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Leseprobe

DAS KABINETT DES BÖSEN

HEDI VOSS ERMITTELT

BUCH 2

MIRIAM RADEMACHER

 

 

 

 

 

In Erinnerung an meine Großmutter Charlotte und an das Eckernförde meiner Kindheit.

PROLOG

»Sind das etwa Nüsse, die ich da sehe?«

Laut hallten die Worte durch die modern eingerichtete Küche und ließen Jost Balzer, der gerade einige Erdbeeren in Spalten schnitt, zusammenfahren. Der Geruch von frisch gemahlenen Haselnüssen hing noch in der Luft, als er den Kopf hob, um zu sehen, wer ihn da so rüde bei der Arbeit unterbrach. Da entdeckte er Jan-Ole Zwikker, seinen heutigen Auftraggeber, der mit weit aufgerissenen Augen auf der Schwelle stand und tat, als ob er Mühe hätte, nicht sofort in Ohnmacht zu fallen. Gleichzeitig wies der Mann mit anklagendem Blick in Richtung der auf einem Tablett angerichteten sechs Dessertteller, die Jost für den letzten Gang des Abends bereitgestellt hatte. Einige Nüsse lagen bereits dekorativ am Tellerrand, es fehlte nur noch die Portion Mandelmousse, gekrönt von süßen Erdbeerspalten.

»Guter Mann, Nüsse gehen auf gar keinen Fall. Rosalind reagiert allergisch auf das Zeug. Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, ihr Nüsse ins Haus zu schleppen?«

Jost legte das Messer zur Seite und stellte sich schützend vor den von ihm kreierten Nachtisch. »Aber wir beide haben doch am Telefon lang und breit über die Menüfolge für dieses Dinner gesprochen. Warum haben Sie denn da keine Einwände erhoben?«

»Weil von Nüssen in unserem Gespräch nie die Rede war«, behauptete Zwikker und zog laut hörbar die Nase hoch. Dabei wedelte er mit den Händen in der Luft herum, als ob er entweder das leidige Dessert oder Jost selbst aus der Küche verscheuchen wollte. »Nie hätte ich Rosalind zu ihrem Geburtstag ein derart tödliches Naschwerk bestellt.«

»Das haben Sie wohl«, entgegnete Jost und wischte sich den Erdbeersaft, der auf seinen Fingerkuppen zu kleben begann, an einem Küchentuch ab. »Allein dadurch, dass Sie mir nicht widersprochen haben, als ich die Mandelmousse vorschlug. Oder was stellen Sie sich unter dem Begriff Mandeln vor?«

Jan-Ole Zwikker stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Und was machen wir nun? So etwas können wir ihr jedenfalls nicht vorsetzen. Da verschenke ich einmal im Leben einen Caterer zu einer Geburtstagsparty, und das kommt dabei heraus: kein Dessert.«

»Es werden ja nicht alle Gäste eine Nussallergie haben.« Jost gab sich große Mühe, nicht allzu ungeduldig zu klingen. Dieser Auftrag, so nervig sein Kunde auch war, stellte für ihn und sein noch junges Unternehmen einen gewaltigen Sprung nach vorn dar. Denn nur ein Zimmer weiter saßen, um einen massiven Eichentisch herum, mehrere einflussreiche Persönlichkeiten, von denen jeder Einzelne Jost für die Zukunft neue Wege ebnen konnte. Also würde er dieses Dinner auf keinen Fall versauen. Seine Aufgabe war es, die Anwesenden satt und zufrieden zu machen. Und das würde ihm auch gelingen.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« Peter, seine zuverlässige Kraft, die heute bei Tisch servierte und sich dafür an diesem heißen Augusttag in ein tailliertes weißes Jäckchen mit Goldknöpfen geworfen hatte, als ob sie sich auf einer Kreuzfahrt befänden, kam mit einer leeren Weißweinflasche herein und sah ihn fragend an.

»Allerdings.« Jost versuchte, die Fassung zu bewahren. »Wie es scheint, haben wir ein paar Nüsse zu viel in diesem Raum, aber das lässt sich regeln.«

Während Peter ihn noch verblüfft anstarrte, öffnete Jost bereits den fremden Kühlschrank und warf einen prüfenden Blick auf die Vorräte der Hausherrin. Diese Küche gehörte dem heutigen Ehrengast, Rosalind Bergmann. Jost war ihr in ihrem eigenen Haushalt von Jan-Ole Zwikker für den heutigen Abend zum Geschenk gemacht worden. Der Auftrag bestand aus einem mehrgängigen Menü, das vor Ort frisch zubereitet wurde. Zweifellos eine tolle Geschenkidee, die verriet, wie gut Zwikker die junge Frau kannte, die vermutlich nicht viel vom Kochen hielt. Jost hatte den Eindruck, dass diese modern eingerichtete Küche heute zum ersten Mal voll ausgelastet worden war. Viele nützliche Geräte hatte er fabrikneu und noch originalverpackt vorgefunden. Nicht einmal der Pürierstab war hier bisher zum Einsatz gekommen, und der Kühlschrankinhalt des Geburtstagskindes hatte tatsächlich kaum mehr zu bieten als Fertiggerichte und Mineralwasser.

Zu seiner Erleichterung entdeckte Jost nun allerdings einen angebrochenen Plastikbecher, der Magerquark enthielt. Dem Geruch nach war dieser noch genießbar und konnte in Kombination mit der von ihm mitgebrachten Sahne und den frischen Erdbeeren, die eigentlich nur der Dekoration dienen sollten, eine nette Alternative zur Mandelmousse bieten. Eine Süßspeise, gekrönt mit einer brennenden Kerze, um anzudeuten, dass die Extrawurst, beziehungsweise der Extra-Quark keine Notlösung, sondern Absicht und ausschließlich dem Geburtstagskind vorbehalten war.

»Geben Sie mir nur ein paar Minuten Zeit. Ich bringe das in Ordnung.« Jost wandte sich zu Jan-Ole Zwikker um, der noch immer auf der Schwelle zur Küche stand und ihn offenbar beobachtet hatte. Das Ziegenbärtchen des Mannes zuckte nervös.

»Das will ich hoffen. Schließlich habe ich einen Profi angeheuert, oder etwa nicht?« Sein Auftraggeber warf den Kopf in den Nacken und vollführte eine perfekte Drehung, um wieder zu den anderen Gästen zu gehen.

Zurück blieb Jost, der einen leichten Anflug von Stress verspürte. Und natürlich Peter.

»Kann ich dir irgendwie zur Hand gehen?«, fragte ihn dieser.

»Nein, das schaffe ich allein«, versicherte Jost. »Ich zaubere nur rasch ein zusätzliches und völlig nussfreies Dessert für Frau Bergmann. Das ist gar kein Problem. Aber du könntest mir ein paar Minuten verschaffen. Schenke den Wein etwas langsamer und umständlicher als gewöhnlich nach. Ich komme schon zurecht.«

Tatsächlich war die Quarkspeise schnell zusammengerührt, färbte sich dank der reifen Erdbeeren dezent rosa und sah auf ihre Weise kaum weniger ansprechend aus als die Mandelmousse auf den übrigen Tellern. Nur eine kleine Geburtstagskerze als Topping, die alles wie Absicht hätte erscheinen lassen, ließ sich in den Schubladen und Schränken der fremden Küche natürlich nicht auftreiben.

Fieberhaft dachte Jost über eine Alternative nach. Da erinnerte er sich an die Wunderkerzen, mit denen er bei einem seiner letzten Aufträge eine Eisbombe geschmückt hatte. Einige davon mussten noch in der Packung stecken, und die lag bestimmt in seinem Transporter.

Jost hätte auf Peters Rückkehr warten können, damit dieser für ihn zum Wagen lief, doch da die Mandelmousse in der Hitze des Augusttages drohte, die Form zu verlieren, erledigte Jost das selbst. Rasch brachte er die Treppe hinter sich und trat durch die Haustür ins Freie. Die schwüle Luft traf ihn wie ein Schlag. Schwer atmend erreichte er seinen Wagen, riss die Beifahrertür auf und öffnete das Handschuhfach. Dort lag die gesuchte Pappschachtel, und eine einzelne Wunderkerze war tatsächlich noch darin.

Zufrieden kehrte Jost damit in die Küche im ersten Stock zurück, bohrte den Metallspieß in eine große Erdbeere und platzierte beides in der Quarkspeise, die nun selbst mittig zwischen den anderen Tellern mit Mandelmousse auf dem Tablett stand.

Gerade als Jost das Feuerzeug zückte, kam Peter herein und deutete einen leisen Applaus an. »Du bist ein Künstler, Chef. Ich staune immer wieder über dein Tempo.«

»Gute Vorbereitung ist alles. Und ein wenig Glück gehört auch dazu.

Als Jost kurz darauf selbst mit seiner funkensprühenden Kreation das Esszimmer betrat, herrschte dank zugezogener Gardinen vor der Balkontür perfekte Dämmerstimmung. Nur auf dem Tisch brannten die Kerzen. Rosalind Bergmann thronte am Kopf der Tafel. Ihre Garderobe hatte den gleichen Farbton wie die Quarkspeise, und ihre Augen begannen zu strahlen, als er geradewegs auf sie zuhielt.

Ein Raunen ging durch die Gesellschaft, Handys wurden gezückt, Fotos geschossen, und irgendjemand pfiff leise Happy Birthday.

Als er die Quarkspeise vor sie hinstellte, reckte Rosalind sich zu ihm empor und küsste ihn übermütig auf die Wange. Jost spürte die Wärme ihrer Lippen und wie er errötete. Letzteres verstärkte sich noch durch die auf ihn und sie gerichteten Handykameras, die leise klickten.

»Dies ist mein schönster Geburtstag«, flüsterte sie und sah ihm in die Augen. »Das habe ich nur Ihnen zu verdanken.« Nun wandte sie sich mit einer überschwänglichen Geste ihren fünf Gästen zu. »Und euch danke ich natürlich auch! Ihr macht mich alle so glücklich, einfach, weil ihr da seid.«

Jost wandelte wie auf Wolken zurück in die Küche, mischte Sahne, Likör und Wodka mit kaltem Kaffee und merkte kaum, wie er alles auf die bereitgestellten Cocktailgläser verteilte.

Er glaubte noch, den zarten Kuss zu spüren, als die Frau eine knappe halbe Stunde später starb. Die hysterischen Schreie der Damen trieben ihn an den Ort des Geschehens, wo er fassungslos beobachtete, wie ein bärtiger Mann der nach Luft ringenden Rosalind einen Finger in den Hals schob, um sie zum Erbrechen zu zwingen. Jost selbst stand wie erstarrt und konnte nur tatenlos zusehen. Noch immer hing der Geruch der abgebrannten Wunderkerze in der Luft und erinnerte an die Partystimmung, die sich soeben verflüchtigt hatte.

Dann trat Jan-Ole Zwikker neben ihn und fragte: »Was zur Hölle haben Sie getan?«

Jost blickte verwirrt auf. Wollte man ihm etwa einen Vorwurf machen? Von ihm hatte Rosalind ganz bestimmt keine einzige Nuss erhalten.

Als wenig später der herbeigerufene Notarzt den Tod von Rosalind Bergmann feststellte, fühlte er sich noch immer völlig unschuldig. Aber er bemerkte das Misstrauen in den Mienen der anderen. Und er begann langsam zu ahnen, in welchen Schwierigkeiten er steckte.

DER GEKAUFTE FALL

1

Hedi Voss, Polizistin im Erziehungsurlaub, die erst im vergangenen Herbst einen verzwickten Mordfall zur Aufklärung gebracht hatte, saß auf einem Teppichboden und musterte den Kotzfleck auf ihrer Jeans. Ihrer Meinung nach handelte es sich bei dem, was das grinsende Kleinkind mit den roten Locken gerade über sie gespuckt hatte, um die Überreste eines Löffelbiskuits. Doch das konnte nicht sein, denn in dieser Krabbelgruppe des Familienzentrums achtete man angeblich auf zuckerfreie Ernährung.

»Oh, das tut mir leid«, rief die ältere, aber nicht minder rotgelockte Ausgabe des zahnlos grinsenden Mädchens und kam herbeigeeilt. Sie reichte Hedi ein nach Kamille duftendes Feuchttuch. »Da hat meine Maike wohl den geriebenen Apfel nicht gut vertragen.«

Hedi wollte die Mutter der süßen Maike gerade darauf aufmerksam machen, dass Apfelmus völlig anders aussah und auch unter dem Einfluss von Magensäure nicht nach Keks roch, als sie den bittenden Blick der jungen Frau auffing.

»Halb so wild«, murmelte Hedi, wischte sich rasch die Brocken von der Jeans und ließ sie im Mülleimer verschwinden. »Mein Riko spuckt geriebenen Apfel genau schnell aus, wie ich ihn in das Kind hineinlöffle.«

»Wo ist denn dein Riko?« Die Rothaarige mit dem runden Gesicht blickte sich suchend im Spielzimmer um.

Auch Hedi prüfte daraufhin ihre Umgebung, konnte ihren Sprössling aber nirgendwo entdecken. Riko war jetzt fast acht Monate alt und bewegte sich auf allen vieren manchmal schneller fort, als es ihr möglich war, ihm auf zwei Beinen zu folgen. Auch jetzt hatte der Junge die erstbeste Gelegenheit zur Flucht ergriffen und war von der Bildfläche verschwunden.

»Weit wird er nicht gekommen sein, er kann die Tür ja nicht öffnen.« Die Stimme von Maikes Mutter hatte einen tröstenden Tonfall angenommen. »Ich bin übrigens Berit. Die jüngste Mutter in dieser Gruppe und in den Augen der meisten absolut unfähig, ein Kind aufzuziehen, weil ich das Vormittagsprogramm des Kinderkanals liebe, keine angesagten Ratgeber lese und Maikes Karottenbrei nicht selber koche.«

Und weil du Biskuitkekse mit Äpfeln verwechselst, dachte Hedi und gab der anderen die Hand.

»Ich bin Hedi. Neu hier, und wenn du in den Augen der anderen wegen solcher Kleinigkeiten als unfähig giltst, dann bin ich für sie vermutlich so etwas wie der Antichrist und gekommen, um dir den Rang abzulaufen.«

»Das wäre schön.« Berit seufzte und drückte ihrer Tochter verstohlen ein Stück Keks in die winzige Faust. »Und was hast du so getan, bevor das Schicksal dich zur Mutter gemacht hat?«

»Ich war bei der Polizei«, erwiderte Hedi und sah sich mit finsterer Miene um. »Doch seit Rikos Geburt fahnde ich nur noch nach verlorenen Schnullern und Söckchen. Jetzt, da er mobil ist, darf ich auch noch nach meinem Kind suchen. Es ist zum Auswachsen.«

»Ich helfe dir. Irgendwo muss er ja sein. Wie sieht er denn aus?« Berit sprang auf und begann zwischen den Unmengen an Spielzeug, das überall im Raum verteilt war, herumzuwühlen.

»Wie ein Baby«, meinte Hedi und schob ihrerseits einige überdimensionale Bauklötze aus Schaumgummi beiseite.

Doch Riko steckte nicht zwischen Stofftieren und Legosteinen. Sosehr Berit und Hedi sich auch bemühten, sie konnten das propere Kleinkind mit dem fast kahlen Schädel nirgends finden.

Erst der Schrei einer weiteren Mutter, gefolgt von dem Ausruf »Da liegt ja einer drin!« brachte sie auf die richtige Spur.

Und so entdeckte Hedi ihren Sohn am Grund des Bällebads, wo er reglos unter den bunten Plastikkugeln gelegen und nach oben gestarrt hatte.

»Na, der versteht es aber, anderen einen Schreck einzujagen. Ich dachte schon, er sei unbemerkt erstickt. Sie haben eine Aufsichtspflicht, ist Ihnen das klar?« Die nicht besonders glückliche Finderin von Riko sah Hedi vorwurfsvoll an, als ob sie ihrem Kind so einen Unsinn absichtlich beigebracht hätte.

Da Hedi sich aber keiner Schuld bewusst war, verteidigte sie sich nicht, hob Riko hoch und trug ihn zurück auf den Teppich, wo sie ihm einen Bauklotz aus dem Mund pulte und ihn fragte: »Was haben wir zwei hier eigentlich verloren? Was war das für eine blöde Idee? Als ob ich mich in einer Krabbelgruppe voller Vorzeigemütter wohlfühlen könnte.«

Ihr Sprössling erwiderte nichts, sondern streckte nur seine kleinen Finger nach dem besabberten Bauklotz aus.

Riko war nicht von der gesprächigen Sorte. Hedi wusste nicht, ob er zu faul war, auch nur einen Laut von sich zu geben, oder ob er in seiner Entwicklung bereits hinterherhinkte. Hätte ein Kind von acht Monaten sich nicht zu einem zustimmenden Grunzen, ein paar sinnlos aneinandergereihten Silben oder sogar einem ersten verständlichen Wort verleiten lassen müssen?

Hedi sah sich verstohlen um. Die Kinder der anderen Mütter schienen ihr etwa im gleichen Alter zu sein. Sie schrien wie am Spieß oder brabbelten vor sich hin. Riko tat nichts von alledem. Aus irgendeinem Grund war ausgerechnet sie mit einem genügsamen Kind gesegnet worden. Doch inzwischen war es ihr im Alltag zu ruhig, und das war auch der Grund, der sie in diese Lage gebracht hatte: die Sehnsucht nach anspruchsvoller Konversation und Gesellschaft. Alles Dinge, die sie zusammen mit ihrem Berufsleben eingebüßt hatte.

»So, jetzt treffen wir uns im Schlusskreis und singen ein paar hübsche Lieder«, rief gerade eine der übrigen Mütter, die gern den Ton anzugeben schien.

Hedi setzte sich folgsam zu den anderen, musste aber feststellen, dass sie die infantilen Liedchen und albernen Fingerspiele nicht kannte. Große Uhren machten also ›tick tack‹? War das eine Weisheit, die ihr Kind oder sie selbst irgendwie weiterbrachte? Hedi seufzte und schielte auf ihre eher kleine Armbanduhr. Als der große Zeiger ohne ›tick‹ und ›tack‹ das Ende dieser Tortur ankündigte, sprang sie auf und stürmte mit Riko auf dem Arm hinaus. Noch im Gehen verpackte sie ihr Kind winterfest und wasserdicht in einen himmelblauen Schneeanzug, legte Riko in den Kinderwagen und floh mit ihm ins Freie.

Draußen empfing sie nasskaltes Januarwetter. Eine Bö riss einzelne Strähnen ihrer blonden Haare aus dem unordentlichen Dutt auf ihrem Kopf und trieb ihr die Tränen in die Augen. Hedi blinzelte. Sie war dieses Wetter gewöhnt. Eckernförde ohne Wind war fast nicht vorstellbar. Zumindest nicht in der kalten Jahreszeit. Entschlossen, allem zu trotzen, marschierte sie über den verlassenen Marktplatz.

Nicht viele Dinge wirkten so trostlos wie eine Urlaubsstadt an einem kalten Regentag. Eckernförde mit seiner hübschen Architektur gab sich Mühe, eine Ausnahme zu sein, und trotzdem saß der Großteil der Einwohner hinter zugezogenen Gardinen und wartete auf den Frühling. Das würden auch sie und Riko von jetzt an tun: auf bessere Zeiten warten. Diese Krabbelgruppe jedenfalls war ein Reinfall gewesen.

»Warte«, hörte sie eine Stimme hinter sich rufen, und Hedi verlangsamte ihre Schritte. Geduldig wartete sie, bis Berit und Maike, beide mit poppigen Pudelmützen auf dem Kopf, zu ihr aufgeschlossen hatten. Das Baby nagte schon wieder an einem Keks. »Kommst du nächstes Mal wieder?«

»Ich weiß nicht genau.« Gerade hatte sie es noch gewusst, aber in den Worten der anderen hatte so etwas wie eine Bitte mitgeschwungen.

»Du musst wiederkommen«, sagte Berit prompt. »Das war das erste Mal, dass sie zum Schluss keine abfällige Bemerkung in meine Richtung gemacht haben. Die anderen Mütter, meine ich.«

»Gern geschehen.« Sie hatte es ja gewusst. Riko und sie gehörten nicht in eine Krabbelgruppe.

»Hast du Lust, mit uns zu kommen?«, fragte Berit unvermittelt und sah sie erwartungsvoll an. »Am Stadtrand findet heute eine ganz besondere Haushaltsauflösung statt. Da muss ich einfach hin.«

Hedi wollte gerade antworten, dass sie zu allem bereit war, was sie für ein paar Stunden von ihrem Mutterglück ablenkte, sogar Hochseilakrobatik, wenn es sein musste, doch Berit plapperte bereits weiter.

»Bevor Maike kam, war ich nämlich Immobilienmaklerin. Na ja, eigentlich mehr so eine Art Hilfskraft, aber ich hatte großen Spaß an meinem Job. An dem Haus, das heute ausgeräumt wird, bin ich oft vorbeigefahren, und es hat es mir irgendwie angetan. Es ist so ein niedliches kleines Ding mit Sprossenfenstern und Efeu, der die Fassade hochkriecht. Drinnen war ich nie, weil der Besitzer so ein menschenscheuer Miesepeter war und nichts vom Verkauf wissen wollte. Aber jetzt ist er tot, und ich kann mich endlich einmal in dem Schmuckstück umsehen. Komm einfach mit. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du es mit eigenen Augen siehst.«

Hedi folgte der ununterbrochen redenden Berit bereits in eine Seitenstraße, wo ein nagelneuer VW auf sie beide wartete und fröhlich quiekte, als Berit auf die Fernbedienung drückte. Der Kofferraum war so riesig, dass Rikos Kinderwagen mühelos darin Platz fand. Hedi setzte sich mit ihrem Sohn auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. In Ermangelung eines zweiten Kindersitzes würde sie Riko festhalten müssen. Doch unzählige Kinder hatten Fahrten wie diese überlebt, bevor Kindersitze und Gurtpflicht auch nur erfunden waren. Es würde schon nicht ausgerechnet jetzt etwas schiefgehen.

»Du warst keine Verkehrspolizisten, oder?« Berit setzte sich hinter das Steuer.

»Wie kommst du darauf?«

»Nur so.« Sie drehte den Zündschlüssel. »Rede ich zu viel? Entschuldige, ich habe schätzungsweise seit Monaten nicht mehr in ganzen Sätzen gesprochen. Die anderen Mütter in der Krabbelgruppe geben mir immer so ein Gefühl der Unzulänglichkeit, da bin ich lieber still.«

»Ich weiß genau, was du meinst.« Hedi grinste. »Riko gibt mir manchmal exakt das gleiche Gefühl. Er schaut mich dann auf so mitleidige Weise an, als ob er alles besser wüsste.«

Nach nur wenigen Minuten erreichten sie ihr Ziel, und Berit parkte in zweiter Reihe vor einem verwitterten Gartenzaun. »Mist, offensichtlich sind schon ziemlich viele Interessenten da. Ob ich hier so stehen bleiben kann?«

»Klar, du bist Mutter im Einsatz«, meinte Hedi und stieg zusammen mit Riko aus dem Wagen.

Nach nur einem Blick verstand sie Berits Begeisterung für das kleine Häuschen inmitten eines Gartens mit altem Obstbaumbestand. Erbaut aus rotem Backstein, mit hölzernen Fensterläden umwehte diesen Ort ein Hauch von Nostalgie. Hedi selbst hätte ihre Dreizimmerwohnung am Domstag jederzeit gegen dieses etwas heruntergekommene Gebäude eingetauscht.

»Sieh mal! Da trägt jemand einen alten Schaukelstuhl aus dem Haus«, rief Berit. »Den hätte ich auch gern gekauft. Komm, wir stürzen uns ins Getümmel.«

Die Kinder auf dem Arm traten sie durch das Gartentor und wurden an der Haustür von einer ernst dreinblickenden Person in Trauerkleidung in Empfang genommen. Fast reflexartig murmelte Hedi einige Worte der Anteilnahme gegenüber der Frau und kam sich vor wie eine Leichenfledderin, als sie nun in die Diele trat, in der jemand gerade den Garderobenspiegel von der Wand nahm.

Der Weg in dieses Haus und zu seiner Einrichtung hatte für sie alle über die Leiche eines armen Menschen geführt, dem all diese Dinge etwas bedeutet hatten. War es nicht schäbig, über seinen Besitz herzufallen und ihn auseinanderzureißen? Andererseits konnte man wohl kaum alles so belassen, wie es war, denn die Welt drehte sich nun mal weiter.

»Hedi, sieh dir nur diese Kristallgläser an«, rief Berit aus einem der angrenzenden Räume. »Ich glaube, die kaufe ich.«

»Ich dachte, dich interessiert nur die Architektur.« Hedi stellte sich neben sie und begutachtete die zahlreichen Gläser auf dem Tisch. Sie waren tatsächlich prachtvoll.

»Schöne Dinge gefallen mir eben auch. Oh, die sind aber teuer.« Berit hatte ein Preisschild an einer der Sektflöten bemerkt. »Ach, was soll‘s? Ich nehme sie trotzdem. Und zwar alle.«

Nun warf auch Hedi einen Blick auf den handbeschrifteten Aufkleber und sog scharf die Luft ein. »Alle? Berit, bist du zufällig reich?«

»Ich nicht, aber der Immobilienmakler, den ich geheiratet habe«, erklärte sie freudestrahlend. »Erst kam der Job, dann die Liebe. Fast wie im Märchen.«

»So muss es wohl sein«, murmelte Hedi und schritt mit Riko auf dem Arm in den nächsten Raum. Er enthielt nur noch wenige Möbelstücke und gab keinen Aufschluss über seinen Verwendungszweck. Konnte es ein Schlafzimmer gewesen sein? Der Ausblick in den Garten war wunderschön und bestimmt dazu angetan, die Stimmung schon am Morgen zu heben. Da verrieten ihr die Anschlüsse in der Wand, dass sie sich in der Küche befinden musste. Wie immer sie einmal eingerichtet gewesen sein mochte, das Mobiliar hatte bereits einen Liebhaber gefunden.

Gleich gegenüber entdeckte sie eine weitere Tür.

Hedi überlegte, ob sich dahinter eine Speisekammer verbarg, und drehte den Knauf. Als das Schloss aufsprang und sie eintrat, blieb sie augenblicklich wie angewurzelt stehen. »Du liebe Güte, was ist das denn?«

Riko, eine Faust in den Mund geschoben, wirkte kaum weniger erstaunt. Er verlangte, auf den Boden gesetzt zu werden, was Hedi nach kurzem Zögern auch tat.

»Ist das eine private Geisterbahn?« Berit war ihr gefolgt und sah sich ebenfalls verwundert um. »Oder hat hier jemand Schaufensterpuppen gesammelt?«

»Es ist mehr als das«, entfuhr es Hedi, und sie trat einen Schritt auf eines der hölzernen Mannequins zu, deren Körpermitte ausgepolstert war, als würde sie in Kürze eine Babypuppe gebären. Zu deren Füßen, die auf einen flachen Sockel geschraubt waren, lag ein zerbrochener Teller samt undefinierbarer brauner Masse, konserviert in Gießharz. »Hier hat jemand irgendein Ereignis nachgestellt. Schau nur: Diese Puppen stehen alle irgendwie miteinander in Kontakt. Wie Schauspieler auf einer Bühne.«

»Die da aber nicht«, meinte Berit und deutete auf eine Puppe, die auf die Knie gesunken war und sich mit beiden Händen an den Hals griff. In ihrem rosa Kostüm und mit der langhaarigen Perücke sah sie aus wie eine überdimensionale Barbie. Nur, dass sie nicht blond, sondern brünett war.

Berit betrachtete sie stirnrunzelnd. »Es hat fast den Anschein, als ob es ihr nicht gutginge.«

Hedi kramte ihr Handy aus der Innentasche ihrer Winterjacke und schoss Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie nahm auch die Möbel im Raum auf, die Teil der Inszenierung zu sein schienen. Da gab es eine Festtafel, auf der abgebrannte Kerzengestecke standen, eine Sitzgruppe vor einem elektrischen Kamin und ein Regal ohne Bücher, dafür aber mit reichlich Dekorationsartikeln.

Als sie die Kamera sinken ließ, stand die Frau im schwarzen Kleid neben ihr, die sie beim Betreten des Hauses begrüßt hatte. Auf dem Arm trug sie ein Baby mit Tirolerhut auf dem Kopf und einer dunklen Sonnenbrille im Gesicht. Das Kind kam Hedi vage bekannt vor.

»Gehört das zufällig Ihnen?«, fragte die Dame mit erhobenen Augenbrauen und hielt ihr das Baby hin.

Jetzt erkannte auch Hedi ihren Sohn und nahm ihn dankend samt Hut und Brille in Empfang. Dabei deutete sie mit einem Kopfnicken zu den Puppen. »Was ist das hier alles? Hat es eine besondere Bedeutung?«

»Das Kabinett mit all seinen Puppen und der Einrichtung hat mein Bruder selbst gestaltet und bis zu seinem Tod täglich viel Zeit darin verbracht.« Die Miene der Frau blieb völlig ausdruckslos. »Es zeigt den Moment, der sein Leben veränderte. Der aus ihm diesen früh gealterten, verbitterten Mann gemacht hat. Die Puppen stellen einen Mord nach, den man ihm angelastet hat.«

AUGUST 2011

JOST BALZER

»Machen Sie es uns nicht so schwer.« Der Beamte der Kriminalpolizei, der sich Jost als Kommissar Hauser vorgestellt hatte, gab einen übertrieben lauten Seufzer von sich. »Rosalind Bergmann ist tot, die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun. Und auch, wenn uns noch keine Laborberichte vorliegen, so deutet doch alles auf einen Giftmord hin, und Sie sind der Koch gewesen!«

»Ich habe ein Catering-Unternehmen.« Jost hatte das entsetzliche Gefühl, dem Mann immerzu dasselbe zu sagen. Doch wie konnte er etwas zu den Ermittlungen beitragen, wenn er rein gar nichts über die Tat wusste. »Ich kam an diesem Tag zu Frau Bergmann, um ihr Geburtstagsessen auszurichten. Es war eine Überraschung, die einer der Gäste, ein Herr Zwikker, organisiert hatte. Alle Gäste waren eingeweiht, nur das Geburtstagskind nicht. Außer mir wussten demnach noch fünf weitere Personen, dass in diesem Haus an diesem Abend eine Party geplant war. Warum stürzen Sie sich auf mich? Ich habe doch keinen Grund, meine Kunden zu vergiften.«

Eine Stille trat ein, an deren Ende Jost auf eine Frage hoffte, die er nicht schon gefühlte zehn Mal beantwortet hatte. Doch er wurde enttäuscht.

»Was servierten Sie zur Begrüßung?«, fragte Hauser.

»Einen Cocktail mit Sekt, Limonade und frischen Beeren«, leierte Jost seine Antwort herunter. »Danach gab es Lachspastete an Meerrettichschaum. Zum Hauptgericht servierten wir Grauburgunder. Es gab Rinderscheibchen in Orangenhauchsauce und Apfel-Zucchini mit Kräuterbouquet.«

»Dann kam das Dessert«, unterbrach ihn Hauser. »Eine Mandelmousse, soviel wir wissen.«

»Aber das hat Frau Bergmann nicht gegessen, weil sie Allergikerin ist. Ich habe deshalb eine Quarkspeise für sie improvisiert.«

»War das Menü mit dem Auftraggeber nicht abgesprochen?«

»Schon, aber entgegen seiner Behauptung hat er mir gegenüber am Telefon keinerlei Allergien erwähnt.«

Hauser verzog keine Miene. »Wir haben so viele Reste wie möglich von allem, was das Opfer zu sich genommen hat, sichergestellt. Natürlich auch den Inhalt des Cocktailglases, das sie noch in der Hand hielt, bevor sie zusammenbrach. Wenn sich irgendwo in diesen Speisen oder Getränken ein Gift nachweisen lässt, das zum Tod von Frau Bergmann passt, werden wir es finden. Ihr Leichnam wird obduziert, bald werden wir also wissen, wonach wir suchen müssen. Und dann habe ich Sie am Haken, Balzer.«

»Ich habe doch gar nichts getan.« Auch das hatte er jetzt schon mehrfach beteuert, nur schien man ihm einfach nicht glauben zu wollen. »Warum konzentrieren Sie sich nicht auf die Gäste? Die zählen ja wohl zu ihrem näheren Umfeld und könnten ein Motiv haben.«

»Wer von denen soll denn Gelegenheit gehabt haben, das Gift unterzumischen?« Hauser hob die Brauen und stützte sein Doppelkinn in die Hand. Balzer bemerkte, dass der Kommissar in dieser Pose eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Alfred Hitchcock aufwies.

»Was weiß denn ich? Irgendjemand muss es jedenfalls getan haben.«

Der Faltenwurf auf Hausers Stirn verstärkte sich. »Hatten Sie in der Küche Besuch von einem der Gäste?«

»Nicht direkt.« Jost dachte an Zwikker, der im Türrahmen gestanden hatte, und an all die Personen, die im Lauf der Feier an der offenen Küchentür vorbei in Richtung Badezimmer gegangen waren. Hereingekommen war niemand von ihnen. »Aber es könnte ja auch im Esszimmer geschehen sein. Irgendwann zwischen Lachspastete und Mandelmousse! Zeit genug hat der Täter ja wohl gehabt!«

»Je nach Gift hatte er davon mehr oder weniger.« Hauser starrte ihn unbeirrt an. »Aber gab es auch eine Gelegenheit, unbemerkt von den anderen Gästen zu agieren?«

»Fragen Sie mich das?« Jost spürte, wie seine Geduld nachließ. »Warum finden Sie es nicht selbst heraus?«

»Genau deswegen sitzen wir ja hier, Herr Balzer. Weil ich davon überzeugt bin, dass Sie derjenige sind, der mir sagen kann, wie sich die Dinge abgespielt haben. Fangen wir also nochmal ganz von vorn an.«

AUGUST 2011

QUELLE: YOUTUBE, DER POSSENREISSER

»Willkommen in Eckernförde. Ich stehe hier vor einem Haus, in dem gerade eine uns allen bekannte Persönlichkeit gestorben ist. Ja, Freunde der seichten Unterhaltung, Rosalind Bergmann ist tot. Fragt sich jemand unter euch, wer das überhaupt sein soll? Hey, sie war die schöne Brünette aus den Klatschspalten, die weder singen noch tanzen oder sonst irgendetwas besonders gut konnte. Aber sie war perfekt darin, zum richtigen Zeitpunkt in die Kamera zu kichern, gab auf ihren Social-Media-Kanälen gerne Schminktipps und ja, sie war wohl auch so etwas wie ein Model, da kenne ich mich nicht aus. Fakt ist: Sie war einmal berühmt, und sie ist gerade gestorben. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Und jetzt wimmelt es hier nur so von Polizisten, Sanitätern und natürlich seriösen Berichterstattern wie mir. Kleiner Scherz. Da drüben, die quicklebendige Blondine, die dort gerade so kamerawirksam neben dem Hauseingang steht und heult, ist übrigens das aufstrebende Magermodel Melanie Meister. Ehemals beste Freundin der Toten und bestimmt gerne bereit, in ihre Fußstapfen zu treten. Deswegen ist sie auch die Einzige, die hier, für alle Kamerateams am Gartenzaun gut sichtbar, ihre Show abzieht. Ob weitere B-Prominenz vor Ort ist, kann ich nicht sagen, aber dort drüben steht ein Wagen des Catering-Unternehmens Balzer in der Auffahrt. Vielleicht ist jemand von diesem Betrieb bereit, uns ein kleines Interview zu geben. Natürlich nur, wenn der Tod von Rosalind Bergmann nicht mit einer Lebensmittelvergiftung zusammenhängt, das wäre ziemlich peinlich, oder, Leute?«

Kommentare aus der Community:

Lea83: Feinfühlig wie immer. Ich weiß gar nicht, warum ich mir deinen Kanal überhaupt noch antue. Komischerweise bist du aber immer erschreckend gut informiert, sobald sich irgendetwas in Eckernförde und Umgebung ereignet.

MissModel: Rosalind? Echt? Oh Gott, ich habe sie gekannt. Sie war eine von den netten, ganz im Ernst. Überhaupt nicht eingebildet oder so. Sie hat mir mal ihren Lippenstift geliehen, als wir gemeinsam für eine Strandboutique über den Laufsteg gezockelt sind. Und sie hatte so eine traumhafte Figur. Ich wollte immer wissen, wie sie es anstellt, ihr Gewicht so problemlos zu halten.

Klassenziel: Das ist wirklich traurig. Ich mochte sie. Eine junge, ehrgeizige Frau, die auf ihre Art sehr unterhaltsam war.

Besucher22: Viele mochten Rosalind Bergmann. Ihre Beiträge auf YouTube und Facebook über die Branche waren sehr beliebt. Schade um sie. Woran sie wohl gestorben ist? Drogen? Kommt bei solchen Leuten ja häufiger vor, auch außerhalb von Hollywood.

2

»Ich habe schon mit einer ungewöhnlichen Einrichtung für Rikos Zimmer gerechnet, aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus.«

»Nicht wahr?« Hedi blickte sich zufrieden um. »Was für ein Glück für mich, dass Berit einen so enorm großen Kofferraum hat.«

Sie war von der Reaktion ihres sonst so geduldigen Gatten Lars nicht übermäßig überrascht. Das Kinderzimmer, in dem Riko sich derzeit ohnehin nur sporadisch aufhielt, da er viel lieber im Ehebett schlief, bot an diesem Winterabend einen wahrlich grotesken Anblick. Hedi war noch voll und ganz damit beschäftigt, ihre neuen Errungenschaften genau auszurichten, wobei sie immer wieder Blicke auf die Fotos in ihrem Handyspeicher warf. Riko selbst saß zwischen den Füßen einer weiblichen Schaufensterpuppe und versuchte, eine von der Schulter herabbaumelnde Handtasche zu erreichen.

»Was soll das?« Lars hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie erwartungsvoll an. »Bist du keine Polizistin mehr? Eröffnest du jetzt deine eigene Boutique? Zwischen Gitterbett und Wickeltisch?«

Hedi ließ von der bärtigen Puppe in der funkelnden Brokatweste ab und wandte ihre Aufmerksamkeit ihm zu. »Es ist ein Kriminalfall, und ich habe ihn heute gekauft. Bei einer Haushaltsauflösung.«

»Man kann einen Kriminalfall nicht kaufen.« Lars fuhr sich mit den Fingern durch das kurze dunkle Haar, zog sein Jackett aus, das er immer zur Arbeit trug, und hängte es über die Schultern der schwangeren Puppe.

»Lass das! Du verfälschst meinen Tatort«, fauchte Hedi und richtete die Arme der Frau wieder genau so aus, wie sie es im Kabinett gesehen hatte. »Es geht immerhin um Mord, da zählt auch die kleinste Kleinigkeit. Jost Balzer wusste das.«

»Wer um Himmels willen ist Jost Balzer?« Lars nahm seinen Sohn auf den Arm, der soeben versucht hatte, das in Kunstharz gegossene Artefakt in den Mund zu schieben. Dabei handelte es sich entweder um Schokoladencreme oder um einen Hundehaufen.

»Der Mann, dessen Hab und Gut heute verkauft wurde. Ich sagte doch, ich habe das alles aus einer Haushaltsauflösung. Und das ganze Ensemble hat weniger gekostet als die Kristallgläser, die Berit abgeschleppt hat. Berit ist übrigens meine neue beste Freundin. Endlich ein Mensch, der in ganzen Sätzen mit mir spricht. Wir besuchen dieselbe Krabbelgruppe.«

»Und beim gemeinsamen Herumkrabbeln auf dem Teppich habt ihr beschlossen, zusammen shoppen zu gehen, na toll. Und jetzt willst du den Mord an diesem Balzer aufzuklären?« Jost wirkte mit einem Mal weniger ärgerlich. »Hedi, ich weiß, wie langweilig es für dich ist, Hausfrau und Mutter zu spielen, aber es ist ja nicht für immer. Doch solange Riko noch nicht einmal laufen kann, fände ich es schön, wenn sich in seinem jungen Leben nicht alles um Mord und Totschlag dreht. Gib den Balzer-Fall ab, ja?«

Im gleichen Maß wie Lars sich beruhigte, fuhr Hedis Blutdruck hoch. »Jost Balzer war nicht das Opfer. Er war der Mörder. Jedenfalls hat das alle Welt geglaubt. Seine Schwester, die mir die Puppen verkauft hat, sagte, er versuchte bis zu seinem letzten Atemzug seine Unschuld zu beweisen. Dass es ihm trotz Freispruchs nicht gelang, hat Balzers Existenz vernichtet. Niemand engagiert einen Caterer, der in einen Giftmord verwickelt gewesen ist. Auch mir würde das Essen in einem solchen Fall nicht recht schmecken wollen.«

»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Lars stellte sich mitten zwischen die Schaufensterpuppen und betrachtete sie eine nach der anderen. »Wenn der Mörder feststeht, was ist das dann noch für ein Fall?«

»Er war unschuldig, und der wahre Täter wurde nie gefasst«, entgegnete Hedi und zupfte der Schwangeren die gesträhnte Perücke zurecht. »Jost Balzer starb als einsamer, verbitterter Mann. Er pflegte überhaupt keine Kontakte mehr, weil er sich so sehr schämte für etwas, das er nie getan hat. Seine Schwester sagte zu mir, er saß nur noch auf der Couch und fraß Mandelmousse, bis er fast platzte. Sie meinte, das süße Zeug war ebenfalls ein Nagel zu seinem Sarg. Aber wenn er sich gerade mal nicht in Selbstmitleid suhlte, dann beschäftigte er sich mit diesen Puppen. Sie stellen den Mord an Rosalind Bergmann nach. Eine junge Frau, die an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag durch eine Zyankalivergiftung starb. So kann man es zumindest in verschiedenen Quellen im Internet nachlesen. Morgen gehe ich aufs Revier und lasse mir diese Version von meinen Kollegen bestätigen.«

»Und wenn er es doch war?«, fragte Lars. »Bringst du den ganzen Ramsch dann zum Sperrmüll, wo er hingehört?«

»Er war es nicht«, protestierte Hedi. »Glaubst du, der echte Mörder würde sich wieder und wieder mit dem Tathergang auseinandersetzen und eine Art Gruselkabinett erschaffen, in dem alle Akteure von damals ihre Plätze eingenommen haben? Wenn du mich fragst, beweist gerade die Existenz der Puppen Balzers Unschuld.«

Lars zögerte. Dann nickte er und setzte Riko zurück auf den Boden. »Ja, das klingt logisch. Aber ich kann nicht dulden, dass unser Sohn inmitten überdimensionaler Barbies aufwächst. Riko bekommt ja ein Trauma.«

»Zwei Wochen.« Hedi verlegte sich aufs Betteln. »Gib mir zwei Wochen, um das Geheimnis der Puppen zu lösen. Nur weil Balzer es nie geschafft hat, heißt es nicht, dass es nicht möglich ist.«

»Wie willst du das machen? Ihnen Fragen stellen? Sie verhören? Es sind nur Puppen.«

»Und doch erzählen sie eine Geschichte. Ich verstehe sie nur noch nicht so richtig.« Hedi wanderte zwischen den Figuren hin und her. Da bemerkte sie, dass der Blick ihres Gatten an dem Herrn mit Brokatweste zum grauen Anzug hängengeblieben war. Diese stand der Figur der sterbenden Rosalind Bergmann am nächsten. »Was hast du denn plötzlich?«

»Soll das etwa Götz Eisleb sein? Der Erbe der Eiszapfen-Werke?«

»Keine Ahnung«, gab Hedi zu. »Ich kenne die Namen dieser Leute noch nicht. Balzers Schwester war diesbezüglich keine Hilfe, sie hat sie alle erfolgreich verdrängt. Ich hoffe, Thure kann sie mir morgen aus den Akten suchen, wenn ich ihn auf dem Revier besuche.«

»Der Typ hier sieht jedenfalls genauso aus wie Götz Eisleb. Der trägt häufig so protzige Westen. Dazu die buschigen Brauen und auch noch einen Vollbart tragen nicht viele Leute im Gesicht. Ich bin sicher, dass er es ist«, beharrte Lars. »Den kenn ich aus dem Golfclub.«

»Du hast mal Golf gespielt?« Hedi sah ihn überrascht an. »Erstaunlich. Und ich dachte, ich wüsste alles über meinen Ehemann.«

»Das war, bevor ich eine Familie zu ernähren hatte. Damals, als am Ende des Monats noch Geld für ein teures Hobby übrigblieb. Ich wette, Götz spielt noch immer im selben Club, draußen in Altenhof. Nach dem Spiel ist er immer noch im dortigen Restaurant eingekehrt. Wenn dieser Plastik-Ken wirklich Eisleb darstellen soll, kannst du ihn dort vielleicht treffen, um mehr über diese Geschichte in Erfahrung zu bringen.«

Hedi fiel ihm wortlos um den Hals. Nicht, dass sie seine Erlaubnis gebraucht hätte, um diesen Mord zu untersuchen, aber es fühlte sich gut an, ihn an ihrer Seite zu wissen.

»Zwei Wochen«, erinnerte er sie. »Danach wandert der ganze Kram in den Müll. Und achte darauf, dass Riko keine Beweise verschluckt.«

* * *

Am nächsten Tag steckte Hedi den protestierenden Riko in einen Schneeanzug, schnallte ihn in den Kindersitz auf ihrem Gepäckträger und radelte zur Wache, wo Thure schon auf sie wartete.

Vor ihrem Mutterschutz waren sie beide ein unschlagbares Team gewesen. Auf den massigen und hünenhaften Thure hatte Hedi sich jederzeit verlassen können und er sich auf sie. Jetzt sahen sie einander nur noch gelegentlich. Und da er wusste, wie sehr sie die Polizeiarbeit vermisste, sprach er nur selten von seiner Arbeit, die er nun ohne sie erledigte.

Doch heute lagen die Dinge anders. Hedi hatte einen Fall an Land gezogen, den sie lösen wollte. Und Thure würde ihr dabei sicher gerne helfen.

»Rosalind Bergmann ist ein Cold Case.« Er schaute sie ernst an, als sie sich an seinem Schreibtisch gegenübersaßen. »Und auch noch einer, der in den Zuständigkeitsbereich der Kriminalpolizei fällt. Wie soll ich da an die vollständigen Unterlagen kommen, ohne einen Haufen Fragen beantworten zu müssen?«

»Soll das heißen, du kannst nichts für mich tun?« Hedi starrte ihren Freund fassungslos an. »Ich habe so viele Hoffnungen in dich gesetzt. Wie soll ich denn sonst vorgehen?«

»Wie andere Privatschnüffler ohne Polizeikontakte auch. Kratz dir die Informationen im Netz zusammen. Oder lass es sein. Warum interessierst du dich überhaupt dafür?«

»Weil ich davon überzeugt bin, dass Jost Balzer großes Unrecht angetan wurde. Auch wenn es ihm nicht mehr nützt, halte ich es für richtig, der Sache nachzugehen. Vielleicht finde ich mehr heraus als die Beamten, die den Fall damals untersuchten. Die hatten schließlich nicht Balzers Puppen.«

»Puppen? Was denn für Puppen?«

»Das glaubst du ja doch nur, wenn du es mit eigenen Augen siehst.« Hedi grinste.

»Möglich. Aber sag mal: Wo hast du eigentlich deinen Sohn gelassen?«

Hedis Grinsen erlosch, und sie sah sich suchend um. »Hupps. Der muss hier irgendwo sein. Seit Riko krabbeln kann, ist mein Leben nicht gerade leichter geworden.«

»Da versucht sich gerade ein hellblaues Michelin-Männchen am Reißwolf hochzuziehen.« Thure deutete hinter sie. »Du solltest etwas dagegen unternehmen.«

Hedi sprang vom Stuhl und bewahrte die Finger ihres Kindes davor, geschreddert zu werden. Als sie mit dem protestierenden Riko auf dem Arm zu Thure zurückkehrte, rief sie laut, um das Gebrüll zu übertönen: »Besorg mir wenigstens die Namen und die Adressen der damals beteiligten Personen. Geht das?«

»Ich sehe mal, was sich da machen lässt. Und jetzt bring die Heulboje hier raus, die Kollegen gucken schon.«

Leicht frustriert verließ Hedi mit Riko unterm Arm die Wache. Ihr nächstes Ziel war heute das Café Heldt in der Eckernförder Innenstadt. Dort traf sich wöchentlich der Canasta-Club ihrer Großmutter. Da diese mittlerweile verstorben war und den alten Damen nun eine Mitspielerin fehlte, half Hedi regelmäßig aus. War es ihr anfangs seltsam vorgekommen, mit einer Gruppe von Rentnerinnen ihre Zeit zu verbringen, so genoss sie inzwischen das wiederkehrende Zusammentreffen bei Kaffee und Kuchen.

Bald war sie am Ziel und lehnte ihr Fahrrad an die historische Fassade des wohl ältesten Cafés der Stadt. Drinnen war es hell und freundlich, und es roch nach noch warmem Apfelkuchen. Ihr und Riko würde man allerdings unaufgefordert ein Stück der Heldt-Spezialtorte an den Tisch bringen. Man kannte sie beide schließlich.

Als Hedi ihren Stammtisch im hinteren Teil des Cafés erreichte, saßen die drei noch verbliebenen Freundinnen ihrer Großmutter bereits einträchtig beieinander, und die Canasta-Karten lagen vor ihnen auf dem Tisch.

»Spät dran, wie immer.« Wilhelmina Preuss, Arztwitwe und Überlebende dreier Herzinfarkte, begann sofort damit, die Karten auszuteilen.

»Ich bin eine junge Mutter, die manchmal nicht weiß, wo ihr der Kopf steht.« Hedi nahm wie üblich neben Lotte Kern Platz, die stets die Sanftmütigkeit eines Lämmchens an den Tag legte.

Die dritte Freundin ihrer Großmutter, Cora Wunderlich, wirkte mit ihrem flotten Haarschnitt und der modischen Kleidung wesentlich jünger als die anderen beiden, hatte die siebzig aber ebenfalls längst hinter sich gelassen. Doch Cora war es gelungen, sich ihre Neugier und den Hunger nach Leben zu bewahren. Sie surfte durchs Internet wie ein sorgloser Teenager und war stets gut informiert. Meist sogar besser als Hedi, die es oft nicht einmal pünktlich zu den Nachrichten vor den Fernseher schaffte, weil sie beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte für Riko regelmäßig eindöste.

Cora Wunderlich brauchte keine Tagesschau, um über alles, was vor sich ging, Bescheid zu wissen. Auf ihrem Handy befand sich für alles genau die richtige App. Hedi, die schon jetzt manchmal das Gefühl hatte, dem Zeitgeist hinterherzuhinken, bewunderte sie dafür.

»Reich mir den Jungen«, verlangte Lotte wie üblich. »Riko bringt jedem Glück, auf dessen Schoß er gerade sitzt, das habe ich schon immer gesagt.«

Bereitwillig reichte Hedi ihren Sohn weiter, dessen Finger sich sofort der Sahnetorte auf Lottes Teller näherten. In dieser Runde hatte noch nie irgendjemand etwas von zuckerfreier Ernährung gehört und legte auch keinen Wert darauf. Wer mit drei Ersatz-Großmüttern gesegnet war, für den galten andere Regeln.

»Bereit zu verlieren?« Wilhelmina schob ihr die Karten zu.

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Hedi, als ihr nun ebenfalls Torte und ein Kännchen Kaffee serviert wurden. »So etwas Leckeres will genossen werden. Außerdem möchte ich wissen, was ihr mir über einen Mord erzählen könnt, der sich vor etwa acht Jahren hier in Eckernförde ereignet hat.«

»Ein Mord?« Wilhelmina hob die Brauen. »Und da fragst du uns? Du bist doch der Bulle hier am Tisch.«

»Das schon.« Hedi versenkte ihre Gabel in der lockeren Torte. »Aber vor acht Jahren habe ich mich noch mit anderen Dingen beschäftigt. Ihr wisst schon: Strandpartys, Jungs und solche Sachen. Mit Anfang oder Mitte zwanzig kümmert es doch niemanden, was in der Tageszeitung steht.«

»Schließe nicht von dir auf andere«, meinte Cora Wunderlich. »Du sprichst von dem Mord an diesem Mädchen, richtig? Rosalind. So viele Morde gab es hier ja nicht in den letzten Jahren, um die es dir gehen könnte. Eine schreckliche Geschichte war das damals, ich habe sie nie vergessen. Der arme Mann.«

»Wen meinst du damit?«, fragte Hedi. »War sie verheiratet?«

»Nein, nein, ich meine den Kerl, den sie damals dafür vor Gericht gezerrt haben.« Sie nippte an ihrer Kaffeetasse. »Alle Welt war davon überzeugt, dass er es gewesen sein musste. Wer außer einem Koch würde jemanden vergiften?«

»Das sehe ich anders«, meinte Wilhelmina Preuss. »Gerade der Koch sollte mit mörderischen Absichten eben nicht zu Gift oder einem Tranchiermesser greifen. Das ist doch viel zu offensichtlich.«

»Morde sind viel häufiger offensichtlich, als es einem

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Miriam Rademacher
Cover: MT-Design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer, TE Language Services – Tanja Eggerth
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2023
ISBN: 978-3-96714-410-9

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