar.“

Und er gibt dem Pferd Hafer und Heu, damit es ihn mit der Kutsche in die Stadt bringt und - das arme Tier! - damit es den Pflug durch den Acker zieht. Das ist Schwerstarbeit. Ist das auch klar?“

„Ja, natürlich. Warum erzählst du mir das?“

„Warte“, sagte der Fuchs.“Jetzt sag du mir: warum füttert der Bauer die Hühner?“

Das Schwein musste einen Augenblick überlegen. Dann rief es: „Wegen der Eier! Aber du wolltest mir erklären, warum ich ein armes Schwein bin.“

„Ich stelle dir jetzt eine letzte Frage. Warum gibt der Bauer dir so reichlich Futter?“

Pause…

„Ich weiß es wirklich nicht“, musste das Schwein bekennen. „Ich glaube, er liebt mich. Er massiert mir oft meinen Rücken. Das tut so gut. Dann grunze ich zu­frieden und er freut sich.“

Dieses Maß an Naivität rührte den Fuchs. Einen Augenblick wollte er seinen ganzen Plan aufgeben. Es war zu grausam, dem armen Tier seinen Glauben an das Gute im Menschen zu rauben. Aber dann dachte er wieder an seine fünf hungrigen Kinder.

„Liebes Schwein“, holte der Fuchs weit aus und er brauchte kein Mitleid zu heu­cheln. Man konn­te es deutlich in seiner Stimme hören. „Liebes Schwein, du irrst dich. Am Ende aller Tage wird der Bauer dich töten. Er wird deine Schinken räu­chern; die Bäuerin wird sonntags deinen Rücken als Kotelett auf den Mittags­tisch bringen; wenn Gäste kommen, gibt es Schweinebra­ten und jeden Morgen wird der Rest von dir - klein gemanscht und in deine eigenen Därme ge­presst - als Wurst auf dem Frühstückstisch liegen. Und in deinem Rückenspeck bräunt die Bäuerin Bratkartoffeln. Deshalb füttert er dich. Und wenn er dich massiert, wie du meinst aus Liebe, dann fühlt er, ob du schon genügend Speck angesetzt hast, um dich zu schlachten.“

Entsetzen packte das Schwein. Das Weltbild vom friedlichen Leben auf dem Hof erwies sich als ein Trugbild. Ja, bisher war es so, jetzt aber trat aus dem ver­schwommenen Hinter­grund dieses glücklichen Bildes drohend die bullige Ge­stalt des Bauern mit einem Schlacht­messer in der Hand hervor. Tränen der Verzweiflung begannen über seine Backen zu rinnen. Hilflos kreisten seine Gedanken auf der Suche nach einem Ausweg. Aber kein Zweifel: es war so erschreckend einsichtig, was der Fuchs da gesagt hatte. Diese Schlussfolgerung war grau­en­haft. Ja, so musste es sein. Eine andere vernünftige Erklärung gab es nicht. Geschlachtet werden, das war das Ende! Das Schwein brach in lautes Schluchzen aus.

„Liebes Schwein“, tröstete der Fuchs, „du brauchst nicht zu verzweifeln. Es gibt einen Ausweg. Sieh mal, der Bauer will deinen Speck. Er wird dich nicht schlachten, wenn Du nicht genug Speck auf deinen Rippen hast. Nun überlege doch mal: Was könntest du tun, damit du nie so dick wirst, wie der Bauer dich haben möchte?“

„Ja, was kann ich tun?“ schluchzte das Schwein.

„Das ist doch ganz einfach“ erklärte der Fuchs. „Wenn du ab heute nur noch halb soviel frisst wie bisher, wirst du nicht immer fetter werden sondern im Ge­genteil, der Speck auf deinem Rücken wird immer weniger. Solange du nicht fetter wirst, wird der Bauer dich weiter füttern und bestimmt nicht schlachten.“

Das war gelogen. Wenn ein Schwein nicht mehr richtig frisst, ist es krank und der Bauer bestellt den Schlachter zur Notschlachtung.

Unser Schwein konnte es kaum glauben. Eben noch sah es sich schon unter dem ­Messer und jetzt gab es eine Rettung. Es war das Glück eines neu gewon­nenen Lebens. Klammheimlich freute sich das Schwein, den Bauern mit einem fuchsschlauen Trick zu überlis­ten. Dessen böse, selbstsüchtige Rechnung sollte nicht aufgehen!

„Genau so werde ich es machen“, rief das Schwein begeistert aus. „Was bist du für ein schlau­er Kerl. Es ist so, wie man immer sagt: Füchse sind die schlaues­ten aller Tiere. Nie wäre ich auf diese Idee gekommen. Oh, lieber Fuchs, wie kann ich dir danken für deinen Rat!?“

„Übertreibe nicht, mein Freund“, sagte der Fuchs bescheiden. Und er wusste: jetzt würde er mit seinem Plan ein gutes Stück weiter kommen. „Wenn du etwas für mich tun willst....“

„Gerne, womit kann ich dir eine Freude machen?“

„Du weißt, wie ich hier angesehen werde“, sagte der Fuchs sehr ernst. „Du selbst hast doch bis vor kurzem genauso wie das Pferd und der Hahn geglaubt, ich sei ein Hühnerdieb. Die Enten, Hühner und Gänse glauben das immer noch. Für sie bin ich der böse Fuchs. Das ist auch nur zu verständlich. Welcher Fuchs, dem sie je begegnet sind, war ein Gras­fresser? Bitte, liebes Schwein, sei mein Zeuge. Deine Aussage zu meinen Gunsten hat Gewicht. Vielleicht könnte ich eine Weile mit euch allen in dieser friedlichen Hoffamilie zusammen leben und ein wenig Trost in meiner Einsamkeit finden.“

So geschah es denn auch. Das Schaf und der Ziegenbock standen ein wenig abseits und kümmerten sich nur am Rande um den Rummel, der da um den Fuchs gemacht wurde. Die­sem gelang es mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit, weitere Freunde zu gewinnen.

Er begegnete dem Hahn mit großem Respekt, damit der nicht eifersüchtig würde, wenn er den Hennen Geschichten aus dem Wald erzählte, während diese auf dem Nest saßen und warte­ten, dass das Ei endlich kommt. Eier legen ist ein langweiliges Geschäft. Die anderen scharren nach Regenwürmern und man sitzt da, das Ei drückt, will aber nicht kommen. Da ließen sich die Hühner gerne die Zeit mit einer spannenden Erzählung verkürzen.

Drei der vier Enten ließen sich von der Welle des allgemeinen Vertrauens mitrei­ßen und erklärten sich zu Freunden des Fuchses. Darunter war auch die Mutter von elf Entenbabys. Eulalia aber ließ sich nicht überzeugen. Ihr gesunder Ins­tinkt hielt gegen die Welle seligen Vertrauens aller anderen stand wie ein Fels in der Brandung. Der Fuchs war schon in Sorge, dass Eulalia ihn schließlich um den Erfolg all seiner Bemühungen bringen könnte. Immer wieder hörte er sie warnen und seine betrügerischen Absichten betonen. Er musste bis zum Äu­ßers­ten gehen und das tun, was ihm noch unangenehmer war als Gras fressen.

Er machte der Ente mit den elf Kindern das Angebot, ihr als Kindermädchen zu dienen. Elf Junge sind bei Enten ungewöhnlich. Nur selten brütet eine Ente mehr als neun Eier erfolgreich aus. Auf elf Küken aufzupassen ist anstrengend. Des­halb nahm die Mutter dieses Angebot gerne an und vertrauensvoll überließ sie dem Fuchs die Sorge um ihre Kinder. Das bedeutete, mit den Kleinen zusam­men ins Wasser zu gehen. Das tun Füchse von Natur aus nie. Schlimm genug, wenn sie im Regen nass werden. Aber jetzt musste es sein. Können Füchse überhaupt schwim­men? Ich weiß es nicht und es schien so, als wüsste er das auch nicht. Jedenfalls ging er nicht ins tiefe Wasser und ermahnte die Enten­babys, es sei viel zu gefährlich, in tiefere Gefilde hinauszuschwimmen. Darüber konnten seine Schützlinge nur lachen. Aber die Entenmutter hatte ihren Kindern aufs strengste eingeschärft, dem Fuchs zu gehorchen und so blieben sie immer in seiner Reichweite - Reichweite auch in der Bedeu­tung, dass er jederzeit eins erreichen konnte. Wie ich das meine? Hört zu.

Enten können nicht zählen wie wir. Bei ihnen gibt es nur drei Wörter, mit denen sie zählen, nämlich ‚eins‘, ‚einige‘ und ‚viele‘. Wo die Grenze zwischen ‚einige‘ und ‚viele‘ liegt, hat die Wissenschaft noch nicht herausgefunden. Irgendwo zwischen sechs und acht, meint man. Bei elf Küken konnte der Fuchs es sich also ohne Gefahr leisten, zwei Küken zu stehlen und unbemerkt in dem Getüm­mel und Geplansche zu verschlingen. Es blieben dann nach Entenzählung im­mer noch ‚viele‘ übrig. Ob elf oder neun macht da keinen Unterschied. Und es war auch bitter nötig, dass der Fuchs wieder Fleisch zwischen die Zähne bekam. Vom vielen Grasfressen war ihm übel geworden.

Eulalia und ihre sieben Kleinen beobachteten aus sicherer Entfer­nung die fröh­lich badenden Entenbabys. Von dem frechen Raub des Fuchses hatten sie nichts bemerkt. „Wir wollen auch ins Wasser! Onkel Fuchs tut uns nichts“, ver­such­ten die Kinder ihre Mutter zu überzeugen und rannten los. Eulalia geriet in Panik. Todesmutig rannte sie hinter ihren Kindern her, um sie zu retten, aber fünf erreichten das Wasser und nur zwei hatte sie aufhalten können. Aber was musste sie jetzt sehen? Hoch erfreut begrüßte der Fuchs die Ankömmlinge, leck­te ihnen über den Rücken, tauchte mit seiner Nase unter ihren Bauch und warf sie hoch, sodass sie mit dem Kopf zuerst wieder in Wasser fielen. „Köpper! Nochmaaal“ hörte Eulalia von weitem ihre Kinder jauchzen.

Alle Entenkinder spielten und planschten glücklich, bis der Fuchs rief: „So, es ist genug. Kommt jetzt aus dem Wasser und wärmt euch in der Sonne.“ „Nein, wir wollen weiter spielen, riefen seine Schützlinge. Dem Fuchs selbst aber war das Wasser zu kalt. Er musste sich zusammen­nehmen, damit man nicht sah, wie seine Zähne klapperten und deshalb blieb er hart.

Nachdem er so gut er konnte das Wasser aus seinem Fell geschüttelt hatte, brachte er zuerst die verbliebenen neun Küken zu ihrer Mutter zurück und dann die sieben – die beiden zurück­gebliebenen waren nämlich auch noch ins Was­ser entwischt – zu Eulalia. Dabei blieb er in einiger Entfernung von Eulalia stehen, verneigte sich artig und sagte: „Du hast entzückende Kinder“. Nach allem, was sie beobachtet hatte und jetzt hören durfte, schmolz Eulalias Herz wie Schokolade in der Sonne. „Danke“, hauchte sie. Sie schämte sich etwas wegen ihrer offensichtlich ganz falschen Ein­schätzung des Charakters des Fuchses und der wusste: er hatte sein Ziel erreicht.

Und wie stand es mit den Gänsen? Die konnten, obwohl sie ja als wach­sam gel­ten, all den Vertrauensbeweisen von Pferd, Hahn, Schwein und Enten nicht lan­ge widerstehen. Mimi genoss die zahlreichen Beteu­erungen besonderer Zu­nei­gung, die der Fuchs durch kleine Aufmerk­samkeiten zu beweisen verstand. Es war auch geradezu rührend zu beobachten, welche besondere Liebe der Fuchs zu der Gans Mimi offenbarte. Er versuchte immer wie­der seinen Kopf unter ihren Flügel zu schieben, als ob er dort Schutz suchte, so, wie das wohl ein Gänsekü­ken tun mag, wenn es regnet oder wohin es flieht, wenn vor dem Habicht ge­warnt wird. Mimi war schon alt und konnte keine Kin­der mehr bekommen, aber gerade deshalb liebte sie diese Geste des Fuchses - so wie eine Oma, die auch gerne von ihren Enkeln geliebt wird, was besonders der Fall ist, wenn sie den Enkeln öfter mal was mitbringt. Oma Mimi hatte dem Fuchs zwar noch nichts geschenkt, er aber war sich sicher, dass er noch ein ‚gansgroßes‘ Geschenk von ihr bekommen werde. Welches wohl? ....

All das, was hier erzählt wurde, füllte den ganzen ersten Besuchstag des Fuch­ses aus und den zweiten bis kurz vor Mittag. Um diese Zeit rief der Fuchs seine neuen Freunde zusammen und hielt eine kleine Rede, in der er sich glücklich pries, so überaus freundlich aufgenommen worden zu sein. Er versi­cherte, dies sei die schönste Zeit in seinem Leben und er wolle gerne den Rest seiner Tage mit ihnen allen zusammen verbringen. Und dann sagte er: „Ich schulde euch allen und jedem einzelnen großen Dank. Es würde mich sehr freuen, wenn auch ich euch eine Freude machen könnte. Und da ist mir etwas eingefallen: mögt ihr Erdbee­ren?“

„Naja“, sagte das Pferd. Es wollte nicht unhöflich sein, aber trotzdem ehrlich bleiben. Ersteres war ihm nur mittelmäßig gut gelungen, finde ich. Für ein Pferd sind Erdbeeren ungefähr so groß wie die bunten Zuckerper­len, die man auf gewisse Kekse streut. Wer wollte die einzeln auf der Erde suchen? Diese Aus­sicht konnte das Pferd nicht begeistern. Aber alle anderen waren begeistert, besonders das Schwein und Mimi.

„Ich kenne da nämlich im Wald eine große Lichtung“, fuhr der Fuchs fort, „und da wachsen köstliche Erdbeeren. Es gibt keine besseren. Nichts gegen frisches grünes Gras, aber Wald­erd­beeren sind doch eine andere Klasse. Vor zwei Wo­chen erst war ich da, um zu sehen, ob sie schon reif sind. Ich kann euch sagen: dies ist ein gutes Erdbeerjahr. Sie müssen jetzt voll reif sein und es sind sehr viele. Wenn ihr mitkommen wollt, könnten wir jetzt einen Ausflug dorthin machen.“

Nun gab es da aber noch ein Problem. Um zu den Erdbeeren zu kommen, musste man um die Scheune herum und am Wohnhaus vorbei. Vor dem Wohn­haus war der Hund an seiner Kette. Und - das wusste der Fuchs ganz genau - zwischen Hund und Fuchs gibt es keine Freund­schaft. Das kommt daher, dass Hunde nahe Verwandte der Füchse sind. Und wie das so zwi­schen Verwandten manchmal ist, da mag man sich nicht. Denkt doch bloß an Onkel ... - ich hab‘ den Namen vergessen.

Der Ursprung der Familienfeinschaft zwischen Hunden und Füchsen reicht weit in die Geschichte zurück. Als die Hunde von Menschen noch nicht gezähmt waren, da waren die wilden Hunde - viel­leicht waren es damals noch Wölfe - den Füchsen an Kraft weit überlegen. Und trotzdem konnten die Füchse mindestens genau so erfolgreich jagen - weil sie eben viel schlauer waren. Das hat die Wölfe natürlich wahnsinnig geärgert und das liegt den Hunden immer noch im Blut. Tiefer noch als das aber sitzt die Feindschaft, die aus Neid geboren ist. Die Hunde wissen näm­lich, dass ihre Vorfahren ihre Freiheit an die Menschen ver­kauft haben. Sie zahlten mit ihrer Freiheit für die Bequem­lichkeit, mit Futter ver­sorgt zu werden. Hunde brauchen nun nicht mehr auf die Jagd zu gehen, um nicht zu verhungern. Im Winter bei strengem Frost war das für die Vorfahren manchmal tatsächlich eine Frage des Über­lebens. Aber das Ergebnis des Han­dels mit den Menschen ist ‚Trocken­futter gegen Kette‘. Wie gerne würde der Hund wenigstens von Zeit zu Zeit mal wieder jagen gehen. In jungen Jahren hatte der Hund von unserem Hof sich mal ein Huhn geschnappt. Da verprü­gel­te der Bauer ihn fürchterlich und ließ ihn dann noch nicht einmal seine Beute fres­sen. Und auch danach gab es nie etwas anderes als Trockenfutter. Auch ein armes Schwein, der Hund!

Also: der Hund an der Kette würde zwar wie toll schimpfen und bellen, aber mehr könnte er nicht, dachte der Fuchs. Aber der Bauer!? Es war Sonntag. Das hatte der Fuchs an dem Lärm der Glocken im Dorf erkannt. Da waren Bauer und Bäuerin zur Kirche gefahren. Genau genom­men war sie in der Kirche und er in der Wirtschaft gegenüber. Das aber nur nebenbei.

Als nun der ganze Zug an dem vor Wut beinahe platzenden Hund vorbei zog, verzog der Fuchs keine Miene. Es lag ihm fern, den armen Köter zu provozieren. Er dachte sich nur: „Wenn ich du wäre, würde ich so tun, als ob es mir ganz egal ist, dass ich hier vorbei marschiere an der Spitze der ganzen Belegschaft. Durch dein Gebell zeigst du mir doch nur, dass du der Unter­legene, der Sklave des Bauern bist. Durch deine Wut bestä­tigst du mir meine Überlegenheit und deine Schande. Du tust mir leid.“

Hinter dem Fuchs führte das Pferd den Zug an. Trotz der anfänglichen Zweifel an seiner Füh­rerschaft machte ihm inzwischen niemand diese Position streitig. Und es erwies sich auch als von praktischem Nutzen, weil das Gewicht und die breiten Hufe geeignet waren, das Geäst auf dem Weg niederzutreten, um dem Kleinvieh den Weg zu ebnen. Dahinter dann der ganze Zug mit dem Ziegen­bock, dem Schaf, dem Hahn mit seinen sechs Hühnern, den vier Enten mit jetzt nur noch sechszehn Küken, den beiden Gänsen und am Ende das Schwein mit dem Auftrag, darauf zu achten, dass niemand zurück blieb.

Der Fuchs hatte es eilig. Er hatte nur noch das eine im Sinn. Ihr wisst, was! Immer wieder musste er zurückgerufen werden, weil die Entenküken nicht so schnell folgen konnten. Da machte der Fuchs einen Vorschlag. Er stellte nüch­tern fest: „Die Entenküken kommen hier nicht durch. Der Weg wird immer schmaler und das viele Altholz ist zu sperrig.“ Er ging zurück zu dem Schaf: „Würde es dir etwas ausmachen, wenn du dich einmal hinlegst und den kleinen Enten erlaubst, in die dicke Wolle auf deinem Rücken zu kriechen? Dieser Weg ist nichts für sie und es wäre doch zu schade, wenn die beiden Entenmütter mit den süßen Kleinen um­kehren müssten.“

Obwohl das Schaf dieses Ansinnen etwas sonderbar fand, war es einver­standen. Der Marsch konnte also fortgesetzt werden.

Dann ging der Fuchs zum Hahn und ermunterte ihn, recht kräftig zu krähen. „Mit Musik geht alles besser“, sagte er. „Mir scheint, ihre Hennen beginnen zu ermü­den auf diesem langen Weg. Wenn sie ihnen zeigen, wie munter sie selbst sind, wird das ihre Damen ermutigen und sie denken nicht mehr an ihre erlahmenden Kräfte.“

Der Hahn hatte dem Fuchs schon mehrfach das Du angeboten. Aber der bestand darauf, einen Meistersinger dieser Klasse nur mit der SIE-Anrede gebührenden Respekt zu erweisen können.

Der Weg ging immer tiefer in den Wald hinein und er wurde dichter und dunkler.

Der Ziegen­bock wunderte sich und sagte zum Schaf: „Wenn ich eine Gans wäre, würde ich nicht so arglos einem Fuchs in sein Herrschaftsgebiet folgen.“ Das Schaf war der gleichen Meinung. Beide hatten gehört, was das Pferd und dann der Hahn und das Schwein für sonderbare Geschichten vom vegetari­schen Fuchs erzählten. Der Bock hatte seinen Spaß gehabt, als der Fuchs zu ihm gekommen war, um von ihm das Boxen zu lernen. Schon mit dem ersten Stoß war der Fuchs k.o. gewesen und hatte aus der Nase geblutet. Der Hahn hatte ihn ausgezählt und erst eine geraume Weile nach „12“ hatte der Fuchs das Bewusstsein wieder erlangt und hatte sich an nichts mehr erinnert. Jedenfalls tat er so. „Oh, da muss ich mich irgendwo gestoßen haben“, hatte er gemurmelt und damit war diese Episode vergessen.

Ganz ernst genommen hatten Bock und Schaf die Sache nie, aber, wie gesagt, jetzt begannen sie sich zu wundern und auch das Pferd fühlte sich nicht mehr ganz wohl in seiner Rolle als Anführer dieses Zuges und als derjenige, der die anderen als erster von der Unschuld dieses Fuchses zu überzeugen versucht hatte. Die übernommene Verantwortung begann schwer auf ihm zu lasten. Aus dem weinerlichen, verlassenen, einsamen Fuchs war ein putz­mun­terer Kerl geworden, der vor guter Laune sprühte. Fröhlich tänzelnd und mit übermütigen Seiten­sprüngen lief er vorneweg. So eine Verwandlung von trauriger, Trost suchender Niederge­schlagenheit zu vollkommenem Glück, so wie es Pferde fühlen, wenn sie nach einem langen Winter im Stall auf dem eigenen Mist stehend, im Frühling zum ersten Mal wieder auf die Weide dürfen und dann um die Wette galoppieren, so dass die Grassoden fliegen, so eine Verwandlung war doch sehr ungewöhnlich und eigentlich erklärungsbedürftig.

Doch, siehe da, eine Lichtung in einiger Entfernung vor ihnen. Endlich! Große Erleichterung bei allen Bedenkenträgern.

Nun blieb der Fuchs stehen und ließ den ganzen Zug passieren. Der Mimi flüsterte er im Vorbeigehen ins Ohr: „Ich liebe dich. Gleich sind wir da.“

Als das Schwein ihn erreicht hatte, ermahnte er es, an seinen Vorsatz zu denken, nicht zu viel zu fressen.

„Wieso?“ entgegnete das Schwein, „darf ich mich nicht satt fressen? Du hast doch gesagt, es gäbe genug Erdbeeren und darauf freue ich mich schon. Endlich mal was anderes, als das, was der Bauer mir da täglich in den Trog kippt. Mehlpapp und Küchenabfälle.“

Der Fuchs war fassungslos. Erst Stunden zuvor hatte das Schwein ihn als seinen Lebensretter gefeiert, weil er ihm den einzig vernünftigen und rettenden Rat gegeben hatte, weniger zu fres­sen und so den Bauer vergeblich auf das Wachsen seiner Speckschicht warten zu lassen. Und jetzt - im Angesicht eines köstlichen Mahls - war alles vergessen. „Wie wahr doch die Regel, dass selbst die sichere Erkenntnis von frühem Siechtum und vorzeitigem Tod einen Fettleibi­gen nicht vom Fressen abhalten kann!“ So dachte der Fuchs, fand aber Trost bei dem Gedan­ken, dass das arme Schwein durch die Nicht-Befolgung seines Rat­schlages nun in Wirklichkeit einer vorzeitigen Notschlachtung wegen Nahrungs­ver­wei­gerung entgehen würde.

Zurück zu den schönen Seiten des Lebens!

Tatsächlich! Walderdbeeren in Fülle, reif, saftig und süß. Ein zarter Erdbeerduft lag über der Lichtung. Selbst das bei der Ankündigung dieser Expedition wenig begeisterte Pferd musste zugeben: klein aber köstlich. Die Enten und Gänse zerquetschten die weichen Früchte in ihren breiten Schnäbeln und der rote Saft tropfte rechts und links herab. Das Schwein grunzte und schmatzte laut. Es war deutlich hören, wie sehr es die Beeren genoss und an nichts anderes dachte.

Der Fuchs ging von einem zum anderen und wie ein guter Gastwirt erkundigte er sich bei jedem, ob es schmecke und ob noch irgendwelche Wünsche offen seien.

„Dort hinten“, flüsterte er der Mimi ins Ohr, „dort hinten, hinter dem Busch habe ich eine ganz herrliche Erdbeere entdeckt; die sollst du haben.“

Was da hinter dem Busch geschah, kann man sich vorstellen: die Liebe des Fuchses zur Gans Mimi fand ihre Erfüllung. „Hmmm“ machte Mimi, als sie diese große, dunkelrote Erdbeere in ihrem Schnabel zerdrückte. „Köstlich! Du bist mir ein wahrer Freund und nicht nur in Zeiten der Not sondern auch in guten Zeiten wie heute.“

In diesem Augenblick brach der Fuchs ihr das Genick. Ein kurzer aber kräftiger Biss mit seinen scharfen Zähnen genügte. Wie verblendet musste das Pferd gewesen sein, als es meinte, ein Pferdegebiss zu sehen, als der Fuchs ihm seine Zähne gezeigt hatte!

An dieser Stelle verlangt ein schwierige Frage eine Antwort: War der Fuchs ein böser Fuchs, weil er die Mimi tötete? Wenn Töten Unrecht ist, sind von allen Lebewesen nur die Pflanzen, also Gräser, Kräuter, Blumen, Knollen und Zwie­beln, Sträucher und Bäume unschuldig. Sie tun niemand etwas zu leide; im Gegenteil: sie dienen Mensch und Tier zur Nahrung, zur Heilung von Krank­heiten, sie erfreuen durch köstlichen Geschmack der Früchte, durch die Schön­heit und den Duft der Blumen. Sie leben von der Wärme der Sonne und von der Erde, auf der sie wachsen. - In der ganzen übrigen Schöpfung aber gilt das Gesetz von ‚Fressen und Gefressen werden‘.

Bis auf eine Ausnahme: die Bienen. Sie haben einen Vertrag mit den Blumen geschlos­sen. Die Bienen dürfen sich den Honig aus den Blüten holen. Dafür müssen sie den Blüten­staub von einer Blume zur nächsten tragen. So lebt einer von dem anderen, ohne dass einer sterben muss. Und von dem süßen Honig bleibt sogar noch etwas über für die Kinder der Menschen.

Der Fuchs muss Mäuse fangen und auch mal eine Gans stehlen um zu leben, Auch der Bauer muss Vieh halten und am Ende verkaufen oder schlachten, um seine Familie zu ernähren. Da kann man nicht von gut oder böse reden. Böse ist nur der, wer mehr Tiere tötet als er muss, um nicht zu hungern.

Aber zurück zu unserer Geschichte. Der Schauplatz teilt sich jetzt wieder. Der Fuchs ist auf dem Weg zu seinen Kindern und zieht die schwere Mimi hinter sich her. Wir wollen uns aber zunächst den Hoftieren auf der Erdbeerlichtung im Wald zuwenden.

Es wurde Nachmittag. Die Sonne stand schon ein gutes Stück tiefer. Während alle anderen noch fraßen, schmatzten und auch mal rülpsten, war es dem Pferd zu mühselig geworden, die klitzekleinen Erdbeeren zu suchen. Deshalb und auch weil es den Zug angeführt hatte und sich verantwortlich fühlte, mahnte es jetzt zum Aufbruch.

„Nein, noch nicht!“ rief das Schwein. Es hatte alle guten Vorsätze vergessen.

Aber das Pferd blieb hart. „Kommt jetzt, wir haben noch den ganzen Weg wieder zurück vor uns.“

Die Enten brachten ihre Kinder wieder zum Schaf und halfen ihnen auf den Rücken zu klettern. Als alle Tiere sich um das Pferd geschart hatten, fehlte der Fuchs.

„Fuchs, wo bist du!? Wir müssen nach Hause.“ Keine Antwort. „Fuuuchs!“ … Nichts.

Da rief die zweite Gans: „Mimi ist auch nicht da!“

Das Pferd erschauderte und befahl mit zitternder Stimme, nach den beiden zu suchen. Das Schwein erreichte als erstes die Stelle hinter jenem Busch. Ein die Blätter der Bäume erzit­tern­des Quieken ließ das Blut in den Adern erstarren. Weiße Federn und Blut, viel Blut und eine Blutspur in die dunk­leren Räume des Waldes. Die verbliebene Gans fing bitterlich an zu weinen. Sie war die einzige, die um ihre Freundin echte Trauer empfand. Dem Pferd klan­gen die Schmei­che­leien des Fuchses im Ohr bezüglich seiner Klugheit und seiner verantwortungs­vollen Führungsaufgabe auf dem Hof. Dumm war es, einfältig, verantwortungs­los und furchtbar dumm! Ja, es hatte diese Führungsrolle gerne eingenommen. Alle hatten es respek­tiert. Es tat so gut, anerkannt zu werden. Das war eine be­glückende Erfahrung – gewesen. Diese Zeit mit dem Fuchs auf dem Hof – es waren noch nicht einmal zwei ganze Tage – voll Freundschaft, Frieden und Soli­darität. Vorbei! Vor Scham vor sich selbst und vor den anderen beugte es seinen großen Kopf in Verzweiflung. Wie sollte das Leben weiter­gehen?

Und der Hahn? Ebenso plötzlich, wie er seinen Verstand verloren hatte, als der Fuchs von sein­er großen Gesangsmeisterschaft lernen wollte und er alle Vorsicht außer Acht lassend vom Baum zu dem Fuchs herab flog – ebenso plötzlich nahm er in diesem Augenblick die wirklich erhabene Schönheit des Gesangs der Nachtigall wahr. Diese saß unsichtbar im dichten Ge­büsch gar nicht weit von dem Schauplatz des grausigen Geschehens und erfreute mit ihrer Kunst vorallem sich selbst - sie hatte es zu ungewöhnlicher Meisterschaft ge­bracht - , aber auch alle anderen, die es hören mochten, und ihre liebe Frau, die es noch gar nicht war, aber sehr bald werden sollte. Diese lauschte noch un­sichtbarer als die Sängerin in noch dichterem Gebüsch und wurde von dem schmachtenden Flöten und den temperament­vollen Trillern ergriffen von einem ahnungsvollen Sehnen, wie sie es noch nie gefühlt hatte. Aber, wie man so schön sagt, ‚Wat dem enen sin Uhl, is dem andren sin Nachtigall‘, der Hahn brauchte nur an sein krächzendes Kikerikiii zu denken, um einen – um in der Sprache der Musik zu bleiben – einen schier unerträglichen Kontrapunkt zu empfinden. Der Abgrund zwischen Kunst und Land­wirtschaft war nicht zu überbrücken. Der Hahn hatte früher nie über den Klang seiner Stimme nach­gedacht. Erst die Schmeicheleien des Fuchses hatten seine Selbsteinschätzung in Höhen katapultiert, von denen sie jetzt mit der Wucht eines Meteoritenein­schlags auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeschleudert wurde. Ja, er gehörte nicht in die Welt der Kunst. Sein Krähen war ein hässliches Drohge­schrei, um anderen Hähnen seine Kampfbereitschaft zu beweisen. Aus war der Traum vom ‚verehrten Meister‘. Alles war Lug und Trug gewesen. Und wie er­bärmlich leicht hatte er es dem Fuchs gemacht. Ja, der war schlau. Er hatte ihn in seiner eigenen Eitelkeit gefangen. Eulalia hatte völlig Recht ge­habt, als sie sagte, er, der Hahn wäre dem Fuchs nicht fett genug gewesen; ‚mageres Klap­pergestell‘ hatte sie ihn genannt.

Die Enten waren aufrichtig erschüttert von Mimis grausamen Schicksal, aber im Stillen dachten sie doch: ‚Glück gehabt. Es hätte uns genauso treffen können‘.

Das Schwein hatte von allen die geringsten Probleme. Im Gegenteil: es bewun­derte immer noch die Klugheit des Fuchses. Wie einfach hatte er ihm unwider­legbar klar gemacht, was der Bauer mit ihm vorhatte. Und jetzt nahm es sich wieder ganz fest vor, weniger zu fressen und den Bauer so zu überlisten, wie der Fuchs es gelehrt hatte. Ob dieser Vorsatz wohl länger anhielt als die vorigen?

 

Vorneweg das Pferd mit hängendem Kopf - still und jeder in seine Gedanken versunken - zog die ganze Schar, wie sie gegangen waren, wieder in den Hof ein. Nur ohne Fuchs und ohne Mimi. Die Heimkehrer gingen gleich in den Stall und schlossen die Tür fest zu. Da es inzwi­schen Abend geworden war, wollten sie an nichts weiter denken und nur noch schlafen. Und manch einer wäre am liebsten nicht wieder aufgewacht.

Und wie sah es derweil bei der Fuchsfamilie aus? Wie gesagt, es waren noch keine zwei Tage her, dass die Fuchsmutter – so soll sie jetzt wieder in ihrer familiären Funktion benannt werden – ihre Kinder verlassen hatte. Aber den Kindern ging es wie der Mutter – alle hatten das Ge­fühl, es sei eine Woche gewesen. Für die Mutter eine Woche der Aufregung und Anspannung – es war ein gewagtes Spiel, das sie da auf die Bühne des Lebens gebracht hatte - und für die Kinder eine Woche nagenden Hungers.

Nach dem ersten Jubelschrei war nicht mehr viel zu hören. Alle waren damit beschäftigt, der guten Mimi wenigstens die meisten Federn auszureißen, um so schnell wie möglich an das saftige Fleisch zu kommen. Mimi war nicht die jüngs­te gewesen, schon eine Oma. Und das Fleisch war ziemlich hart und zäh und gar nicht saftig.

„Das kräftigt ihre Beißmuskeln“, dachte die Mutter. Wenn die Kinder groß sein würden, könnte ein starkes Gebiss sehr nützlich sein, um ein Beutetier kurz und schnell vom Leben zum Tod zu befördern. Sie stellte sich vor, was wohl geschehen wäre, wenn Mimi nach dem Biss um Hilfe geschrien hätte. Nicht auszudenken!

Im Übrigen erleichterte eine gute Fettschicht unter Mimis Haut das Schlucken auch von größe­ren unzerkauten Fleischbrocken. Heißa! Das war doch mal was anderes als dieses Minihäppchen, das eine Maus zu bieten hat.

Nach diesem Mal hatten alle Kinder runde volle Bäuche und schliefen dann bis zum Mittag des nächsten Tages.

Von Mimis Resten konnten sie noch eine ganze Woche leben.

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Tag der Veröffentlichung: 07.12.2013

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