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Leseprobe

 

 

 

Die tödlichste

Lösung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Miriam Rademacher

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

Das Erste, was sie beim Aufwachen spürte, war entsetzlicher Durst. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie hatte das Gefühl, keinen Ton herausbringen zu können, und selbst ihre Augen fühlten sich trocken und geschwollen an.

Zuhause, in ihrer Wohnung, stand stets eine Flasche Wasser gleich neben ihrem Bett. Dort musste sie nur die Hand ausstrecken und den kühlen Schraubdeckel ertasten, um einen Schluck trinken zu können. Doch dieser Ort war nicht ihr Zuhause, und sie lag auch nicht im Bett. Hier war es kalt, und es roch nach Schimmel und Feuchtigkeit.

Während ihre Lider sich noch immer schwer wie Blei anfühlten und sich einfach nicht heben wollten, ertasteten die Fingerkuppen einen feinen weichen Untergrund, auf dem ihr Körper lag. Eine Matratze war es aber keinesfalls. Ihrer Meinung nach musste es sich um einen Teppich handeln.

Am liebsten wäre sie wieder eingeschlafen, in der Hoffnung, beim nächsten Mal an einem anderen Platz aufzuwachen, am allerliebsten daheim, doch dieser Gedanke war kindisch. Was immer man ihr angetan hatte, wo sie sich auch befand, sie musste sich dem Problem stellen. Je eher, desto besser. Wenn sie sich doch bloß erinnern könnte, was überhaupt passiert war.

Weitere Zeit verstrich, die ihr weder neue Erkenntnisse gebracht, noch die Situation verändert hatte. So setzte sie sich mühsam auf und zwang sich, die Augen offen zu halten. Um sie herum war es dämmrig, doch ein wenig fahles Tageslicht fiel von oben herab in den rechteckigen Raum, auf dessen Wänden fluffiger, weißgelber Schimmel wucherte. Unverkleidete Rohre liefen über ihr an der Decke entlang, und in einer Ecke stapelten sich Pappkartons mit einem Werbeaufdruck für Tiefkühlpommes. Dies hier war ohne Zweifel ein Kellerraum, und dessen einzige Tür besaß auf der Innenseite keine Klinke. Ein Blick hinauf zum einzigen Fenster hoch über ihr zeigte ihr ein stabil wirkendes Gitter hinter den schmutzigen Scheiben.

Zum ersten Mal, seit sie wieder zu sich gekommen war, verspürte sie einen Anflug von Panik. Dies alles war nicht richtig, gehörte nicht zu ihrem Leben. Und ihr wollte zudem partout nicht einfallen, wie sie überhaupt hierhergekommen war. Den schmerzenden Kopf fest in den Händen haltend, versuchte sie, die letzten Stunden zu rekonstruieren. Handelte es sich überhaupt um Stunden? Ihr Zeitgefühl ließ sie im Stich. Was war das Letzte, woran sie sich erinnerte?

Ein Lied kam ihr plötzlich wieder in den Sinn, ein Hit des vergangenen Sommers, der im Radio gespielt worden war. Sie war in der Küche gewesen, hatte sich den schon vorbereiteten Eistee aus dem Kühlschrank geholt und war damit zurück zu ihrem Laptop im Wohnzimmer gegangen, um noch ein wenig zu arbeiten. Sie konnte sich erinnern, das neue Script zur weiteren Bearbeitung neben die Tastatur gelegt und ihre Nachrichten abgefragt zu haben. Von da an verschwamm die Erinnerung zunehmend, ohne dass sie sagen konnte, warum.

Seufzend ließ sie den Kopf hängen und erstarrte, als sie erkannte, worauf sie saß: Es war ihr eigener Teppich. Selbst gekauft von ihrem ersten Lohn an einem Frühlingssamstag bei Ikea. Daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen, denn mitten in dem intensiven Grasgrün des Flors prangte der Rotweinfleck, den sie nur wenige Tage nach der Anschaffung selbst verschuldet hatte. Ein Fleck in Form der Insel Zypern. Sie saß also auf ihrem eigenen Teppich, in einem völlig fremden, schimmeligen Keller und fand keinerlei Erklärung dafür. Und am schlimmsten war, dass die Angst sie nun mit voller Wucht traf, das Herz rasen und den Mund noch trockener werden ließ.

Einen kurzen Augenblick blieb sie auf dem Teppich sitzen und lauschte ihrem eigenen immer schneller werdenden Atem. Dann rappelte sie sich auf, schwankte, schaffte aber die wenigen Schritte bis zu der nicht gerade verheißungsvollen Tür ohne Klinke. Unter ihren Fußsohlen fühlte sie Sand und Steine auf dem Boden und schaute hinab. Sie trug noch immer die Kuschelsocken, mit denen sie üblicherweise in ihrer Wohnung herumlief. Es war ganz offensichtlich, dass sie in diesem Augenblick zuhause sein sollte, doch mit Ausnahme des Teppichs war ihr Heim verschwunden und einem absolut widerlichen Gefängnis gewichen. Es musste eines sein, denn aus der Nähe betrachtet, glich die aus stabilen Brettern gebaute Tür einem unüberwindlichen Bollwerk und wirkte eher wie eine Stall- als eine Kellertür. In jedem Fall stand sie diesem Hindernis ohne passendes Werkzeug hilflos gegenüber. Ebenso nutzlos erschien ihr das Fenster, welches sowohl aufgrund der Höhe als auch durch das stabile Gitter als Fluchtweg ausschied. Man hatte sie hier unten eingesperrt. Ganz allein, ohne Wasser und ohne Brot, saß sie gefangen in einem Kellerloch, von dem sie nicht einmal wusste, wo es sich befand.

Instinktiv tastete sie ihre Hosentaschen ab, fand dort aber nichts, das ihr weitergeholfen hätte, und fragte sich, was wohl aus ihrem Handy geworden sein mochte. Doch dieser Gedanke war müßig, so einfach hatte man es ihr nicht machen wollen. Wer immer für ihr Hiersein verantwortlich war, legte sicher keinen Wert darauf, dass sie mit der Außenwelt Kontakt aufnahm. Doch wer war dieser Jemand überhaupt? Es musste einfach ein Mensch für all das hier verantwortlich sein, eine andere Erklärung fand sich nicht.

»Hallo?« Ihre Stimme klang fremd und rau, als ob sie lange Zeit nicht benutzt worden wäre. Nach kurzem Räuspern versuchte sie es noch einmal und gleich ein bisschen energischer. »Hallo!«

Als eine Antwort ausblieb, pochte sie gegen das Holz: vergeblich. Also begann sie damit, die Tür mit den Füßen zu traktieren. Als sich nichts außerhalb des Kellers regte, gab sie auch das auf.

Zeit verging, wie viel genau wusste sie nicht, da auch ihre Armbanduhr verschwunden war. Der Durst erschien ihr mittlerweile unerträglich, doch die Angst hatte ihren Zenit überschritten und ließ sie ruhig atmen. Als sie ohne große Hoffnung zum Fenster hinüberwankte, bemerkte sie direkt darunter eine Pfütze auf dem Steinboden.

Offensichtlich hatte es hier erst kürzlich hineingeregnet. Widerwillig tauchte sie ihre Fingerkuppen in das trübe Wasser und leckte sie ab. Es schmeckte alt, abgestanden und ungesund, war aber besser als nichts. Während sie auf diese mühselige Weise etwas Flüssigkeit zu sich nahm, sah sie hinauf zum hellen Fensterausschnitt und fragte sich, wann jemand zur Tür hereinkommen würde, um nach ihr zu sehen. Hoffentlich bekam sie dann eine Erklärung für all das hier.

Nach und nach schwand das Licht des Tages, und die Schatten in ihrem Gefängnis wurden länger. Und obwohl sie angestrengt auf jedes Geräusch in ihrer Umgebung gelauscht hatte, war nichts an ihr Ohr gedrungen, das Hoffnung versprach. Jenseits dieser Mauern gab es keine Stimmen, keine gedämpften Schritte und keinerlei Motorengeräusche, keine Spuren von Zivilisation. Wo um alles in der Welt befand sie sich?

Als die Nacht kam und ging und vor ihrem Fenster der Morgen heraufdämmerte, ohne dass jemand zur Tür hereingetreten war, überfiel sie ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn sie nur aus einem Grund hier unten festsaß? Weil jemand ihre Existenz vergessen wollte? Wenn sie einfach verschwinden sollte? Und zwar für immer.

 

1

 

 

Sommer 2018, Freitag: 13.15 Uhr Laura

 

Jetzt startet das heißeste Wochenende des Jahres, und mir tut jeder leid, der diese Tage nicht auf dem Musik-Festival verbringt. Hallo Strand, ich komme! Bin fast schon da!

Nach diesem knappen Statement auf ihrem Facebook-Account legte Laura ihr Handy beiseite, um sich dem Teller voller Spagetti, den ihre Mutter soeben vor ihr abgestellt hatte, mit gebührender Aufmerksamkeit zu widmen. Auch wenn der Schultag an diesem Freitagmorgen nicht übermäßig lang gewesen war, fühlte sie sich ausgehungert. Sie hatte eigentlich immer Hunger. Und nichts ging über Spagetti mit Tomatensauce, sah man einmal von dem Festival ab, zu dem sie heute Nachmittag aufbrechen würde. Isi hatte vorgeschlagen, der Enge ihres kleinen Dorfes für ein paar Tage zu entfliehen. Und warum sollten sie nicht gemeinsam losziehen? Schließlich waren sie beide nun endlich volljährig und konnten im Prinzip tun und lassen, was sie wollten. Niemand durfte ihnen Vorschriften machen, sie waren offiziell erwachsen, zumindest in der Theorie.

Doch da meldete sich auch schon die unerbittliche Stimme aus der Realität und führte ihr vor Augen, wie es aktuell wirklich um ihre Selbstständigkeit bestellt war.

»Wie lautet denn der Wetterbericht für die kommenden Tage?«, wollte ihre Mutter wissen, die an der gegenüberliegenden Seite des Küchentisches Platz genommen hatte und an ihrem Nagellack herumkratzte, eine Angewohnheit, für die Laura kein Verständnis aufbringen konnte. Ihre eigenen Nägel waren immer ordentlich manikürt und lackiert.

Laura kannte dieses Anzeichen bei ihrer Mutter und konnte es mühelos deuten. Wann immer diese nervös wurde, ließ sie es an ihren Fingernägeln aus, die an diesem Wochenende vermutlich jegliche Farbe Splitter für Splitter einbüßen würden. Der Grund für die Seelennot ihrer Mutter lag auf der Hand: Sie selbst, Laura, ihre einzige Tochter, plante, sich die nächsten Tage außerhalb ihres Einflussbereichs zu bewegen. Das war für sie beide ein Schritt in die Unabhängigkeit und ganz besonders für diejenige von ihnen beiden, die allein zurückblieb, alles andere als einfach.

Laura öffnete die Wetter-App auf ihrem Handy und las vor: »Sonnenschein und leichter Wind aus Nordwest. Keine Tsunami-Warnung für die Ostsee, und auch die Tornados ziehen allesamt an Eckernförde vorbei.«

»Ich wünschte, ich könnte diese Bemerkung witzig finden.« Ihre Mutter seufzte und knibbelte ein großes Stück rosafarbenen Lacks ab, bevor sie selbiges beiläufig von der Tischdecke wischte. »Hast du das Ladekabel für dein Handy eingepackt?«

»Natürlich, Mama«, versicherte Laura ihr zwischen zwei Bissen. Das gehörte zu den wenigen Dingen, an die man sie nicht erinnern musste. Das Ladekabel lag schon seit heute Morgen im Rucksack.

»Und ihr übernachtet auch wirklich in der Ferienwohnung von Isis Eltern?«, fragte ihre Mutter zum wiederholten Mal. »Ihr werdet nicht irgendwo am Strand zelten, versprichst du das?«

Laura legte die Gabel beiseite und sich noch einmal all ihre Argumente zurecht, bevor sie erwiderte: »Mama, hör auf, dir völlig unnötige Sorgen zu machen. Ich weiß, du malst dir schon wieder aus, wie ich im Straßengraben lande oder willig mit einem Fremden mitgehe, der mir seine Babymeerschweinchen zeigen will. Aber nichts davon wird passieren. Isi und ich fahren mit dem alten Citroën ihrer Mutter. Sie wird sich hüten, mit dem durch die Landschaft zu rasen, denn bei der Karre klappern schon bei achtzig Sachen sämtliche Türen. Sobald wir in Eckernförde angekommen sind, bringen wir das Gepäck in die Ferienwohnung und gehen anschließend zu Fuß zum Strand hinunter. Ich habe mein Handy immer dabei, trage nicht mehr Geld mit mir herum, als ich für einen Tag brauche, und bin so ganz nebenbei schon ein großes Mädchen. Sonntagabend sind wir wieder zurück, und das Schlimmste, was mir bis dahin passieren kann, ist, dass ich mir einen Sonnenbrand hole, auf den du dann gerne Quarkwickel legen darfst.«

Über das stark geschminkte Gesicht ihrer Mutter zuckte ein kurzes Lächeln. »Ich bin furchtbar, nicht wahr? Dabei weiß ich doch genau, wie umsichtig und zuverlässig du sein kannst, wenn du willst. Es tut mir leid, dich mit meinen Ängsten zu nerven, du sollst ja ausgehen und deine Jugend genießen. Aber muss es ausgerechnet Isi sein, mit der du dorthin fährst? Wollt ihr nicht wenigstens Christel mitnehmen? Ihr habt euch doch in letzter Zeit wieder so gut verstanden.«

Laura war drauf und dran, mit ihrer Mutter die Geduld zu verlieren, wusste aber, dass sie gerade jetzt heiter und fröhlich wirken musste, um nicht doch noch in den letzten gemeinsamen Minuten einen Streit vom Zaun zu brechen.

»Christel fährt mit ihren Eltern dieses Wochenende nach Travemünde zum Sonnenbaden, sonst hätten wir sie natürlich mitgenommen. Also wird dieses tolle Mädels-Wochenende am Eckernförder Strand ohne Christel stattfinden müssen. Und wie gesagt: Es geht zu einem Open-Air-Festival am Strand und nicht zu einer Orgie auf der Reeperbahn.«

Laura hoffte, nun alle Bedenken zerstreut zu haben, doch ihre Mutter musste offensichtlich noch etwas loswerden. »Isi ist immer nur dann deine beste Freundin, wenn sie gerade mal keinen Freund hat. Sobald nur ein wenig Testosteron am Horizont auftaucht, bist du wieder abgemeldet. Das Mädchen ist total unzuverlässig, und ich will nicht, dass du plötzlich allein in einer fremden Stadt dastehst und nicht weißt, wohin.«

Hastig stopfte sich Laura eine Gabel voller Nudeln in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Ab hier bewegte sie sich auf dünnem Eis, denn diese Sorge ihrer Mutter war keineswegs aus der Luft gegriffen. Isi war nicht die Art Freundin, auf welche man in Notfällen bauen konnte. Sie beide kannten sich seit der Grundschule, und absolut jeder, der einmal mit Isi zu tun gehabt hatte, wusste, wie unzuverlässig sie war. Aber sie verbreitete stets gute Laune, und ihre Eltern hatten eben diese Ferienwohnung in Eckernförde, die, wie es der Zufall wollte, an diesem Wochenende leer stand. Das waren zwei große Pluspunkte im Hinblick auf die kommenden Tage, die Isi ohne Frage aufwerteten.

»Pack bitte deine Girokarte in den Rucksack. Nur für Notfälle«, hörte sie ihre Mutter sagen, die schon wieder ihre Fingernägel malträtierte. »Schließlich könntest du ganz unvorhergesehene Ausgaben haben.«

Laura wollte einwenden, dass für Cola und Pommes an der Strandpromenade ein oder zwei kleine Geldscheine völlig ausreichen würden und sie keinesfalls einen Bummel durch die Boutiquen planten, doch die Miene ihrer Mutter war unerbittlich.

»Du hast doch noch das Geld von deinem achtzehnten Geburtstag auf dem Konto, richtig?«

Sie verspürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend und nickte etwas zaghafter, als es angebracht gewesen wäre.

»Das ist gut. Dann nimm die Karte mit. Falls alle Stricke reißen und Isi wieder einmal ihr eigenes Ding durchzieht, bist du in der Lage, dir ein Hotelzimmer zu nehmen und am nächsten Morgen mit der Bahn heimzukommen. Ich will, dass du unabhängig von Isi bist, falls es mit euch beiden doch nicht klappt.«

»In Ordnung.« Laura erhob sich und stellte den leeren Teller auf die Spüle. Sie war bereit, allem zuzustimmen, was ihrer Mutter half, sie guten Gewissens ziehen zu lassen.

In ihrem Zimmer, das, seit sie denken konnte, ganz in Weiß und Apfelgrün gehalten war, durchsuchte sie zunächst den Stapel getragener Kleidung auf dem Teppichboden. Als sie dort nicht fündig wurde, inspizierte sie den unter leeren Keksschachteln und Getränkedosen verschütteten Nachttisch. Doch ohne Erfolg. Ordnung gehörte nicht zu ihren Stärken, weswegen sie nun keine Ahnung hatte, was aus der ohnehin völlig nutzlosen Kontokarte geworden war. Doch schließlich wurde sie in den Taschen ihrer Regenjacke fündig, die über dem einzigen Stuhl hing. Keine Sekunde zu früh, da nun draußen vor dem Haus eine Autohupe quäkte. Laura schulterte den Rucksack voller Shirts und Toilettenartikel, flitzte in die Küche und hielt ihrer Mutter mit einem Lächeln die Sicherheit verheißende Plastikkarte unter die Nase. Diese überreichte ihr im Gegenzug das auf dem Küchentisch liegengebliebene Handy.

Jetzt fehlte nur noch die unumgängliche Umarmung, bei der sie noch einmal das Parfüm ihrer Mutter roch und diese sagen hörte: »Ich wünsche dir ganz viel Spaß, mein Mädchen. Pass auf dich auf. Ich hab dich lieb.«

Als sie sich voneinander lösten, glänzte es in den Augen ihrer Mutter verdächtig feucht.

»Ich dich auch, Mama.« Laura streichelte ihr zum Abschied über den Arm. »Gönn dir heute Abend vielleicht mal eine Schlaftablette, ja? Ich will nicht, dass du meinetwegen die ganze Nacht grundlos wachliegst.«

Ihre Mutter rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht tue ich das. Ich gönne mir ein langes, mit alten Popsongs untermaltes, heißes Bad in der Wanne und gehe früh schlafen. Den Samstag verbringe ich mit Hausputz, und am Sonntag bist du ja schon wieder da.«

Es hupte zum zweiten Mal. Laura gab ihrer Mutter einen letzten flüchtigen Kuss und verließ im Laufschritt das Haus. Als sie den Garten durchquerte, konnte sie Isi hinter dem Steuer des Citroëns schon eifrig winken sehen.

»Sei nicht so lahm, die Party wartet«, rief die Freundin zur Begrüßung, als Laura ihren Rucksack auf die Rückbank warf und selbst auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Ein letztes Mal winkte sie ihrer Mutter zu, die ein wenig verloren wirkte, wie sie dort allein auf der Fußmatte herumstand.

Doch noch bevor Laura so etwas wie ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber entwickeln konnte, gab Isi schon Gas, und der Wagen schoss um die nächste Kurve.

»Los, mach ein Foto von uns beiden«, forderte die Freundin sie auf. »Der Beginn unseres Wochenendtrips. Du kannst es gleich auf Insta einstellen, damit die langweiligen Tussen, die heute, wie jedes Wochenende, im Freibad abhängen, vor Neid vergehen.«

Laura gehorchte, neigte sich in Richtung Fahrersitz und hielt ihr Handy in die Höhe. Ein leises Klicken später war der Augenblick festgehalten. Zwei schlanke, dunkelhaarige Mädchen, Isi mit der Sonnenbrille auf der Nase und Laura mit knallroten Plastikkreolen in den Ohren, lachten dem Betrachter vom Bild entgegen. Laura lud es hoch und fügte noch eine Bildunterschrift hinzu: ›Endlich frei.‹

 

Wenige Wochen später: Auszug aus einem Interview mit Dorothea Arnold auf dem True- Crime-Kanal Lost

 

»Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei der Sache. Das lag vor allem an Isabella Karz, die hier im Dorf alle nur Isi nennen. Ihr Ruf war noch nie der beste. Sie war bekannt dafür, sich seit Beginn ihrer Pubertät nur noch für Jungs zu interessieren. Ich weiß, dass viele Mädchen in dem Alter so sind, aber meine eigene Tochter war da noch ganz anders. Laura las gerne Fantasy-Romane, spielte Tennis im Verein, und darum drehte sich ihre Welt. Jungs kamen darin gar nicht vor.

Auch in manch anderer Hinsicht wirkte Laura auf mich oft noch unfertig. Natürlich bin ich daran nicht ganz unschuldig, ich habe sie einfach zu sehr verwöhnt. Sicherlich hätte sie lernen können, sich selbst das Essen warmzumachen oder eine Waschmaschine zu programmieren. Aber Kindheit kommt niemals zurück, nicht wahr? Ich habe sie die ihre genießen lassen, solange es eben ging.

Ich selbst war in ihrem Alter viel selbstständiger, brauchte keine Mutter, die für mich Entscheidungen traf, während Laura sich in vielen Dingen noch immer ganz auf mich verließ. Das soll bei den Jugendlichen heutzutage öfter vorkommen, als man meint. Sie sehen so erwachsen aus in ihren schicken Kleidern, den perfekt gestylten Haaren und dem Make-up im Gesicht, doch in Wahrheit können sie ohne Hilfe kaum eine Zugfahrkarte lösen. Sowohl Laura als auch Isi taten an diesem Wochenende erwachsener, als sie waren.

Jedenfalls war ich nicht glücklich mit dieser Konstellation, aber eine andere stand schlichtweg nicht zur Wahl. Sicherheitshalber habe ich Laura überredet, etwas mehr Geld einzupacken, als sie geplant hatte. Sie wollte nur einen kleinen Betrag mitnehmen und diesen an unterschiedlichen Stellen in ihrem Gepäck verstauen. Doch ich bestand darauf, dass sie auch die Karte für ihr Girokonto dabeihatte, was sie auch tat.

Schon etwas beruhigter ließ ich Laura ziehen. Leider nahm meine Tochter es mit der Wahrheit nicht immer so genau. Nicht, dass sie mir jemals offen ins Gesicht gelogen hätte, zumindest glaube ich das nicht. Aber sie verschwieg Dinge, die ihr unangenehm waren. So erfuhr ich erst viel später von ihrer Freundin Christel, dass Laura sich schon die wenigen Münzen und Scheine für Essen und Trinken bei ihren Freundinnen zusammengeliehen hatte. Ihr Konto war völlig leergeräumt. Was sie mit dem Geld gemacht hat, weiß der Geier. Christel meinte, sie hätte es für ein besonderes Paar Stiefel auf den Kopf gehauen. Möglich ist das schon, Laura hat immer viel Geld für Mode ausgegeben.

So fuhr sie also los und ließ mich in dem Glauben, für die kommenden Tage finanziell gut abgesichert zu sein, während sie in Wahrheit nahezu pleite war. Ich denke, das erklärt zumindest zum Teil, warum alles letztendlich so gekommen ist. Könnten wir hier bitte kurz unterbrechen? Wenn die Bilder in mir hochsteigen, versagen mir noch immer die Nerven.«

 

Kommentare aus der Community:

 

Lea83: Die arme Frau. Ich fühle mit ihr. Wie tapfer sie hier über ihre Tochter spricht.

FranzSteckbrief: Es wäre wohl besser gewesen, die Tochter zu einem selbstständigen, überlebensfähigen Wesen zu erziehen. Nun ist es halt zu spät.

Frühstückspause13: Wie kann man nur so verantwortungslos sein und in einem solchen Fall nicht einschreiten? Auch einem volljährigen Kind kann man Grenzen setzen.

Meine Tochter hätte unter diesen Umständen nirgendwo hinfahren dürfen.

 

Herbst 2018

 

Hedi Voss schoss aus dem Schlaf hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Neben ihr, im Bett, lag ihr Ehemann Lars und schlief tief und fest. Früher war Hedi ebenfalls mit einem gesunden Schlaf gesegnet gewesen. Noch bis vor wenigen Wochen hätte vor ihrem Fenster ein Baum umfallen können, ohne dass sie davon aufgewacht wäre, doch diese Zeiten waren allem Anschein nach für immer dahin.

Nebenan, in seinem Kinderbett, brauchte ihr Sohn Riko nur zu husten, um sie aus dem Schlaf schrecken zu lassen, ein lautes Gebrüll seinerseits war dazu gar nicht nötig. Auch die Anschaffung des Babyphons hätte sie sich sparen können. Da sie es nicht benötigte und ihr Ehemann es nicht nutzte, war es völlig überflüssig. Sah man einmal von der blassgrünen Beleuchtung der Funktionsleuchte ab, die das Kinderzimmer in ungesundes Licht tauchte, während sie sich nun vorsichtig dem Gitterbett näherte. Vielleicht, mit ein wenig Glück, war es wirklich nur ein Niesen oder etwas Ähnliches gewesen, das Rikos Schlaf gar nicht langfristig unterbrochen hatte. In dem Fall konnte sie kehrtmachen und zurück unter die warme Decke schlüpfen.

Doch als sie in die hellwachen Augen ihres fünfzehn Wochen alten Wonneproppens blickte, wusste sie, dass Riko andere Pläne hatte. Sie stieß einen Seufzer aus. Sich jetzt noch davonzuschleichen, hätte ein Protestgeheul unvorstellbaren Ausmaßes provoziert. Also fügte sie sich in ihr Schicksal, hob den warmen Körper ihres Sohnes auf und trug ihn ins Wohnzimmer, wo das Stillkissen bereitlag. Lars zu wecken, wäre ihr nicht eingefallen. Wenigstens einer von ihnen beiden hatte eine ungestörte Nachtruhe verdient. Und da Lars aktuell der einzige Berufstätige in dieser Wohnung war, beanspruchte er dieses Vorrecht für sich allein. Zudem konnte er den Jungen nicht stillen, wie er stets betonte. Da dem zweiten Argument nichts entgegenzusetzen war, verbrachte Hedi nun seit Wochen die frühen Morgenstunden auf der Couch. Und wenn sie anderen jungen Müttern glauben durfte, hatte sie es damit nicht einmal schlecht getroffen. Deren Kinder forderten, sobald die Sonne unterging, quasi ununterbrochen Aufmerksamkeit ein. Sie konnte sich glücklich schätzen, ein genügsames Exemplar auf die Welt gepresst zu haben.

Während Riko genüsslich andockte und seine kleinen Fäuste gegen ihre derzeit erstaunlich prallen Brüste drückte, angelte Hedi ihr Digitalfunkgerät von der Sofalehne und schaltete es ein. An dem Tag, da ihr Mutterschutz begonnen hatte, war das Gerät wie von selbst in ihre Handtasche geschlüpft. Zumindest konnte sie sich nicht erinnern, es bewusst unterschlagen zu haben. Und weil bisher niemand danach gefragt hatte, ging sie davon aus, dass dieser Teil ihrer Ausrüstung von niemandem vermisst wurde. So hatte sie immer noch ein Ohr am Puls der Zeit.

»Einsatzzentrale an Wagen vier: Ihre letzte Durchsage war völlig verzerrt. Bitte wiederholen Sie alles noch einmal langsam und deutlich«, sprach die genervt klingende Stimme eines Mannes zu ihr.

»Ein Schwalbennest in der Schrebergartenkolonie Wilhelmsthal. Sieht nach einem ganzen Grüppchen schräger Vögel aus. Wir hätten gern Verstärkung«, klang es nun aus dem Empfänger, wobei jedes einzelne Wort vom Redner extrem in die Länge gezogen wurde, damit in der Zentrale auch alles verstanden wurde. Auf Hedis Gesicht stahl sich ein Grinsen. Die neue Technik des Digitalfunks hatte längst nicht alle Schwächen des früheren TETRA-Funks hinter sich gelassen. Der Funkverkehr mochte abhörsicherer geworden sein, doch die Tücken des Alltags waren dieselben geblieben.

Bei der Erwähnung der Schrebergartenkolonie Wilhelmsthal reckte Hedi augenblicklich den Hals, um aus dem Fenster blicken zu können, sah aber nichts außer dem dunklen Nachthimmel, vor dem sich schwarz die Krone eines Baumes abzeichnete. Ihre eigene Wohnung am Domstag und die erwähnten Gemeinschaftsgärten lagen nicht weit voneinander entfernt. Ein nahes Blaulicht hätte sie bemerken müssen, aber leider war von Seiten ihrer Kollegen offensichtlich darauf verzichtet worden.

»Unterstützung? Wegen eines Schwalbennestes? Es dauert eine halbe Stunde, bevor die Kollegen bei euch sind. Jetzt zeigt mal euer breites Kreuz und haut da auf den Tisch!«, polterte es so streng und deutlich aus dem Lautsprecher, dass sogar Riko einen Moment bei der Nahrungsmittelaufnahme innehielt. Einen kurzen Augenblick wirkte sein pausbäckiges Gesicht gekränkt, und er schien gewillt, zurückzubrüllen. Doch dann siegte der Hunger, und er wandte sich erneut der nie versiegenden Milchquelle zu.

Hedi verspürte derweil eine steigende Unruhe. In nur fünf Minuten hätte sie zu Fuß am Einsatzort sein können, um ihre Kollegen zu unterstützen. Alles, was sie dafür tun musste, war, ihr Nachthemd gegen die praktische Kleidung zu tauschen, welche momentan ihre Garderobe dominierte. Das Schwalbennest, wie der Kollege es genannt hatte, bezeichnete unerwünschte Eindringlinge in einem Gebäude. Vermutlich handelte es sich lediglich um ein Grüppchen feierlustiger Teenager, die eine Gartenlaube zweckentfremdet hatten. Vielleicht ging es auch um Obdachlose, die Schutz vor der Nachtkühle gesucht und es sich zwischen Spaten und Rechen für die Nacht bequem gemacht hatten. Im Prinzip war beides keine große Sache, aber unangenehm für die Kollegen, wenn sie sich in der Unterzahl fühlten.

Schon zuckte es in ihren Beinen, als das unvermittelte Kneifen eines zahnlosen Kiefers sie daran erinnerte, dass sie nicht einfach aufstehen und gehen konnte. Seufzend lehnte sie sich zurück und lauschte weiter dem Polizeifunk.

Während Riko zufrieden an ihrer Brust schmatzte, standen ihre Gedanken keine Sekunde still. Warum fiel es ihr so schwer, diese einmalige Zeit in ihrem Leben zu genießen? Sie hatte sich auf den Mutterschutz und den anschließenden Erziehungsurlaub kaum weniger gefreut als auf Riko selbst. Doch schon nach wenigen Wochen war da diese Unruhe gewesen, die Sehnsucht nach den Gesprächen mit Kollegen und der Wunsch, sich mit wichtigeren Dingen als Stilleinlagen und Beißringen zu beschäftigen. Möglicherweise war ihr mütterlicher Instinkt nicht stark genug ausgeprägt. Vielleicht stand ihr der Sinn auch einfach zu wenig nach Fencheltee und Spieluhrmusik. Nachts um vier den Motor eines von ihr verfolgten Rasers zu hören, klang eben aufregender als die sinnlose Lautmalerei eines Säuglings.

»Wagen vier an Zentrale, hier lehnen mehrere Fahrräder am Zaun. Sechs, um genau zu sein.«

Also doch feiernde Jugendliche, schlussfolgerte Hedi und beobachtete, wie ihrem nun endlich satten und zufriedenen Sohn die Augen zufielen. Bestimmt war dort draußen in der Schrebergartenkolonie Alkohol im Spiel, und wenn ein paar vor Testosteron strotzende Halbstarke das Gefühl bekamen, sich vor ihren Mädels profilieren zu müssen, konnte es zu Handgreiflichkeiten kommen. So betrachtet, hatte sie gar keine Wahl, als ihren Kollegen Unterstützung anzubieten.

Entschlossen legte sie sich den rülpsenden Riko über die Schulter und ließ das Stillkissen zu Boden fallen. Manchmal war es nötig, Prioritäten zu setzen, und das Kind hatte ja schließlich auch noch einen Vater.

Leise schlich sie zurück ins Schlafzimmer, platzierte ihren Sohn zwischen zwei Kissen und deckte ihn mit einem Spucktuch zu. Der Kleine wirkte nun wieder wesentlich wacher als noch kurz zuvor, ganz besonders im Vergleich zu Lars, dessen blasses Gesicht sich deutlich zwischen dunklem Kopfhaar und Bartansatz abhob. Aber mit etwas Glück würde ihr Sohn, eingelullt vom leichten Schnarchen seines Erzeugers, gleich wieder einnicken. Sie hoffte es für beide.

Wenige Minuten später stand sie, gekleidet in Jogginghose und Kapuzenpullover, das weißblonde Haar hastig zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengedreht, vor der Wohnungstür und brachte die Stufen zum Erdgeschoss im Laufschritt hinter sich. Draußen empfing sie eine Windbö, die sie frösteln ließ, aber nicht zur Umkehr bewegen konnte.

Den Domstag überquerend, schlug sie den Weg zur Schrebergartenkolonie Wilhelmsthal ein. Der Griff ihrer Stabtaschenlampe verlieh ihr so etwas wie Sicherheit, während sie dem hüpfenden Lichtkegel ins Dunkel folgte. Straßenlaternen kamen in diesem beschaulichen Winkel der Stadt nur noch vereinzelt vor.

Die ganze Zeit über lauschte Hedi, ob irgendwo laute Stimmen den Einsatzort markierten, und hielt Ausschau nach dem flackernden Licht des Streifenwagens. Doch nichts deutete darauf hin, dass es hier, zwischen den sich aneinanderreihenden Gärten mit abgeernteten Gemüsebeeten, ein Problem gab oder gegeben hatte.

Hedi rannte weiter, die kalte Nachtluft brannte in den Lungen, und ihr ging erschreckend schnell die Puste aus. Widerwillig gestand sie sich ein, dass ihre größte körperliche Anstrengung der letzten vier Monate darin bestanden hatte, ein vier Kilo schweres Kind durch ein enges Becken zu drücken. Sie hatte ihre körperliche Fitness eingebüßt, und das, was da bei jedem Schritt ganz leicht erbebte, war ohne Frage Bauchfett.

Ein Grund mehr, noch eine Schippe draufzulegen, fand sie, bog im Sprint um eine Ecke und sah sich ohne Vorwarnung einem herannahenden Wagen gegenüber, der langsam und mit abgeblendeten Scheinwerfern auf sie zuhielt. Schon erkannte sie die verräterische Form des Daches. Dicht an einen Maschendrahtzaun gepresst, hielt sie keuchend inne, um das Fahrzeug passieren zu lassen. Als der Polizeiwagen mit ihr auf gleicher Höhe war, öffnete sich das Fenster auf der Fahrerseite, und ein ihr sehr vertrautes Gesicht, pausbäckig und sommersprossig, sah zu ihr empor.

»Hedi? Hab ich doch gewusst, dass du es bist. Dein blonder Haarknoten leuchtet im Licht der Scheinwerfer wie eine Positionslaterne.«

»Thure«, erwiderte Hedi ein wenig atemlos. »Du hier? Was für eine Überraschung.«

»Die Überraschung ist ganz auf meiner Seite.« Ihr Freund und Kollege drehte den Zündschlüssel herum, woraufhin der Motor aus- und die Innenbeleuchtung anging.

Jetzt konnte Hedi auch den jungen Polizeianwärter auf dem Beifahrersitz und den missmutig dreinblickenden Teenager auf der Rückbank erkennen. Enttäuschung stieg wie eine dunkle Wolke in ihr auf. Man war auch ohne sie zurechtgekommen.

Offensichtlich hatte nur einer der Jugendlichen, die sich des unbefugten Eindringens schuldig gemacht hatten, es gewagt, Widerstand zu leisten. Deswegen saß er jetzt im warmen Polizeiwagen, während seine Kumpane vermutlich auf ihren Rädern heimwärts schwankten.

»Was machst du denn hier?«, wollte Thure wissen und musterte sie neugierig.

»Joggen. Wonach sieht es denn aus?« Die Antwort war patziger ausgefallen als nötig, doch Hedi war noch nie eine gute Schauspielerin gewesen. Wann immer ihre Laune in den Keller zu sinken drohte, blieb dies ihren Mitmenschen nicht verborgen.

Thure, der wegen seiner beeindruckenden Körpergröße fast mit dem Kopf an das Wagendach stieß, weswegen üblicherweise sie diejenige war, die zu ihm aufblicken musste, hob fragend die Brauen. »Joggen? Jetzt, um diese Zeit?«

»Tagsüber bin ich Mutter, wie dir nicht entgangen sein dürfte«, war ihre schnippische Antwort.

»Doch, das ist mir bekannt.« Die hochgezogenen Brauen senkten sich wieder, und Hedi bemerkte, dass die beiden anderen Insassen des Polizeiwagens ungeduldig zu werden begannen. »Wenn du mal bei Tage hinter deinem Kinderwagen herjoggen möchtest, könntest du doch mal bei mir auf der Wache vorbeischauen. Auf einen Kaffee oder so.«

»Wirklich? Das klingt großartig.« Allein der Gedanke, sich mit einem erwachsenen Menschen über etwas anderes als ihren Alltag unterhalten zu können, hob ihre Laune wieder. »Dann komme ich gleich später zu dir. Aber sorg dafür, dass anständiger Kaffee in der Kanne ist. Nicht dieses entkoffeinierte Zeug, das du bevorzugst.«

»Wird gemacht.« Sein Lächeln verschwand hinter der hochfahrenden Seitenscheibe, und der Motor sprang an. Gemächlich zockelte Einsatzwagen vier von dannen. Hedi lehnte noch eine Weile am Zaun, und wartete darauf, dass ihr pochendes Herz sich etwas beruhigte. Erst dann kehrte sie heim, überließ ihren beiden fest schlafenden Männern das Ehebett, stellte sich ans Fenster und wartete auf den Sonnenaufgang. Der heutige Tag würde nicht gleichförmig werden wie seine Vorgänger. Es erwartete sie mehr als Windeln, Plastikrasseln und von Sabber getränkte Lätzchen. Heute hatte sie eine Verabredung auf dem Revier.

 

2

 

 

Sommer 2018, Freitag: 13.45 Uhr Isi

 

»Ich hasse es, wenn du nebenher Nachrichten auf deinem Handy tippst«, maulte Laura. »Konzentrier dich auf das Autofahren.«

Isi war drauf und dran, ihrer Freundin zu sagen, sie solle sich um ihren eigenen Kram kümmern. Wer am Steuer saß, hielt die Macht in den Händen, entschied, wo es hinging und welche Musik lief. Und im Gegensatz zu Laura besaß Isi bereits genug Fahrpraxis, um zu wissen, was sie sich zutrauen konnte. Immerhin fuhr sie nun schon seit über einem Jahr mit dem alten Citroën ihrer Mutter zur Arbeit im nächsten Dorf.

Isi hatte ihre Schullaufbahn wegen anhaltender Perspektivlosigkeit, wie sie selbst es nannte, zwei Jahre vor dem Abitur abgebrochen und saß seitdem an der Kasse eines Supermarktes. Vor ihr lag bestimmt keine große Karriere, aber die Kollegen waren freundlich, und das gemeinsame Lästern über Kunden tat Isi wohl. Derzeit war sie mit ihrer Arbeit sehr zufrieden, und wenn sich daran einmal etwas ändern sollte, konnte sie jederzeit gehen. Irgendetwas ergab sich schließlich immer für diejenigen, die arbeiten wollten.

Ihr Handy auf ihrem Schoß meldete eine neue Nachricht, die Isi augenblicklich las. Ganz egal, wie grimmig Laura durch die Windschutzscheibe auf die Fahrbahn starrte. Vor ihrer Stoßstange tat sich nichts, das wichtiger gewesen wäre als diese Information. Denn Robbie schrieb ihr schon seit den frühen Morgenstunden, wie leid ihm alles täte und dass er einen Fehler begangen hätte. Gab es etwas Wichtigeres als das Schuldeingeständnis eines Ex-Freundes? Sicher nicht.

Schon vor dem morgendlichen Zähneputzen war bei ihr die erste Nachricht von Robbie eingegangen, was vermuten ließ, wie ernst es ihm mit seiner Reue war. Für gewöhnlich schlief er noch tief und fest, während sie sich bereits auf dem Weg zur Arbeit befand.

Obwohl sie seit über einem halben Jahr zusammen waren, hatte Isi es nicht gewagt, bei Robbie, der die obere Etage im Haus seiner Eltern bewohnte, einzuziehen. Und der letzte Streit hatte ihr recht gegeben. Auch wenn sie nicht viel in ihrem eigenen Elternhaus hielt, sich voll und ganz Robbie auszuliefern, von ihm abhängig zu sein, war ein Gedanke, der Isi nicht behagte.

»Verdammt, Isi!«, rief Laura und deutete nach vorn, woraufhin Isi den Citroën zurück auf die rechte Spur lenkte.

»Kein Problem, hier ist Platz genug«, erwiderte sie und tippte eine Antwort an Robbie. Natürlich würde sie ihm vergeben. Jedem konnte mal ein Fehler unterlaufen. Obwohl ein längerer Flirt mit dem Mädchen von der Tankstelle schon einen großen Vertrauensbruch darstellte. Aber Jungs wie Robbie, groß, muskulös und gutaussehend, liefen nicht eben viele in ihrem Dorf herum. Und wenn sie schon keine Aussicht auf eine eigene Karriere hatte, so wollte sie sich doch so gut wie möglich verheiraten.

Robbie war ihre Chance. Autoschrauber wie er wurden immer gebraucht und verdienten gutes Geld.

Erneut gab ihr Handy einen Ton von sich.

›Wo bist du?‹, stand dort unter Robbies Foto, das ihn mit gegelten Haaren, die er sich von irgendeiner toten Rocklegende abgeschaut hatte, Sonnenbrille und Lederjacke zeigte.

Rasch tippte sie die Antwort: ›Auf dem Weg zum Festival, das weißt du doch. Komm doch auch.‹

Sie lächelte bei dem Gedanken, wie es wäre, die nächsten Tage mit Robbie am Strand verbringen zu können. Sicherlich würde es wundervollen Versöhnungssex geben. Isi liebte Versöhnungssex.

»Okay, das reicht«, erklärte Laura in dem Moment, da ein Wohnwagengespann hupend an ihnen vorbeifuhr. »Fahr rechts ran und lass mich ans Steuer, wenn du unbedingt Nachrichten schreiben musst. So geht es nicht weiter.«

»Warum? Ich fahre doch langsam und vernünftig«, widersprach Isi und ließ das Handy in den Schoß fallen.

»Du schleichst so grausam vor dich hin, dass uns sogar Reisebusse überholen«, fauchte Laura. »Hinter uns staut sich der Freitagnachmittagsverkehr, ist stinksauer auf dich, und du merkst es nicht mal, weil dir irgendeine blöde Facebook-Diskussion wichtiger ist. Jetzt pack endlich das Handy weg oder ich schmeiße es aus dem Fenster.«

»Schon gut«, erwiderte Isi, warf noch einen Blick auf den Chat mit Robbie, dessen letzte Nachricht ›Bin fast schon unterwegs‹ lautete, und steckte das Handy in die dafür vorgesehene Halterung am Armaturenbrett.

Während sie es großzügig Laura überließ, die Musik auszusuchen, überlegte sie fieberhaft, wann und in welcher Reihenfolge sie ihre Freundin über die Planänderung bezüglich des gemeinsamen Wochenendes unterrichten würde. Wenn Robbie wirklich nach Eckernförde kam, änderte das alles. Alles, bis auf das Problem, welches sich kurz vor der Abfahrt im Gespräch mit ihrer Mutter ergeben hatte. Aber dabei ging es letztendlich nur um eine Kleinigkeit, die sich irgendwie regeln lassen würde, so sah es zumindest Isi.

Leider neigte Laura dazu, aus allem ein Problem zu machen, das war ein etwas unglücklicher Wesenszug an ihr, der Isi schon öfter genervt hatte. Tatsächlich hätte sie Laura bestimmt nicht auf diesen Wochenendtrip mitgeschleppt, wenn Robbies Einsicht ein wenig eher gekommen wäre. Doch jetzt befand sich Laura nun mal in ihrem Schlepptau, was vermutlich auch Robbie nicht schmecken würde.

Aus den Lautsprechern dröhnte der Sommerhit Despacito, die Sonne schien aufs Wagendach, und es war kaum etwas los auf der Landstraße. Alles ganz entspannt. Noch einmal angelte Isi sich ihr Handy.

»Ich warne dich«, fauchte Laura vom Beifahrersitz, wo sie mit verschränkten Armen hockte und schon jetzt schlechte Laune verbreitete.

Isi verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden.

»Nur eine kurze Nachricht«, beteuerte sie. »Es ist total wichtig.« Nach einem Blick in Lauras Gesicht ergänzte sie. »Es hat etwas mit der Arbeit zu tun.«

»Ach wirklich?« Laura klang höhnisch. »Wissen die Leute im Supermarkt nicht ohne dich, wohin sie die Konserven räumen sollen?«

Isi antwortete nicht. Stattdessen schrieb sie Robbie, dass sie Laura bei sich im Auto hatte, woraufhin ein augenrollender Smiley unter ihren Worten erschien. Isi sah zur Seite und konnte nur zustimmen. Laura war manchmal einfach eine Spaßbremse. Aber sie würde sich die gute Laune nicht von ihr verderben lassen. Nicht jetzt, da Robbie wieder ein Teil ihres Lebens war. Dieses Wochenende sollte genial werden, ein Wochenende, das sie allesamt niemals vergessen würden.

 

***

 

Auszug aus einem Interview mit Lauras Freundin Christel.

Quelle: True-Crime-Kanal Lost

 

»Isi war eigentlich schon immer ein egoistisches Miststück. Viele wollen ihr zugutehalten, dass sie stets nur aus Gedankenlosigkeit handelte, doch in Wahrheit war alles Berechnung. Schon in der Grundschule dachte sie immer zuerst an sich und ihre eigenen Gefühle. Was sie ihren Mitmenschen damit zumutete, nahm sie kaum wahr. Als wir älter wurden, haben wir phasenweise regelrecht einen Bogen um sie gemacht. Es war Laura, über die Isi immer wieder Zutritt in den Kreis ihrer alten Freundinnen wie mich und Hella erhielt. Laura besaß ein großes Herz, und sie hat wohl auch nie so ganz begriffen oder begreifen wollen, wie simpel Isi gestrickt war. Jede Hauskatze ist treuer als Isi, und wer weiß, wie eigenständig Katzen sind, der versteht, was ich damit sagen will.

Das Traurige dabei ist, dass Isi eigentlich niemals eine echte Chance hatte. Ihre Mutter war genau wie sie, und jeder im Dorf wusste das. Wie wir Isi mieden, so ging die Generation unserer Eltern mit Isis Mutter um. Beispielsweise wäre es wohl nie einer unserer Mütter in den Sinn gekommen, unsere Väter mit einer solchen Frau auch nur eine Sekunde allein zu lassen. Das ist einer der Nachteile, wenn man in einem kleinen Dorf lebt: Ist der Ruf erst ruiniert, bleibt er es auch. Klatsch verjährt niemals, er bleibt über Jahrzehnte hinweg frisch und findet immer wieder aufmerksame Zuhörer.

Isis Mutter hat in ihrer Jugend nichts anbrennen lassen, und niemand wunderte sich, als ihre Tochter sich anschickte, in ihre Fußstapfen zu treten. Alle waren regelrecht erleichtert, als ihre Mutter schließlich diesen Handlungsreisenden über das Internet kennenlernte und ihn vom Fleck weg heiratete. Das war auch wirklich ein ganz anständiger Kerl, sogar Isi mochte ihren Stiefvater. Aber weil der seine kleine Wohnung in Eckernförde niemals ganz aufgegeben hat, existierte eben diese Ferienwohnung, von der Laura an jenem Wochenende glaubte, dort übernachten zu können. Als ob sie nicht gewusst hätte, wie leichtsinnig es ist, sich auf Isi zu verlassen.«

 

 

Kommentare aus der Community:

Foxymylove: Das Miststück bist ja wohl du. Wie kannst du so etwas über unbescholtene Bürger loslassen?

TausendTränen: Ich schätze, jeder hat eine Isi in seinem Umfeld. Eigentlich sollte man sie auf den Mond schießen, bringt es aber nicht über sich. Und irgendwann rächt sich diese Nachsicht dann bitterlich.

Coolgirl: Es ist so hart, auf diesem Kanal mitzuverfolgen, wohin die Dummheit eines einzelnen Menschen führen kann. Coole Berichterstattung, Mel, wie immer. Du bist die Beste. Ohne deine Beiträge könnte ich gar nicht mehr einschlafen.

 

Herbst 2018

 

»Ich wusste schon im Vorfeld, dass es so kommen würde.« Thure schenkte ihr einen Kaffee ein, der, zumindest dem Geruch nach zu urteilen, diese Bezeichnung zu verdienen schien. »Du bist Polizistin mit Leib und Seele, dein Verstand will herausgefordert werden, deinen Körper dürstet es nach Adrenalin. Und jetzt erzähl mir nicht noch einmal, du seist zufällig letzte Nacht in der Schrebergartenkolonie aufgetaucht. Du kannst es einfach nicht lassen, wenigstens mit einem Ohr dem aktuellen Geschehen zu lauschen.«

Hedi Voss suchte tatsächlich nicht nach einer Ausrede. Sie war von Thure der krankhaften Neugier überführt worden, und es störte sie nicht. In ihrem Beruf galt dieser Wesenszug gewissermaßen als Tugend.

»Ich habe keine Wahl mehr. Wenn ich das Mutterschaftsexperiment frühzeitig abbreche, winkt mir ein Halbtagsjob hinter dem Schreibtisch«, erwiderte sie düster. »Zum Aktensortieren will ich aber nicht ins Berufsleben zurückkehren. Ich möchte, wie du schon sagst, gefordert werden.« Sie sah sich hastig um und vergewisserte sich des geschäftigen Treibens ihrer Kollegen. Niemand schien auf Thure und sie zu achten.

Hedi beugte sich in ihrem Besuchersessel vor und raunte ihm zu. »Hast du nicht etwas für mich? Irgendetwas, bei dem es sich lohnen würde, einfach mal genauer hinzuschauen? Inoffiziell natürlich.«

»Allerdings habe ich so etwas«, flüsterte er ebenso leise zurück. »Es darf aber keiner erfahren, wer dich darauf angesetzt hat, sonst bekomme ich Schwierigkeiten. Offiziell ist es nämlich gar kein Fall. Der Tod des Mädchens wurde als Unfall deklariert. Aber außer den Polizisten, die den Fall untersucht haben, scheint das niemand glauben zu wollen. Die Öffentlichkeit, allen voran die Mutter des Mädchens, setzt uns ziemlich unter Druck.«

»Was für ein Mädchen meinst du?« Hedi, die seinen Worten atemlos gelauscht hatte, witterte zum ersten Mal seit Wochen Morgenluft. Es gab etwas für sie zu tun, das Leben hatte sie wieder.

»Du hast bestimmt schon von ihr gehört. Seit dem letzten Sommer schleichen Hobbykriminalisten ihretwegen über die Steilküste und streuen die wildesten Gerüchte. Es geht um Laura Arnold.«

Hedi runzelte die Stirn. Dumpf erinnerte sie sich daran, den Namen einmal irgendwo gelesen zu haben. Doch die vergangenen Sommermonate hatte sie damit zugebracht, schwanger zu sein, und war darüber hinaus nicht für das aktuelle Tagesgeschehen empfänglich gewesen. Offensichtlich war ihr etwas entgangen.

»Thure, ich steh auf dem Schlauch. Hast du eine Akte für mich, in die ich mich einlesen kann? Wenn derzeit niemand an der Geschichte dran ist, wird man die Unterlagen wohl kaum vermissen.«

Anstatt einer Antwort zog der Kollege die zwischen ihnen am Boden abgestellte Wickeltasche näher zu sich heran. Dreimal gefaltete Ausdrucke wanderten klammheimlich aus seiner Hand direkt zwischen die Reservewindeln und Spucktücher.

Hedi hob fragend eine Augenbraue. »Ist das alles?«

»Hast du mir nicht zugehört? Offiziell gibt es diesen Fall gar nicht.« Thure sah sie eindringlich und ein wenig verlegen an. »Polizei und Krankenwagen waren vor Ort, die Leiche wurde abtransportiert, man hat ein paar Leute dazu befragt, und das war’s dann auch schon. Niemand hat nach der Spurensicherung geschickt oder den Tatort gesichert, denn den gibt es ja gar nicht, wenn kein Verbrechen vorliegt. Es wurde keine Anklage erhoben, da man kein Fremdverschulden feststellen konnte. Alles, was ich dir geben kann, sind ein paar Aussagen, Fotos und das, was aus der Pathologie zu uns zurückkam.«

»Entschuldigung, aber ich verstehe dich anscheinend wirklich nicht richtig.« Hedi versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Ich frage dich nach irgendetwas, womit ich die Zeit totschlagen kann, und du kommst mit einem möglichen Mord um die Ecke, der als Unfall abgetan wurde? Geht es auch eine Nummer kleiner?«

Thure schüttelte den Kopf. »Schau es dir einmal an, und du wirst sehen: Der Fall schreit nach Aufklärung. Inzwischen denken viele Menschen sehr kritisch über den Tod von Laura Arnold und unsere Rolle darin im Speziellen. Man wirft uns vor, schlampig gearbeitet und nicht genau hingesehen zu haben. Und wahrscheinlich trifft das auch zu.« Thure zog eine Grimasse. »Gut, es trifft definitiv zu, sonst wären wir jetzt nicht in der Situation, uns rechtfertigen zu müssen.«

»Wer rechtfertigt sich?« Hedi wurde langsam ungeduldig. »Thure, ich stecke nicht mehr drin im Geschehen. Nur weil ich den Funk abhöre, landet der heiße Scheiß aus der Gerüchteküche noch lange nicht bei mir. Also, was geht hier vor?«

»Das Übliche.« Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher und

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Miriam Rademacher
Cover: MT-Design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2022
ISBN: 978-3-96714-236-5

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