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Prolog

Als wäre es ein Fernrohr oder Fernseher legt der energetische Nebel des riesigen goldverzierten Spiegels den Blick auf eine Sommerwiese frei. Der zahme Wind spielt mit dem saftigen Grün der Felder und lässt die Wiese wie eine Meeresoberfläche schwanken. In kleineren und größeren Wellen biegen sich die Grashalme im sanften Wind und vermitteln eine natürliche Ruhe. Mitten in dieser Idylle sitzt eine junge Frau. Ihr rotblondes kunstvoll geflochtenes Haar liegt um ihre elfenbeinfarbene Schulter wie schwere Seide und auf dem Saum ihres blassrosa Kleides liegen gepflückte Waldreben, Wildrosen, Silberwurz und Hortensien. Sie verknotet die Blumen zu einem Kranz und ihre langen Finger machen dies mit einer unerträglichen Zartheit. Ob sie das so ruhig gemacht hätte, wenn sie wüsste, dass sie von einem jungen Mann beobachtet wird? Durch einen magischen Spiegel? Plötzlich hält sie inne. Ihre Finger erstarren und gerade in dem Moment als sich der Kontrast einzustellen beginnt so dass man ihr Gesicht genauer erkennen könnte verflüchtigt sich das eben gesehene Bild und der Spiegel nimmt seine normale Funktion an. Er spiegelt braune Augen leicht zerzauste blonde Haare und die androgynen Gesichtszüge wieder an denen ich Michael sofort erkenne. Er ist einer dieser Personen, von denen meine verwirrenden Träume meistens handeln. Michael spricht einen lautlosen Fluch aus und stemmt eine Faust gegen den Spiegel. »Auch wenn ich ewig darum kämpfen muss, um deine Liebe und Gunst zu bekommen so werde ich es gewiss machen denn du bist mein Licht und meine Dunkelheit, mein Anfang und mein Ende! Du alleine beherrschst mein Herz und meine Seele und nur in deine Hände lege ich die Entscheidung, ob ich Leben oder Sterben soll!« Seine Worte klingen so als wäre es sein Mantra und seine ganze Haltung spricht dafür, dass er auch wirklich daran glaubt, was er gerade schwer seufzend gesagt hat. Er lehnt seine Stirn an die glatte Fläche des Spiegels und ich spüre, dass sein ganzer Körper bebt. Gerade deswegen, weil es ihm sehr schwer fällt, mit seinem Kummer klarzukommen bemerkt er erst ein paar Augenblicke später, dass ein aufmerksames Augenpaar ihn von Kopf bis Fuß mustert. »Michael, dir ist es verboten ihre Nähe zu suchen und über sie zu wachen!«, sagt der Ankömmling. Seine Stimme hat einen leicht weiblichen, instrumentalen Klang. Er stellt sich neben Michael hin und schaut auch auf sein Spiegelbild. Ich sehe ihn zum ersten Mal. Das Äußere dieses Mannes erinnert mich an einen altägyptischen König. Schokoladenbraune Haut, markante Gesichtszüge, dunkle fast schon schwarze Augenbrauen und darunter – mir stockt der Atem – violette Augen. Was für eine Laune der Natur! Deswegen habe ich gleich vom ersten Augenblick an das Gefühl gehabt, einen König vor mir zu haben! Seine ganze Erscheinung ist so graziös und unmenschlich erhaben, dass es erdrückend ist, ihn auch nur anzusehen. Aber die Vielzahl von Schmuck, Ringen, Ketten und Piercings lässt ihn eher wie einen reichen Perser wirken. »Mein König …« Michael räuspert sich und verlagert sein Gewicht schließlich aus der Anspannung in eine weniger offizielle Haltung. König! Meine Intuition ist unbeirrbar. »Mir war nicht bewusst, dass mir jemand zuhört, Metatron!«, antwortet er nachdenklich. »Es tut mir zwar leid, dass ich immer wieder unsere Gesetze breche und dich sichtbar enttäusche … aber ich hab einfach nicht die Kraft, um Abstand zu nehmen. Sobald ich sie aus den Augen verliere, benetzt die Angst um ihr Leben meinen ganzen Verstand.« »Ich würde ja gerne sagen, dass ich dich verstehe, aber du hast sehr wichtige Pflichten, die du erfüllen musst und sie behindert dich daran!« Metatron legt seine Hand in einer beschwichtigenden Geste auf die Schulter von Michael, der seinen Kopf so weit nach vorne legt, dass sein Kinn beinahe die Brust berührt. Diese Haltung lässt etwas Entschlossenes und Kaltes in den Augen von Metatron aufblitzen. Die Einsicht, dass eine Besinnung von Michael unmöglich ist, kann man ihm förmlich ansehen. Michael ist der General einer übermächtigen Armee, - ich hab ihm oft bei seinen Kämpfen zugesehen, wenn auch nicht ganz freiwillig - aber er denkt nicht mehr an den Krieg, wie er sollte! Das sehe nicht nur ich, das sieht auch Metatron. »Vor meinen Augen steht ein gebrochener, junger Soldat … und nicht mehr der große Michael. Du bist nicht mehr länger imstande, mein großes Heer anzuführen!«, erläutert Metatron zeitgleich seine Gedanken. »Weißt du den nicht, wie wichtig unsere Aufgabe ist?«, fragt er. Michael nickt nur stumm, ohne auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen. Der König wartet ab, und als Michael auch weiterhin schweigt, dreht Metatron sich von ihm weg. »Weißt du was man mit einem Tier macht, das seinen Zweck nicht mehr erfüllen kann?« »Man bringt es zum Schlachter, Herr!«, antwortet Michael mechanisch, ohne zu zögern. Es ist anscheinend schon so etwas wie eine antrainierte Gewohnheit, dass Michael gnadenlos loyal und ehrlich gegenüber seinem König ist. Michael dreht sich zu Metatron um, lässt aber seine Augen weiterhin gesenkt. »Dann weißt du doch gewiss, was man mit einem Heerführer macht, der des Krieges leid ist?« In Michael´s nach unten gerichteten Augen leuchtet ein Hoffnungsschimmer auf, den ich nur als ein inneres Leuchten ausmachen kann. Seine nächste Idee ist sehr simpel. Ich allerdings könnte sie beinahe als naiv bezeichnen. »Man befreit ihn vom Dienst!?«, fragt er schließlich und hebt seinen vertrauensvollen Blick. Aber anstatt der gütigen Augen seines Königs blickt er direkt auf den Griff einer hoch über ihm erhobenen Klinge. Mit einem enormen Schwung und dem schrillen Geräusch der zerteilten Luft spüren wir – da ich in seinem Körper, wie ein fremder Besucher gefangen bin - augenblicklich den dumpfen und heißen Schlag, der „uns“ am Hals trifft. Dieser plötzliche Angriff taucht alles um uns herum in eine tiefe Dunkelheit. Der spartanisch eingerichtete Raum, bei dem der Spiegel das Hauptmöbelstück ist, verschwindet. Selbst die Kühle der goldweißen Marmorplatten, auf welche Michaels Körper fällt, ist nicht spürbar. Stille, Leichtigkeit und gleichgültige Benommenheit krabbeln seinen Körper hinauf und umschließen ihn schon bald ganz. Selbst ich fühle dieses gähnende Nichts, als ob ich auch jetzt noch mittendrin wäre. Der Raum um ihn herum verliert endgültig seinen physischen Körper. Alles löst sich auf und Michael schwebt über der Erde und nur der Schatten des Mondes begleitet ihn auf seinem schwerelosen Flug. Doch während er in der absoluten Vergessenheit versinken müsste, klammert sich sein körperloser Verstand an einen fast unmöglichen Gedanken: Trotz der Tatsache, dass er nun Tod ist und sein weit entferntes Herz bereits die letzten Töne von sich gegeben hat, beherrscht ihn immer noch das brennende Gefühl der Sehnsucht nach dieser Frau. Dieses, welches die Liebe zu dieser Frau und ihrer schönen und unvergleichlich reinen Seele auslöst. Er befiehlt sich, seine Kräfte noch ein letztes Mal zu sammeln. Er zerrt und rüttelt an seiner bereits einschlafenden Seele. Und plötzlich löst sich tatsächlich ein Stück von ihr und wird zunehmend so schwer, wie ein Stein. Dieses Teil seiner Seele ist nur deswegen so schwer, weil es sämtliche Gefühle und sein Bewusstsein in sich gespeichert hat. Er fühlt, wie sein Seelensplitter von der Erde angezogen wird, und spürt den geringen Widerstand der Atmosphäre, die er mühelos durchdringt. Als er allerdings die angestrebten Kontinente erkennt und ihm bewusstwird, welchen Kurs seine Seele eingeschlagen hat, kann es ihm gar nicht schnell genug gehen. Weil er zu ihr fliegt ... zu seiner geliebten Ayana ...!

Kapitel 1, Mike

Die Stimme meiner Mutter, die wie jeden Morgen vom unteren Treppenansatz erklingt, reißt mich aus diesem emotionsüberladenen Traum. »Guten Morgen, Liebes!« höre ich, während das kalte Gefühl mich nur schleppend loslässt. »Frühstück ist fertig!«, verkündet sie. Passend zur Ansage gibt mein Magen, der anscheinend keinerlei Verbindung zu meiner bizarren Traumwelt besitzt ein knurrendes Geräusch von sich. Ich fahre mir mehrmals durch meine Haare, strecke dann langsam meine Hände und Füße aus und richte mich schließlich in meinem gemütlichen Bett auf. Einen schönen und sonnigen Tag versprechen die paar wenigen Sonnenstrahlen, die es durch die dicken Veloursvorhänge hindurchschaffen. Angesichts dessen versuche ich, erst recht die Wirkung dieses merkwürdigen Traumes abzuschütteln. Denn trotz der Schönheit dieses Mannes, der mir mein Leben lang im Schlaf begegnet ist der Anblick wie er enthauptet wird so schaurig, dass ich das Gesehene am liebsten sofort wieder vergessen möchte. Mit leichten tänzelnden Schritten laufe ich über meinen blauen flauschig weichen Zimmerteppich zum Bad. Ich bin die stolze Besitzerin eines Einzelbades, welches mein Zimmer zu einem eigenen Reich macht. Ich vermute aber, dass meine Mutter mir dieses Zimmer nicht wegen ihrer Großzügigkeit überlassen hat und selber ins Erdgeschoss gezogen ist. Es liegt bestimmt viel mehr an ihrem Wunsch mich noch etwas länger bei sich zu behalten. Sie musste schon meinen Bruder Mike ziehen lassen, als der vor drei Jahren ein Studium in Odessa angenommen hat, und wäre nun sicherlich überhaupt nicht begeistert, wenn auch ich das häusliche Nest so schnell verlassen hätte. Was in dem nächsten Jahrzehnt auch definitiv nicht in Planung ist. Zunächst will ich im Leben wirklich Hand und Fuß fassen und sicher sein, dass ich all das schaffe, was von mir verlangt wird, ehe ich mich in das Abenteuer Erwachsen sein stürze. Untypisch für unsere zigeunerische Abstammung leben wir in normalen Häusern. Und jedes Mal wenn ich mit dem Vorurteil konfrontiert werde, dass Zigeuner doch üblicherweise in Zelten wohnen und ein Nomadenleben führen, kläre ich mein Gegenüber unermüdlich darüber auf, dass unser Stamm schon vor acht Jahren einen festen Wohnsitz angenommen hat. Dabei fiel unsere Wahl auf Sochi, eine sehr sonnige, wunderschöne, belebte und am Meer liegende Stadt der Region Krasnodar in Russland. Hier habe ich viel Freundschaft und auch viel Feindseligkeit erfahren. Die schlechten Nachrufe, die uns immerzu hinterherhallen nur weil wir Zigeuner sind, reichen für die meisten Mitmenschen aus, um bösartige Sachen zu sagen, stets anmaßend zu sein und unsere Deklassierung zu rechtfertigen. Ob sie nun einen Ingenieur, einen Architekten oder einen Anwalt vor sich haben, spielt dabei absolut keine Rolle. Wir alle zählen nun mal zum Abschaum der Gesellschaft und das nicht zuletzt deswegen weil viele Gadjos - so bezeichnen wir die Fremden - die Frauen unseres Stammes anhimmeln, von denen aber immer wieder verschmäht werden. Solche Situationen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der Geschichte über den Glöckner von Notre Dame, nur dass der menschenunwürdige Umgang gegenüber der Hauptprotagonistin Esmeralda Alltag für viele Zigeuner ist. Unsere andersartige Schönheit wird von den hellhäutigen und blauäugigen Russen ganz schnell mit einer Teufelsgabe gleichgesetzt. Die Sitten sind sehr streng geregelt und so wie die Gadjos uns von ihrer Gesellschaft abtrennen pflegen auch wir im Endeffekt keinen Umgang mit Ihnen. Sie wollen uns weder verstehen noch akzeptieren und wir sind bei weitem nicht so blöd, um deren Hass und Feindseligkeit Dankbarkeit und Unterwerfung entgegenzustellen. Für uns gilt es alle zu ignorieren, die uns befehden. Während ich in Gedanken schwelge, binde ich meine rotbraunen Locken nach gründlichem Kämmen am Hinterkopf zu einem hohen Zopf zusammen. Nachdem auch mein Gesicht gewaschen ist, schlüpfe ich schnell in meine hellblauen Jeans und ein weißes Korsagetop. Die dunkelblauen Schleifen bringen meine helle, fast schon weiße Haut gut zur Geltung und der enge Schnitt unterstreicht meine schlanke Taille. Ich bin keineswegs versessen darauf, so dünn wie die Models aus dem Fernsehen zu werden. Weil ich ihre magere und zerbrechliche Gestalten niemals als ein schönheitswegweisendes Ideal ansah. Sie sind zwar Perfekt, aber ihre Perfektion liegt viel mehr in der Verkörperung unserer kranken und seelenlosen Gesellschaft. Wer sich allerdings gegen den maßgebenden Standard sträubt, ist dazu verdammt, früher oder später unterzugehen. Und das ist auch der einzige Grund, warum ich mein Rückgrat stärke! Ich will nicht klein beigeben und finde das ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl noch niemandem geschadet hat. In meinem Fall ist es sogar ein Muss, um Tag für Tag nach draußen zu gehen und sich dem Leben zu stellen. Meine Haarfarbe und die dunklen Augenbrauen sind sehr typisch für meine Abstammung jedoch nicht die blauen Augen, welche von grünen Sprenkeln verziert sind. Meine Mutter ist eine wunderschöne schlanke rothaarige Frau, deren freundliche ausdrucksstarke grüne Augen von einem beneidenswert warmen Braunton umschlossen sind. Und ungeachtet dessen, dass ich meinen Vater, den einst sehr charmanten und hübschen Radu Ayr niemals wirklich kennenlernen konnte - er verstarb, als ich noch ein Baby war - kann ich dennoch mit Gewissheit sagen, dass ich diese besondere Augenfarbe eindeutig nicht von ihm habe. Seine waren so braun wie Vollmilchschokolade. Deswegen ist es keine Behauptung, sondern eine Feststellung, wenn ich sage, dass mein Aussehen in der Familie ein Unikat ist. Im Übrigen ist es auch der einzige Grund, warum meine Mutter zusammen mit ihrem jüngsten Bruder Jan gern Witze auf meine Kosten reißt. »Die Hebammen waren doch tatsächlich so dreist und haben mir ein falsches Kind im Geburtshaus gebracht«, sagt sie dann immer. »Und du warst so blöd, um es auch noch als dein Eigenes anzuerkennen!«, antwortet dabei ihr Bruder. Meistens kann ich mich dazu durchringen mitzulachen. Vor allem deswegen, weil ich weiß, dass es nicht wahr ist. Meine Mutter ist tatsächlich meine Mutter. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass ich vertauscht worden bin. Und dennoch ist es immer wieder verletzend, wenn die eigene Familie so über dich herzieht. Zumal weil sie nur aus mir, Mum, Jan und Mike besteht. Ich verstehe zwar, dass sie mich in Wahrheit ganz doll liebhaben, aber ich gehe schon von klein auf davon aus, dass man selbst dann für seine Worte bezahlen muss, wenn man im Grunde nur einen Scherz macht. Vor allem dann, wenn diese Anekdote auf einem wunden Punkt aufgebaut wird. Ich schüttle auch diese Gedanken von mir ab, ziehe meinen schwarzen Kajal aus dem Kosmetiktäschchen und male eine dünne, dezente Linie um meine Augen. Ich schminke mich niemals auffallend und vertrete das Motto: Weniger ist meistens mehr. Nach einem letzten Blick in den Spiegel begebe ich mich endlich nach unten, um meiner Mutter beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. »Nächste Woche kommt dein Bruder nach Hause. Hast du ihn schon angerufen und nachgefragt, wann du ihn vom Flughafen abholen kannst?«, fragt meine Mutter, noch bevor ich die Türschwelle zur Küche passieren kann. »Echt? Das habe ich ja ganz vergessen!«, lüge ich und gebe vor in Gedanken vertieft zu sein, um weiteren Fragen auszuweichen. Es ist nicht so, dass ich zu faul wäre, um zum Flughafen zu fahren, aber die Tatsache, dass es wegen Mike wäre, verursacht mir persönlich Bauchschmerzen. Dies stößt wiederum an die Grenze meiner verborgenen Abneigung, irgendjemandem meine Gemütsverfassung anzuvertrauen. Und ja ich weiß, es geht dabei um meine Mutter, sprich um die Frau, der ich alles Mögliche anvertrauen könnte, ohne verurteilt zu werden, aber ich schaffe es nicht. »So was! Ich hätte niemals gedacht, dass du deinen Erzfeind jemals vergessen könntest«, feixt sie weiter. »Was ist diesmal los? Machst du denn gar keinen Aufstand deswegen, weil es doch so schrecklich wäre, wenn Mike bei uns einzieht?«, fragt sie so eindringlich, dass ich mich beinahe an meinem belegten Brot verschlucke. »Mum! Das Verhalten, welches du gerade so farbenfroh beschreibst, gehört zu einem pubertierenden Teenager. Wie alt war ich damals überhaupt? Zehn oder elf Jahre alt!? Ich hatte da noch keine Ahnung wie wichtig Nächstenliebe oder gar Geschwisterliebe ist und finde deswegen, dass du ein bisschen unfair mir gegenüber bist, wenn du mich weiterhin damit aufziehst!« Ich schaue nachdenklich aus dem bodentiefen Fenster auf die grüne Wiese vor unserem Haus, wo die aufgehende Sonne mit Hilfe des Morgentaus jeden einzelnen Grashalm zum Glitzern bringt. »Ich gebe ja zu, dass ich früher sehr egoistisch und verzogen war, aber dieses Gör gibt es schon lange nicht mehr. Mittlerweile bin ich erwachsener und zurückhaltender geworden!« Erwachsener!? Dass ich nicht lache! Und was für eine trotzige Haltung ist das gerade? Nur deswegen weil deine Träume nicht mehr jugendfrei sind, hast du noch lange nicht das Recht dich als ein geformtes Individuum zu bezeichnen …!, spottet mein Verstand. Ich unterstehe mich aber, diese Gedanken auch noch laut auszusprechen. Mütter müssen nicht alles wissen, was in den Köpfen ihrer Töchter vorgeht! »So?! Erwachsen also? Wann hast du denn beschlossen eine etwas andere Politik in diesem heiklen Fall einzuschlagen?«, will sie wissen. »Der Zeitpunkt, wann du diese Einsicht verinnerlicht hast, kann doch gar nicht in so einer weiten Ferne liegen, wie du jetzt gerade behauptest. Ich kann mich nämlich noch sehr gut daran erinnern, dass du vor Mikes Abreise - was quasi erst vor drei Jahren stattfand - keinesfalls nett warst. Dabei warst du schon wie alt? Fünfzehn?« »Mike hat es sich selber zuzuschreiben!«, sage ich und bemerke das meine Antwort immer noch etwas bockig klingt. »Er hat als Erster damit angefangen, mich Tag ein, Tag aus zu ärgern!« Mum setzt ihr typisches Ist-schon-gut-meine-Kleine-Gesicht auf und tätschelt meine Hand. »Ich will keinen von euch beiden verurteilen. Du warst noch ein Kind und er war ebenfalls gerade mal achtzehn Jahre alt. Euer Verhalten war absolut normal«, beschwichtigt sie und wischt meinen Einwand mit einer einfachen Geste beiseite. »Ich weiß, dass du jetzt bestimmt sagen willst, dass Mike damals schon achtzehn war, was immerhin bedeutet, dass er ganze drei Jahre älter ist als du. Aber ich denke, dass es nun auch für dich keine Neuigkeit ist, wenn ich dir erzähle, dass Jungs grundsätzlich viel später in die Pubertät kommen. Das macht euch sowohl jetzt wie auch damals - zumindest im Geiste - zu Gleichaltrigen!«, kichert sie schelmisch vor sich hin. Was sie Witziges daran entdeckt hat, bleibt für mich jedoch unbegreiflich. »Du bist gemein Mum!«, murmele ich und lege mein Frühstück endgültig beiseite. Eher gnadenlos ehrlich!, raunt mein Verstand und zwingt mich dazu, dass ich aufstehe und zum Telefon gehe. »Schon gut. Du hast gewonnen! Wo ist die Nummer?«, frage ich und wühle bereits in der unordentlichsten Schublade, die unser Haus zu bieten hat. Irgendwo zwischen einem guten Dutzend Haargummis, verschiedenfarbigen Feuerzeugen, Streichhölzern und uralten Einkaufszetteln entdecke ich schließlich das schwarze Notizbuch meiner Mutter. Und ich bezeichne diese unsortierte Kontaktsammlung ganz bewusst nicht als ein Adressbuch, weil Letzteres in meinem Verständnis ganz anders aufgebaut sein muss, um so einen Titel zu tragen. »Liebes, Mikes Handynummer ist in der telefoneigenen Datenbank gespeichert. Im Grunde alle Nummern ...«, quatscht sie im Plauderton weiter. Ich aber höre ihr nur noch mit einem Ohr zu. Mich überkommt so ein inneres Beben, dass alles andere sofort zur Nebensächlichkeit wird. Alles nur wegen eines harmlosen Telefonanrufs. Ich empfinde wirkliche Angst, die sich hauptsächlich darauf bezieht seine Stimme wiederzuhören und dasselbe Unbehagen zu fühlen, welches mich auch früher immer in seiner Nähe befallen hat. Als Mike noch bei uns lebte, war es zwar manchmal lustig. Vor allem deswegen, weil ich es mochte, einen großen Bruder zu haben, mit dessen Vergeltung ich den bösen Jungs drohen kann. Aber jedes Mal wenn ich meinte, dass wir uns vertragen könnten, zettelte Mike einen Streit an. Und wenn es mal so weit war, flogen die Fetzen so lange, bis Stella ein Machtwort sprach, uns zwei Streithähne auseinanderzog und in getrennte Zimmer verbannte. Aufgeschlagene Lippen, blaue Flecken und herausgerissene Haarbüschel standen damals auf der Tagesordnung. Wenn es also nach seiner Ankunft genau da weiter geht, wo wir damals unterbrochen wurden, werde ich wahrscheinlich doch noch ausziehen. Dann wäre es mir auch egal, was mein zehn-Jahre-Plan zu diesem Thema sagt, oder meine Mutter diesbezüglich unternimmt. Schweren Herzens und mit zittrigen Händen suche ich seine Nummer in den Kontakten des Telefons, wähle die Ziffern auf meinem Handy und drücke zögerlich die Wahltaste. Bereits nach dem zweiten Klingelton ertönt auf der anderen Seite der Leitung eine warme und ruhige Männerstimme. Ich erstarre für den Bruchteil einer Sekunde und frage mich unweigerlich, ob das wirklich seine Stimme ist?! Als Mike damals seine sieben Sachen packte und wegfuhr, ist er gerade erst volljährig geworden. Seine Stimme war zu der Zeit wie sein ganzes Wesen frech und jugendlich. Ganz anders als jetzt. Vorausgesetzt, dass ich auch tatsächlich mit Mike spreche. »Mike?«, frage ich unentschlossen und beinahe heiser. Ich räuspere mich und frage noch einmal. »Mike bist du das?« »Ja! Wer spricht da?«, erklingt zur Antwort wieder dieser goldene Bariton und beschert mir augenblicklich eine angenehme Gänsehaut. »Ich bin es, Rilana«, sage ich und ermahne mich, auf keinen Fall ins Stottern zu geraten. Eine kurze Pause entsteht, in der ich weder wie gewohnt durchatmen noch logisch denken kann. Ich warte einfach seine Reaktion auf mich ab. »Oh! Das ist aber eine nette Überraschung.« Höre ich dann und vermute, dass er lächelt oder zumindest schmunzelt, da sich seine Tonlage sehr verändert hat. Wenn er noch vor einer Sekunde geschäftlich und sachlich klang, ist es jetzt so, als ob etwas Vertrautes seine Stimme weichgestimmt hätte. Da stellt sich die Frage, wo der Mike abgeblieben ist, den ich einst kannte? »Tut gut ausnahmsweise Mal deine Stimme zu hören!«, erklärt er. »Wie geht es dir?« »Oh! Gut! Danke der Nachfrage«, antworte ich schnell. »Ich … ich wollte nur kurz nachfragen, wann du einfliegst und an welchem Flughafen, damit ich dich dort rechtzeitig abholen kann.« Eine weitere Pause entsteht. Diese ist aber bei weitem nicht so unangenehm wie die Letzte. Ich bin einfach gespannt darauf, was Mike noch sagen könnte und drücke mein Smartphone noch fester an mein Ohr. »Ach was, nein. Meinetwegen musst du keine öde Zugfahrt über dich ergehen lassen. Ich bestell mir einfach ein Taxi bis nach Hause!« Ich runzle die Stirn und betrachte währenddessen das Muster des Rauputzes unserer Küchenwand. Zugfahrt? Taxi? Stehe ich irgendwie auf dem Schlauch? »Das muss ich doch gar nicht! Ich hab doch mein Auto ...«, erkläre ich weiterhin freundlich. »Was? Du Zwerg hast schon die Erlaubnis gekriegt die Straßen von Sochi unsicher zu machen?« fragt er und fängt an zu lachen. Obwohl Mike sich sicherlich nur einen kleinen Scherz erlaubt, kann ich meine aufschämende Wut kaum verbergen. »Wieso denn Zwerg? Wenn du die grauen Zellen anstrengst, die der massiven Verblödung durch deine Weibergeschichten noch nicht erlegen sind, wird dir eventuell auch dämmern, dass ich schon volljährig bin«, schreie ich beinahe ins Telefon. Gut die Sache mit den Weibern habe ich mir einfach aus den Fingern gesogen, aber alle Jungs in seinem Alter haben nur eins im Kopf. Deswegen ... weiter im Programm ... »Oh und demnächst willst du mir weismachen, dass du schon einen Freund hast!?«, lacht er noch lauter und seine Belustigung versetzt mir einen weiteren Stich. Jetzt reicht´s. Ich nehme alles zurück. Mike hat sich kein bisschen verändert. »Hatte ich, aber er war genauso dämlich wie DU!«, fauche ich. »Sagst du mir nun die Uhrzeit und den Ort, damit ich Mum den Gefallen tun kann und dich abhole, oder was?«, frage ich. Aber noch, bevor ich Mike die Gelegenheit gebe, seine Antwort darauf zu formulieren, platzt ein solcher Satz aus mir heraus, welcher meine Lippen unter anderen Umständen niemals verlassen hätte. »Ach weißt du was? Es wäre vielleicht doch viel besser, wenn du Mum ne SMS schickst … irgendwie bekomme ich nämlich das Gefühl, das du mich überhaupt nicht sehen willst!«, sage ich bitter und lege mit diesen Worten unvermittelt auf. Ich bin so gefrustet, dass ich mein Handy auf die Kommode werfe und immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend in mein Zimmer fliehe. Ich sehe es als meinen einzigen Ausweg, um einer Aussprache mit meiner Mutter zu entkommen. Es reicht doch schon, dass sie das ganze Gespräch aus erster Nähe und mit einem argwöhnischen Blick beobachtet hat. Dumme Sache! Ganz dumme Sache! Diese eine nichtssagende Auseinandersetzung wühlt mich wieder so dermaßen auf, dass ich am ganzen Körper zittere. Es ist einfach unerklärlich, warum mir gerade seine Worte immer solche Schmerzen bereiten können, wo ich doch wegen des ständigen „Zigeunermobbings“ noch viel Schlimmeres gewohnt bin. Das andauernde Getuschel hinter meinem Rücken ist doch allemal schlimmer. Vor allem dann, wenn es nicht nur meine Mitschüler sind, die über mich ablästern, sondern auch noch die Lehrer selbst. Weil nicht mal die Gebildetsten unter Ihnen es sich verkneifen können, abfällige Kommentare zu äußern. Diese unbehaglichen Gedanken bringen mich wieder durcheinander. Ich muss ihn einfach ignorieren! Erinnere ich mich an den Ratschlag, den meine Mutter früher sehr oft gepredigt hat. Aber dass ich es wenigstens einmal wirklich probiert hätte, kann ich wahrlich nicht behaupten. Vielleicht ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, um dieser Lösung eine Chance zu geben!? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden es sehen. Während ich den perfekten Plan zum Bruderbehandeln in meinem Kopf aushecke, räume ich nebenbei mein Zimmer auf. Heute ist Freitag, der einzige Tag, an dem ich erst etwas später zur Universität rausfahren muss, weil die wöchentliche Lehrerkonferenz in den ersten paar Unterrichtsstunden stattfindet. Das heißt, ich kann mir ausnahmsweise etwas mehr Zeit bei allem lassen. Als ich erneut ins Badezimmer trete, fällt mir etwas auf dem Boden auf, was mir vorher entgangen ist: Eine ganz komische braune Tröpfchenspur durchkreuzt drei meiner Bodenfliesen. Um es näher betrachten zu können, knie ich mich hin und stelle erstaunt fest, dass es so aussieht, als ob man etwas Zähflüssiges von einem Pinsel runtergeschüttelt hätte. Die Art dieser Spur erinnert mich sofort an Aquarellspritzbilder, die wir in der Vorschule angefertigt haben. Lustige Dinger, deren Herstellung wahnsinnigen Spaß macht. Ich zücke ein Kosmetiktuch, feuchte es ein wenig an und knie mich wieder hin, um diese Spritzer wegzuwaschen. Noch erstaunlicher ist dann die Feststellung, dass diese Spur aus Blut besteht. Blut? Aber woher? Trotz meiner Versuche mich daran zu erinnern, wann ich diese Flecken verursacht haben könnte, muss ich schlussendlich eingestehen, dass ich unmöglich die Verursacherin dessen sein kann. Seit das Bad mir gehört, habe ich mich niemals geschnitten. Naja im Grunde kann ich mich überhaupt an keine einzige blutige Verletzung erinnern, die mein Körper erlitten hat. Man kann getrost sagen, dass meine Kindheit mehr als wohlbehütet abgelaufen ist. Noch bevor sich mein Kopf mit lauter unnützen Gedanken füllen kann, entscheide mich dafür anderen viel wichtigeren Beschäftigungen nachzugehen. Ich entsorge das dreckige Kosmetiktuch in meiner Toilette und widme mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe: Ich schmolle wegen des missglückten Anrufs! »Hallo Rilana!« Die schrille und ein bisschen piepsige Stimme meiner Freundin Helen jagt mir einen Schrecken ein, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie sich gleich an meine Fersen heftet, sobald ich einen einzigen Fuß in die Flure unserer Uni setze. »Hi Helen! Na was gibt’s Neues?«, frage ich mit monotoner Stimme. Es ist sowieso egal, ob ich sie frage oder nicht, sie berichtet mir jeden Morgen die exklusivsten Neuigkeiten unserer Universität. Aber rein höflichkeitshalber - meine Mutter hat mich schließlich gut erzogen - täusche ich ebenfalls tagtäglich Interesse vor. Wenigstens das scheine ich zu beherrschen, wenn sie immer noch davon ausgeht, mir diese Berichte liefern zu müssen. »Erstens gibt Kristin voll damit an, ich zitiere: „Mikhail hat angerufen und mir gesagt, dass er bald zurückkommt.“ Du weißt schon, wen sie damit meint, wenn sie Mikhail sagt, oder? Deinen Bruder!«, erzählt sie mit einer enormen Vorsicht. »Zweitens ich habe vorhin Ray getroffen und er sagte, dass er die nötigen Unterlagen von seinem Dozenten mitgebracht hat. Demnach können wir uns noch heute mit ihnen befassen. Drittens - und das wird dich wohl am meisten interessieren - ist Jera gerade auf der Suche nach dir. Ich gehe ganz schwer davon aus, dass er von einer neuen Idee wie er dir und dementsprechend auch mir auf die Nerven gehen kann, heimgesucht wurde. Sollen wir in Deckung gehen?« Ich lasse Helen nicht mal aussprechen, sondern greife sofort nach ihrer Hand und zerre sie geradewegs und eiligen Schrittes in den Seminarraum, wo unsere Vorlesung über Sozialpsychologie stattfinden soll. Helen ist eine kleine schlanke Blondine, deren herzförmiges Gesicht mit äußerst krausen aber auch sanften Locken umringelt ist. Sie wurde über die Jahre unserer engen “multikulti” Freundschaft zu so einer Art Schwesternersatz für mich. Naja eigentlich übernimmt sie auch die Funktion eines Bodyguards. Ihre dunkelgrüne Augen sehen jede Gefahr, die auf uns lauern könnte und Jera gehört hundertprozentig dazu. Dieser Möchtegernmacho, welcher schon zu alt für die Uni ist, weil er so gut wie jedes Semester zweimal nachgemacht hat, setzte sich schon vor zwei Jahren in den Kopf mich als seinen persönlichen Besitz anzusehen. Ich hingegen halte diesen roten Schopf, so gut, wie es eben geht auf Distanz zu mir. Nicht zuletzt deswegen, weil seine Art ein Kaugummi zu kauen verboten werden sollte. Jera schmatzt so laut, dass sogar ein blinder den manierlosen Flegel in ihm “sehen” könnte. Zu diesem Missbrauch an meinen Augen und Ohren kommt eine weitere Sinnesbelästigung hinzu: und zwar die permanente Wolke aus “Eau de gnadenlos beizend in der Nase” mit der Jera sich umhüllt. Das sind einfach zu viele No-Go´s! Ich kann ihn zwar tolerieren, weil ich grundsätzlich sehr liberal veranlagt bin, aber ich könnte ihn unter keinen Umständen mögen. Wie jedes Mal wenn Jera auf der Suche nach uns ist, flüchte ich auch diesmal in Rays Obhut. Er ist der Musterknabe unserer Jahrgangsstufe und im Fall Jera immer eine große Hilfe. Wenn jemand von uns nach diesem Studium zu einem ausgezeichneten Psychologen wird, dann er. Hinter seiner viel zu ruhigen Art und einer oberpeinlichen Nerd Brille steckt ein sehr schöner, gut gebauter und wirklich sehr sympathischer junger Kerl. Er hat sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Clark Kent aus der Supermannserie. Unter der Maske eines Schwächlings sah ich schon immer einen wahren Mann, der nur auf seine Entfaltungsmöglichkeit wartet. Ich setze mich geradewegs neben Ray hin und begrüße ihn wie immer mit einem freundschaftlichen Kuss auf die Wange. Gerade als ich meine Lippen von der leicht stoppeligen Haut reiße, betritt auch Jera das große und etwas altmodische Zimmer. Sein suchender Blick bleibt natürlich sofort an mir haften. »Hi Ray! Was hatten wir den auf? Ich muss nachprüfen, ob ich alles habe …«, plappere ich sofort darauf los. Ich gebe einfach vor ein lebenswichtiges Gespräch führen zu müssen und freue mich darüber, dass es den nötigen Effekt zeigt: Jera bekommt keine Gelegenheit, um uns anzusprechen. Ich nehme nur noch am Rande wahr, wie er zähneknirschend an uns vorbei geht und langsam in die Richtung seines Stammplatzes - dieser befindet sich am Ende des Klassenzimmers - schlendert. Er landet unsanft auf dem Stuhl, welcher unter der Wucht des Aufpralls knattert und ächzt und fängt an zu schmatzen. Wiedermal frage ich mich, ob er das absichtlich macht oder einfach nur seinen Mund nicht zubekommt. Das grenzt doch an Missbrauch des Kaugummis und den Ohren seiner Mitschüler. Wir befinden uns schließlich in einer Uni und nicht auf einer saftig grünen Weide! »Ihr Mädels seit echt unmöglich!«, flüstert Ray. »Dass ihr beide immer so Feige vor Jera flieht und ihm nicht einfach eine klare Abfuhr erteilt! Ich denke nicht, dass er so dumm ist, um …« »Doch! Er ist so dumm! Du hast ja keine Ahnung, wie oft Rilana ihn schon darum gebeten hat, sie ein für alle Mal in Ruhe zu lassen«, unterbricht ihn Helen. »Ich sag´s ja! Sie braucht einfach nur einen Freund, der ihm das etwas fühlbarer eintrichtern könnte«, stellt sie klar und schaut sich im immer voller werdendem Klassenraum um, ohne dabei wirklich jemanden zu sehen. In Gedanken ist sie eindeutig ganz weit weg. »Rilana, wir müssen ernsthaft daran arbeiten und einen passenden Mann für dich suchen!« Diese Idee ist wie ein zündender Funken der ihre Augen von innen entzündet und mich bis ins Mark erschrickt. Ich lasse die Luft hörbar aus meiner Lunge entweichen und stelle mich auf das ein, was jetzt auf jeden Fall folgen wird. Wenn meine beste Freundin mit dem Thema passender Freund für Rilana anfängt, ist es besser, wenn ich in Deckung gehe und mein Gehör abschalte. Was zum Teufel geht in den Köpfen all dieser Freunde vor, die die schwere Bürde des Schicksals an sich reißen und Amor spielen? Ich werde es wohl niemals verstehen. Helens guter Wille war zwar gut gemeint, hat mir aber dennoch nichts Gutes eingebracht. Nun ist es so, dass eine bloße Erwähnung des bösen “D-Worts”, mir den Panikschweiß auf den Rücken treibt. Weil Helen solch “berauschende” Blind Dates arrangierte, dass meine Zehennägel sich immer noch kräuseln. Ein Kandidat war so schamhaft, dass er nur noch gestottert hat (mir hat er am meisten leidgetan). Der Andere hat sich mit Schnaps Mut angetrunken und ich weiß bis heute nicht, ob er wirklich nur ein Feigling war und deswegen so viel Alkohol auf einmal konsumierte oder einfach nur seinen Magen dermaßen überschätzt hat. Ich habe ihn den ganzen Abend nicht gesehen, dafür aber die Laute gehört, die er von sich gab, als er sich seinen gesamten Mageninhalt geräuschvoll nochmals „durch den Kopf gehenließ”. Üble Sache! Ganz üble Sache! Vor allem die Würggeräusche haben sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Nach diesem Date habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und meiner Freundin ganz sanft verklickert, dass ich ein für alle Mal genug davon habe. Ich schwor ihr damals sogar, dass ich ihr niemals wieder zuzuhören würde, wenn sie mit solchen Ideen ankommt. Diesmal muss ich mich aber an ihrem Monolog beteiligen und manchmal sogar nicken, um nicht allzu unbeteiligt zu wirken. Jera könnte ja auf die Idee kommen, sich doch noch „meiner anzunehmen“. Die nächsten fünf Minuten verbringt Helen damit, meinen Traummann in allen Details auszumalen. Wobei ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, dass auch nur ein Mann der a.) aus Fleisch und Blut besteht und b.) wirklich existiert jemals ihrer Beschreibung gerecht werden könnte. Er dürfte nämlich auf keinen Fall etwas gegen Zigeuner haben, er müsste mindestens ein Meter sechsundachtzig groß sein, noch besser wäre ein Meter neunzig, weil ich ja so gerne Absätze trage. Dann dürften in seinem Charakter auf keinen Fall Lücken in folgenden Eigenschaften auftreten: Charme, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Treue und Zärtlichkeit. Und nicht zu vergessen: Er müsste humorvoll und natürlich klug sein. Aber selbst das ist noch nicht das Ende in der Anforderungsliste. Denn es wäre zudem wünschenswert, dass er sich sehr gut mit meinen Freunden - also Ray und Helen - versteht und in meiner unmittelbaren Nähe wohnt. Sein durchtrainierter Körper sollte einen goldenen Teint haben und perfekt zu schwarzen Augen passen. Als ich an diesem Punkt auf ihrer langen Liste ankomme, bleibe ich visuell daran Hängen. Schwarze Augen … »Nicht Schwarz, Haselnussbraun!«, widerspreche ich ihrer Beschreibung ohne die Herrin meiner Worte zu sein. Und beide Augenpaare - sowohl Helens wie auch Rays - starren mich sofort entrüstet an. Oh, oh! Was habe ich bloß angestellt? Jetzt wird Helen denken, dass ich ihre Idee gutheiße. Ob es wohl zu spät ist, um meine Worte wieder zurückzunehmen? Ihrem begeisterten Lächeln zu Urteilen ist es das. Die Büchse der Pandora sei geöffnet!, spottet mein Verstand. Aber was hätte ich auch tun sollen? Helens Vorstellungen riefen mir die Nächte in Erinnerung, als mein wahrer Traummann mich besuchte und heute konnte ich erstmals einen mehr oder weniger deutlichen Blick in seine Augen werfen. Und die hatten nun mal einen weichen, sinnlichen und erdigen Braunton. Zudem kann ich ihrer Beschreibung im Grunde auch nicht gerade widersprechen. Sie beinhaltet all die Kriterien, die auch auf meiner stehen würden. Aber warum sollte ich von weniger Träumen, wenn ich überhaupt damit anfange? »Mit so einer Augenfarbe könnte ich mir meinen zukünftigen Freund wirklich gut vorstellen. Selbst wenn ich dafür auf andere Attribute auf deiner Liste verzichten müsste. Wenn er nämlich die Hälfte deiner Forderungen erfüllt, erlaube ich ihm gemein dir gegenüber zu sein«, grinse ich und zeige ihr die Zunge. Helen ignoriert meinen Witz, nickt zustimmend und widmet sich wieder hochkonzentriert ihren Notizen. Sie streicht aus dem üppigen Steckbrief das Wort Schwarz aus und schreibt stattdessen Haselnussbraun rein. Mehr noch. Sie zeichnet einen fetten Kreis darum, was der großen Blockschrift fast schon etwas Endgültiges verleiht. Es ist witzig und erschreckend zugleich, wie ernst Helen an diese Sache ran geht. Ob ich allerdings deswegen weinen oder lachen sollte, steht noch in den Sternen geschrieben. Keiner kann mir vorwerfen, dass meine Vorsicht diesbezüglich zu übertrieben ist oder das ich eine falsche Auffassungsgabe habe. Helen kann eben sehr stur und ehrgeizig sein, wenn sie sich etwas in ihren überdurchschnittlich klugen Kopf gesetzt hat. Außerdem heiligt bei ihr der Zweck viel zu oft die Mittel. Ich kann die kommende Intrige bereits jetzt riechen, denn sie ist bereits in Planung. Und nicht mal Helens Versprechen, dass sie von richtig bösartigen Sachen die Finger lassen wird, können mich beruhigen. Dazu kenne ich meine Freundin einfach viel zu gut. Ihr Verständnis von Gut und Böse lag schon immer sehr nah beieinander, was schon immer dazu führte, dass diese Grenze sich bei der Anwendung schnell relativierte. Die ersten drei Stunden bis zur Pause vergehen ganz schnell bei Mr. Majore. Er ist ein kleiner, glatzköpfiger und mit Witz beschenkter Lehrer unserer Uni, der immer ein paar tolle Aussagen parat hat und gerade deswegen von seinen Studenten geachtet wird. Im Pausenhof angekommen streife ich meine Tasche ab und werfe sie unter die Holzbank, deren Farbe schon langsam abbröckelt. Ich lasse mich gerade auf die Bank fallen, um die Sonnenstrahlen in mir aufzusagen als Kristin auf uns zukommt und ausgerechnet mir das Sonnenlicht versperrt. Sie ist die selbst ernannte Queen unserer Schule. Eine hochgewachsene Blondine, die wahrscheinlich irgendwann aus irgendeinem Modemagazin herausgeschlüpft ist, um uns Outsidern zu zeigen, wie die Leute von «Heute» auszusehen haben. Ihre Kleidung ist stets todschick, ihre Nägel mit einer perfekten Maniküre verziert und das Lächeln, wie in Hollywood einstudiert. »Hi ihr drei! Na habt ihr das Neuste schon gehört? Mikhail kommt bald wieder zu uns zurück. Ich kann es kaum noch erwarten! The sexiest man of Sochi!«, quiekt sie. Sie legt diesen Worten so eine Entzückung bei, dass man ihre Begeisterung fast für wahre Gefühle halten könnte. Aber eben nur fast. »Kann ich vielleicht mit deiner Mum fahren, wenn sie ihn vom Flughafen abholt?«, fragt sie. Wegen ihrer gespielten Freundlichkeit wird mir jäh speiübel. Ich kann mich aber noch rechtzeitig am Riemen reißen. Ich setze stattdessen mein ebenfalls aus der Not einstudiertes Lächeln auf. »Soweit ich das verstanden habe, will meine Mutter diese Aufgabe auf mich abwälzen. Aber wenn du unbedingt mitwillst, kann ich dich ja mitnehmen«, antworte ich schnell, damit wir um so schneller unsere Ruhe haben. Aber kaum ausgesprochen bringt mich ihr Blick dazu, diese gut gemeinte Geste sofort wieder zu bereuen. Kristins Gesichtsausdruck zeugt davon, dass sie genau darauf gesetzt hat. Über die Jahre unserer Bekanntschaft hat sie sich die Schwächen ihrer Mitmenschen dermaßen eingeprägt, als gehörten sie zu einer mathematischen Formel, die ihr das Leben leichter machen kann. Und nun setzt sie diese Formelsammlung dazu ein, um das zu bekommen, was sie will. Sie wusste, dass ich ihr in meiner unermesslichen Freundlichkeit vorschlagen werde mitzukommen. Ich vermute sogar, dass sie nur deswegen zu uns rüber kam, damit ich ihre Annahme bestätige. »Das ist aber ... nett! Ich werde da sein!«, sagt sie und ihre Freude über diese gelungene List scheint mit einem Mal so materiell zu sein, das ich tatsächlich glaube danach greifen zu können. »Oh! Dann weißt du sicherlich auch, dass Mikhail in Begleitung eines männlichen Topmodels zurückkommt? Einem Freund von ihm, der dasselbe Studium absolviert hat und aus unserer Gegend kommt«, verkündet sie. Nun glänzen ihre eisig blauen Augen noch mehr als vorhin schon. Mir entgeht aber auch nicht, dass sie sichtlich mehr für den Freund meines Bruders schwärmt, als für Mike selbst. »Nein das ist mir neu!«, antworte ich so knapp wie möglich um meinen Ärger diesbezüglich zu kaschieren. Wie auf ein Stichwort meldet sich nun auch Helen zu Wort. »Du kannst ja deinen Chauffeur nehmen und diesen Freund selber abholen, anstatt Mike auf die Nerven zu gehen«, schlägt sie frech vor. Meine Freundin! Wie gern ich sie doch habe!? Ich bin nicht immer imstande jemanden zu beleidigen ganz im Gegensatz zu Helen, die sich niemals ein Blatt vor den Mund nimmt. Sie ist so schlagfertig und vorlaut, wie es mein Mundwerk manchmal sein möchte. Aber solange sie bei mir ist, muss auch ich mir diesbezüglich keine Sorgen machen. Sie wird auch weiterhin all das zum Ausdruck bringen, was mir in den Sinn kommt. »Er heißt Mikhail und nicht Mike. Ihr solltet seinen wunderschönen Namen nicht so verunstalten … Mike! Pah!«, faucht Kristin. Helens Bemerkung ignoriert sie wie immer, straft uns aber dennoch mit einem ihrer berüchtigt kalten Blicken. Für Kristin gab es immer nur zwei Meinungen: erstens ihre – das ist dann auch immer die Richtige - und zweitens die Meinung der Anderen - diese ist immer die Falsche. Ich verdrehe die Augen, weil sie in einer übertrieben gestellten Haltung auf ihrem Absatz kehrt macht und wieder in Richtung Kantine stolziert. Und ich habe heute Zweifel gehabt, ob ich Erwachsen genug bin? Spätestens jetzt steht für mich fest, dass ich im direkten Vergleich zu Kristin als ein regelrecht bodenständiger und zudem überhaupt nicht verzogener Mensch durchgehen könnte. Zeitgleich stellt sich die Frage, ob Kristin ihre Pubertät jemals hinter sich lassen wird? Im Grunde kann es mir aber egal sein, spätestens nach dem Abschluss kann ich jeglichen Kontakt zu ihr abbrechen und meinen eigenen Weg gehen. Vorausgesetzt natürlich, dass mein Bruder sein Desinteresse ihr gegenüber beibehält. »Diesen Freund müssen wir unbedingt näher Inspizieren!«, greift Helen das eigentlich fallengelassene Thema wieder auf. Ich merke schon, dass Kristins vorletzter Satz zumindest bei ihr angekommen ist. »Vielleicht ist gerade dieser Mr.X unser Mr.Right für Rilana Ayr?« Ich verdrehe schon wieder die Augen und schaue hilfesuchend Ray an, der meinen Blick mitfühlend erwidert. »Helen! Wäre es möglich, dass wenigstens du einen kühlen Kopf behältst?«, bittet er. »Warum denn? In ganz Sochi kenne ich keinen Mann, der meiner besten Freundin gerecht werden könnte. Nichts für ungut Ray, aber du zeigst ja auch kein wirkliches Interesse.« »Hey!«, rufe ich mit Ray im unison. »Ich sag´s nur, wie es ist!«, sagt sie und hebt abwehrend die Hände. »In meinen Augen hat Kristins unschöner Auftritt durchaus auch etwas Gutes gehabt. Wir wissen nun das ein Mann, der ein Juracollege absolviert hat und gleichzeitig ein bekanntes Male-Model ist, zu uns kommt. Also wenn das kein Wink des Schicksals ist, dann weiß ich auch nicht!« Helens Blick wird glasig und abwesend, anscheinend ist sie in Gedanken schon ganz weit weg. Wahrscheinlich plant sie schon unsere Hochzeit, was ich ihr ein bisschen übel nehme. So eine massive Einmischung in die Privatsphäre eines anderen sollte verboten werden. Was ich ihr allerdings überhaupt nicht verübeln kann, ist die ansteigende Neugierde auf das Ankommen meines Bruders. Das morgendliche Disaster scheint mit einem Mal vergeben und vergessen zu sein. Vor allem deswegen, weil ich ein paar neue Gründe zum Ärgern gefunden habe: Woher hat Kristin seine Nummer? Seit wann haben sie so einen engen Kontakt? Und warum zum Teufel erzählt er ausgerechnet ihr solche Sachen? Und schlussendlich: Ist den heute schon wieder einer dieser „Mensch Ärger dich Tage“? Diese Fragen beschäftigen mich noch eine ganze Weile und ich beschließe Mike direkt nach dem Unterricht anzurufen, und meinen Wissensdurst bei dieser Gelegenheit zu stillen. Ich meine, wenn ich mich schon dazu bereiterkläre, ihn vom Flughafen abzuholen, sollte ich da nicht auch ein gewisses Mitspracherecht haben, wen ich herumkutschieren muss? Mein Vorhaben gleich nach Unterrichtsschluss umzusetzen stellt sich als ein Wunschdenken heraus und zieht sich so weit in die Länge, dass ich erst zum Abend eine freie Minute finde, in der ich mich diesem Telefonat widmen kann. Nun empfinde ich sogar eine gewisse Erleichterung, weil ich weiß, dass ich Mike nicht alleine abholen muss. Auf diese Weise würde es etwas dauern, bis unsere Streitlust entfacht. Und selbst die Gefahr, dass wir uns gleich in den ersten paar Minuten in die Haare bekommen, scheint nun ebenfalls gebannt zu sein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir vor den Augen unserer Freunde streiten. Wenn ich also an ein friedliches Zusammentreffen denke, freue ich mich beinahe schon darauf Mike wiederzusehen. Ich hatte ja noch nie etwas persönlich gegen ihn, sondern nur etwas gegen unseren Hang einander an die Gurgel zu springen. Vollends darauf eingestellt ein „gutes“ Gespräch zu führen lege ich mich bäuchlings auf mein Bett und schiebe mir mein Lieblingskissen unter die Brust. Die womöglich beste Haltung für eine Unterhaltung dieser Art. Dann wähle ich Mikes Nummer, und noch bevor ich mein Handy zum Ohr führen kann, höre ich das auf der anderen Seite der Leitung abgehoben wurde. »Ja Rilana!?«, fragt Mike mit seiner samtweichen Stimme. Woher weiß er ...? Ach ja ich habe ihn ja schon einmal angerufen, deswegen ist er bereits im Besitz meiner Nummer und weiß auch, wer dran ist. Ich frage mich kurz, ob das gut ist, dass er meine Nummer hat, rufe mich dann aber zur Ordnung, weil er schon bald zurückkommt und sicherlich noch eine Weile bei uns wohnt. Diese Heimlichtuerei wäre also unnötig. »Hi, Mike! Ich hab heute von Kristin erfahren, dass du nicht alleine kommst. Es ist zwar für mich ein Rätsel, wozu du sie überhaupt anrufst, aber es ist ja im Endeffekt allein deine Sache. Ich möchte bloß wissen, ob ich noch jemanden mitnehmen kann«, sprudelt es wie bei einem Wasserfall aus mir heraus. Also die Wirkung seiner Stimme auf mich ist wirklich nicht zu verachten. Mike antwortet nicht sofort. Zuerst scheint er irgendetwas abzuwägen. »Erstens: Ja, ich komme zusammen mit meinem Studienkollegen Stevo. Er wohnt zwar in Khosta, muss aber mit zu uns, weil wir einen gemeinsamen Geschäftsplan haben. Zweitens: Nein ich habe Kristin noch nie angerufen. Es verhält sich eher so, dass sie sich kontinuierlich meine neue Nummer besorgt und dann Telefonterror bei mir macht. Drittens: Ich wollte dich eigentlich darum bitten Helen mitzunehmen, weil ich mir sehr gut vorstellen kann, dass Stevo und sie sich gut verstehen werden«, erklärt er punktartig. Hat Mike sich neuerdings die Denkweise von Juristen angeeignet? Anscheinend schon. Diesmal bin ich diejenige, die eine Sekunde braucht, um sich das durch den Kopf gehenzulassen. Fakt ist, dass Mike nicht nur genaustens darüber informiert ist, mit wem ich befreundet bin, er hat sich außerdem ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wie er seine Rückkehr gestalten kann. Beides sind Eigenschaften, die ich erstmals an ihm bemerke. Allerdings ist da auch noch etwas anderes. Irgendwas Vertrautes und Prickelndes, was auch ohne Mikes Anwesenheit seine Präsenz spürbar macht. Diese unbestimmte Anziehung, die er noch als Teenager auf mich ausgeübt hat. Ein kränkender Gedanke durchquert meinen Verstand. »Dann fehlt mir ja nur noch das Schild „Liebestaxi“ auf dem Dach, damit mein Dienstwagen komplett ist!? Für dich nehme ich Kristin mit, für deinen Freund nehme ich Helen mit und ich soll euch dann auch noch schön spazieren fahren?« Mein Bedauern ist unüberhörbar, obwohl ich es am liebsten unterdrückt hätte. »Ach was! Wirf Kristin einfach aus deiner Vorstellung und am besten auch gleich aus dem Auto! Dann wirst du nicht zum Liebestaxi, sondern zu meiner Kuppelgefährtin«, schlägt er lachend vor. Seine Vorstellung manifestiert sich augenblicklich zu einem amüsanten Bild vor meinem inneren Auge und bringt auch mich zum Lachen. »Weißt du was? Dieser Gedanke ist um länger besser. So wird endlich mal der Jäger zum gejagten«, gestehe ich nachdenklich. »Wie meinst du das?«, fragt er und beantwortet sogleich seine Frage selber. »Ach so! Helen wollte dich mit meinem Freund verkuppeln und du lässt sie nun in die eigene Falle reinlaufen?« »So ist es!« »Da sieht man mal wie raffiniert man einen Spieß umdrehen kann! C`est la vie. Oder wie sagt man noch so schön? Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen.« Wir brechen beide in ein schallendes Gelächter aus, was mir schon beinahe unwirklich vorkommt. Noch nie hatten wir eine so lange Konversation, ohne dass zwischen uns beiden die Fetzen flogen. »Also wann sollen wir euch abholen?«, frage ich wieder ernster und wische mir eine winzige Lachträne aus dem Augenwinkel. »Samstag um zehn Uhr in Bamboura.« »Soll ich euch was zum Essen mitnehmen?« »Nein, lass gut sein, wir werden euch zum Dank fürs Abholen irgendwohin ausführen«, erklärt Mike. Sein neuer Umgang mit mir scheint so ... anders zu sein. Irgendwie neu und unwirklich. Als ob er in den letzten drei Jahren ganz bewusst an seinem Charakter gearbeitet hätte. »Na gut, dann bis Samstag und falls ich Kristin nicht abschütteln kann, weißt du zumindest, worauf du dich einstellen musst.« »Oh ja. Danke für die Warnung! Aber lass ja nichts unversucht«, bittet er mich nahezu verzweifelt. »Ach verdammt … Ich weiß doch selber, dass unsere Kirstin ein lästiger Blutegel ist. Wenn die sich erst mal festgesaugt hat, hilft nicht einmal eine rasiermesserscharfe Klinge, um sie los zu werden.« »Genau! Nicht mal die!«, stimme ich lachend zu. Was für eine treffende Metapher!, fügt mein Verstand dem Gesagten bei. Eine kurze Schweigepause entsteht und bei den nachfolgenden Worten höre ich den puren Ernst in Mikes Stimme. »Machs gut Rilana. Und tu mir bitte den Gefallen … pass auf dich auf!« »Du auch. Bye.« Ich lege auf und fühle mich auf einmal richtig merkwürdig. Kann es sein, das wir ganz leicht auf einen Nenner kommen können? Ist es vielleicht sogar so, dass das auch früher ging, wir uns aber wirklich einfach nur kindisch verhalten haben? Ich drehe mich auf den Rücken und lege das Handy auf meinem Bauch ab, wo unter der Haut Schmetterlinge umherflattern. Bei der Vorstellung, dass es auch anders geht, bildet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht. Ein sehr warmes Gefühl schleicht sich in mein Herz und stimmt mich so fröhlich, dass ich vom Bett hüpfe und etwas mache, was ich schon lange nicht mehr getan habe. Ich gehe raus auf den Balkon und betrachte an diesem Abend so lange den wolkenlosen Himmel über mir, bis einer der hellsten Sterne am Firmament erschien und mit dem gleichen Leuchten seine Umgebung erhellte wie meine aufkeimende Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass auch ich schon bald eine halbwegs normale Familie haben werde. Eine teilweise Komplette, wenn ein Mann dabei ist. Weil ich ganz gespannt auf das Zusammentreffen mit Mike und Stevo bin, vergeht für mich die Woche wie im Flug. Leider kann ich Kristin auch mit den ausgefallensten Ausreden nicht davon abbringen, mitzukommen. Deswegen sitzen wir schließlich seit dem frühen Morgen in meinem rotem BMW-Mini und fahren mit dem geöffneten Verdeck zum rund neunzig Kilometer entfernten Fughafen von Bamboura. Wir haben Mitte August und dementsprechend herrscht Hochsaison für Urlauber, was uns Stau, Stress und Wartezeiten einbringt. Tausende Touristen strömen zum Meer und sorgen dafür, dass der Verkehr in regelmäßigen Abständen stockt. Das ist vermutlich auch der Grund, warum die Jungs kein Ticket direkt nach Sochi gebucht haben. Mit dem Auto bis nach Bamboura zu fahren ist dreifach billiger als ein Ticket bis nach Sochi zu nehmen und zudem vermeiden sie dadurch den Überflug in einer überfüllten Maschine. Die ganze Hinfahrt über schweigen wir uns aus, bewundern die vorbeirauschende Landschaft und genießen den lauen Fahrtwind, welcher sich in unseren Haaren verheddert. Obwohl jede von uns tief in ihren eigenen Gedanken versunken ist, ist keine von uns gewillt ihre preiszugeben. Ich bin davon überzeugt, dass sowohl Helen wie auch Kristin beide total gespannt auf Stevo sind. Jede von ihnen hat eigene Pläne mit ihm und nur ich fahre zu diesem Flughafen ausschließlich wegen Mike. Stevo interessiert mich nicht im Geringsten. Naja eigentlich ist er jetzt sogar Tabu für mich. Als wir schließlich am Parkplatz vor dem Flughafen ankommen, steige ich erleichtert aus und strecke mich ganz ausgiebig. Ich hab ganz steife Beine vom langen Sitzen und unsere Entscheidung auf die Pausen zu verzichten, lässt mich nun jeden Knochen im Leib spüren. »Noch gut zwanzig Minuten, bis das Flugzeug landet!«, verkünde ich nach einem schnellen Blick auf meine Armbanduhr. »Leider trotzdem nicht genug Zeit, um sich frisch zu machen!«, sagt Kristin und zupft total entnervt an ihrem kurzen Jeansrock. Er hat jedoch solche Knitterfalten bekommen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da ein einfaches Handanlegen irgendwas bewirken könnte. »Du hättest ebenfalls eine Caprihose anziehen sollen!«, sage ich. Sie zupft weiterhin total entnervt an ihrer Kleidung, bedenkt mich aber dennoch mit einem giftigen Blick. »Nicht jeder kann deinen enge-Jeans-und-super-edle-Korsage-Top-Look tragen … und dabei auch noch eine gute Figur machen!«, feixt sie. Ich schüttle nur mit dem Kopf und schaue hilflos Helen an, die gerade ihre Prada-Sonnenbrille am Polyesterstoff ihres Tops säubert. Sie bleibt unbeirrt lässig, weil solche Sachen wie die äußere Erscheinung in ihren Augen von der Gesellschaft deutlich überbewertet wird. Die paar überschüssigen Pfunde auf ihren Rippen bezeichnet sie als Energiepolster und das Top aus dem Secondhandshop als eine gute Investition in unsere Zukunft, weil es dadurch quasi “recycelt” wird. »Das kannst du laut sagen!«, erklingt eine schöne Männerstimme hinter mir. Weder mein Verstand noch mein Körper schaffen es rechtzeitig zu reagieren, ehe ich hochgehoben und in der Luft herumgewirbelt werde. »In so etwas Hübsches hat sich also diese nervige Göre von vor drei Jahren verwandelt?«, fragt jemand und ich erkenne auf der Stelle diesen vertrauten Bariton. Ich drehe mich um und schaue verdutzt in das schöne und sonnengebräunte Gesicht von einem jungen Mann, der mir extrem bekannt vorkommt. Woher eigentlich? Ich habe ihn doch kein einziges Mal seit seinem Aufbruch nach Odessa gesehen. Mein Hals wird staubtrocken und ein unerklärlicher Schauder ergreift mich. Aber ich schaffe es, dies zu ignorieren. Ich argumentiere diese Empfindung mit einer absolut plausiblen Erklärung: mein Verstand hat dem Jungen, welchen ich zuletzt vor drei Jahren gesehen habe ein erwachsenes Äußeres verleihen und ihn deswegen jetzt als bekannt abgestempelt. Punkt. Aber eigentlich muss ich zugeben, dass ich Mike niemals wiedererkannt hätte. Aus dem Bengel wurde buchstäblich ein schöner, großer Engel. Von dem kleinen viel zu mageren und immer traurig wirkenden Jungen kann ich jetzt rein gar nichts mehr ausmachen. Meiner Schätzung nach ist er mittlerweile gut einen Meter achtundachtzig groß. Seine früher immer zu strobeligen Haare liegen nun gut frisiert in einem schrägen Pony, während die Seiten kürzer gehalten sind. Mikes ganzer Style ist eine Mischung aus sensiblem Charme und einem rebellischen Charakter. Seine wallnussdunkle Haare liegen in so schönen Wellen beieinander, dass ich für ein paar Augenblicke vom Rest abgelenkt bin. Sobald ich mich aber der Erkundung seines eher androgynen Gesichtes widme, welches im Übrigen nur wenige aber gleichzeitig sehr wichtige Merkmale eines typischen Mannes aufweisen, möchte ich ihn am liebsten berühren. Vor allem sein starkes Kinn mit einem kleinen aber nicht zu tiefen Grübchen hat es mir angetan. Mikes gesamte Schönheit hat so eine harmonische Mischung aus schwach ausgeprägten sekundären, männlichen Zügen und den typisch männlichen, das mir der Atem stockt. Diese eigensinnigen Gesichtszüge stehen allerdings ganz im Gegenteil zu dem Körper, der von einem strammen Fitnessplan zeugt. Mike ist der stolze Besitzer von kräftigen, durchtrainierten Oberarmen und eines flachen Bauchs, an dem sich schöne Muskeln abzeichnen. Und sein erstaunlich breiter Rücken mündet - wie es sein sollte - in einer engen Hüfte. Zumindest ist das die Beobachtung, die ich machen kann und die sein halboffener Hemdkragen zulässt. Man sieht ihm durchaus an, dass er ein erfolgreicher und wahnsinnig hinreißender Mann ist. Kristins wildes Kreischen bringt mich zurück in die Wirklichkeit und bricht den Bann unserer gegenseitigen Betrachtung. Sie drängt mich förmlich aus seiner Umarmung und wirft sich ihm anschließend selbst in die Arme. Wieder steigt Übelkeit in mir auf. Diese Nummer ist einfach nur billig! Und dennoch trete ich verlegen einen Schritt zurück und stoße erneut auf warme Hände die mich davon abhalten noch weiter nach hinten zu gehen. Ich drehe mich erschrocken um, und sehe in wunderschöne Bernsteinaugen eines sehr männlichen und markanten Typs. Sein Militärlook ist einfach atemberaubend und mir wird sofort bewusst, dass ich Stevo vor mir habe. Wenn ich mich jemals der Träumerei über ein männliches Supermodel hingegeben hätte, wäre er hundert prozentig genau so meiner Vorstellung entsprungen. Super Körper, tolles Lächeln und ein individuell abgewandelter George Clooney Style. Ich merkte, wie die Hitze vulkanausbruchähnlich in meine Wangen schießt, strecke ihm aber dennoch mit absoluter Selbstsicherheit meine Hand hin. »Hi, ich bin Rilana«, stelle ich mich vor. »Stevo, sehr erfreut!« Er greift nach meiner Hand und sein Händedruck, der sehr stark und männlich aber auch gleichzeitig sehr einfühlsam ist, schickt eine angenehme elektrostatische Ladung durch meinen Körper. Wie hypnotisiert starre ich in seine Augen, besinne mich aber schließlich und löse meine Hand aus seiner. Ich zeige räuspernd auf Helen, die immer noch total unbekümmert auf dem Beifahrersitz sitzt und anscheinend versucht, so unsichtbar wie möglich zu bleiben. »Das ist übrigens Helen!«, erkläre ich. »Und dieses Blondchen was den Hals meines Bruders überstrapaziert ist Kristin«, füge ich flüsternd hinzu. Stevo geht ganz gentlemanlike auf Helen zu und reicht ihr höfflich die Hand. Meine Freundin schaut total fasziniert zu ihm auf und verhält sich blitzartig so, wie ich es noch nie vorher gesehen habe. Sie springt auf, stockt ähnlich wie ich und bohrt verlegen mit dem Fuß im Kies. Anscheinend wird Mikes Plan sehr gut aufgehen und ich werde schon bald eine total verliebte beste Freundin an meiner Seite haben. Mikes Stimme reißt mich meinen Gedanken, als sie direkt hinter mir ertönt. »Mädels es ist echt toll euch wiederzusehen, aber wir haben einen Bärenhunger. Unser heutiger Eiweißbedarf ist noch lange nicht gedeckt, da unser Flugzeug für diese kurze Strecke keinerlei Verpflegung eingeplant hat. Und unmittelbar, nachdem wir von Bord gingen, wollten wir eigentlich eine Imbissbude suchen haben aber euch hier entdeckt. Zugegeben, ich erkannte lediglich Kristin, weil sie immer noch genauso aussieht wie damals ...« erklärt Mike und bedenkt sie mit einem merkwürdig gleichgültigen Blick »... aber ich wusste, dass ihr da seid, wo sie ist. Wir wollten euch dann auch nicht mehr länger warten lassen«, erzählt er und schenkt mir sein wärmstes Lächeln, welches eine dermaßen ansteckende Wirkung hat, dass ich ihm dieses unwillkürlich erwidere. Diese Situation kommt mir irgendwie so bekannt vor ... fast so, als ob ich dasselbe schon einmal erleben durfte. »Ja dann sollten wir wohl schleunigst einen Ort suchen, wo euer Bedarf nach Kohlenhydraten gedeckt wird!«, sage ich und schaue alle nacheinander an. »Hat jemand einen besonderen Wunsch?« »Ja ich«, meldet sich Kristin. War das jetzt nur für mich so absehbar, dass gerade sie ihren Senf dazugeben wird? »Ich möchte vorschlagen, dass wir uns jetzt nur einen Snack besorgen und anschließend nach Sochi zu den Fünf Kerzen fahren.« »Och ja! Dort feiern wir dann euren Abschluss!«, stimmt Helen Kristins doch nicht so dummen Vorschlag zu. »Aber dann wäre es viel besser, wenn wir uns dort einen Tisch reservieren lassen. Ihr wisst doch das dort am Freitag die Hölle los ist«, erinnert sie uns, greift in ihre Handtasche und zückt ihr Handy. Während sie die Nummer unseres Stammrestaurants wählt, weiß ich nicht so recht, wo ich hinschauen soll. Überall ist Mikes Präsenz, die ich überdeutlich spüre und irgendwas an ihm bringt meinen Kreislauf durcheinander. Oder ist es doch nur mein Herzschlag? »Vielleicht fahren wir dann erst nach Hause!?«, schlage ich hastig vor und treffe gleich auf Mikes fragenden Blick. »Ihr könnt dann ohne mich weiter. Ich fühle mich ansonsten wie das fünfte Rad am Wagen.« »Kommt gar nicht infrage!«, sagen Stevo, Helen und Mike gleichzeitig. »Ich hab dich sehr vermisst, Rilana. Du bleibst gefälligst da«, fügt Mike hinzu. Ausgerechnet er hat Einwände dagegen? Also das geht mir jetzt irgendwie unter die Haut. So eine Reaktion hätte ich nicht erwartet. Schon gar nicht von ihm. Was ihm wohl in der Zeit seiner Abwesenheit widerfahren ist? Ich schließe mittlerweile nichts mehr aus. Selbst die absurde Theorie der Alienentführung mit anschließender Gehirnwäsche: Programm gute-Manieren-Spezial scheint angesichts seiner Wandlung nahezu realistisch zu sein.

Kapitel 2, Versöhnung

Im schönsten Lokal unserer Stadt trifft altertümliches Schlossambiente auf häuslich gemütliche Atmosphäre. Wir entspannen uns bei einer Flasche Wein, wobei ich als Fahrer meinen Trinkgenuss auf Blutorangen-ACE beschränke. Stevo und Mike sitzen neben mir. Helen und Kristin auf der gegenüberliegenden Tischseite. Und ich kann es förmlich riechen, wie neidisch Kristin auf meine Sitzposition ist. Mich überkommt eine Woge der Genugtuung, da ich im Gegensatz zu ihr auch in der nächsten Zeit Mikes und Stevos Anwesenheit beanspruchen darf. In dem Interieur des Restaurants kann man noch heute das antike Wintertheater ausmachen, in welchem es erbaut wurde. Es ist außergewöhnlich romantisch und märchenhaft. Die wunderschönen und überhaupt nicht aufdringlichen Töne der Wände und der Dekoration lockern unsere Stimmung und ich fühle mich augenblicklich wie eine adelige. Mike und Stevo bestellen für uns ein 4-Gang-Dinner und als die Vorspeise serviert wird, stürze ich mich regelrecht auf die Gemüse-Cremesuppe, die förmlich auf der Zunge zerfließt und eine sanfte Würze im Mund hinterlässt. Die Tatsache, dass ich zwischen zwei starken Männern sitzen darf, vervollständigt mein Vergnügen insoweit, dass ich innerlich jauchze. Im Laufe des Abends stellt heraus, dass unsere männliche Begleitung nicht nur mit Aussehen, Bildung und Charme beschenkt ist, sondern auch noch mit Humor. Sie erzählen uns Insiderwitze von Jurastudenten und selbst ihre peinliche Erlebnisse aus der Collegezeit werden kurzerhand zu amüsanten Geschichten umfunktioniert. »Alle Mädels, von klein bis groß, liefen Mike hinterher!«, berichtet Stevo lachend. »Sie tänzelten von Kopf bis Fuß aufgetakelt vor ihm herum und jede wünschte sich seine Beachtung …« »Du übertreibst! Sie machten sich genauso auch an dich ran«, wendet Mike schnell ein. »Ach was!? Sie waren verrückt nach dir … Naja, zumindest bis zu dem Tag, als du “rein zufällig” deine Geldbörse liegengelassen hast und ihre Neugierde sie dazu brachte, diese zu inspizieren. Beim Stöbern entdeckten sie das Bild von “der Frau aller Frauen”!«, Stevo zeichnet beide Male unsichtbare Anführungsstriche in die Luft. »Wie hast du es ihnen danach erklärt? Ach ja! Du hast dich auf die Schulbank hingesetzt und ganz verträumt zur Decke geschaut, ehe du ihnen eröffnet hast, dass auf dem Foto deine bildhübsche Freundin abgebildet ist. Und du würdest es deswegen immer bei dir tragen, weil sie dir so sehr fehlt!«, erzählt Stevo heiter weiter. Drei fragende und verdutzte Blicke bohren sich in Mike, der grinsend seinen Suppenteller hin und her dreht. Hat er tatsächlich eine Freundin, von der wir (noch) nichts wissen? Denkbar wäre es natürlich. Meiner Meinung nach ist er sogar sympathisch genug, um eine Horde davon zu haben. Während ich noch angestrengt darüber grüble, macht Kristin etwas, wozu kein normaldenkender Mensch imstande wäre. Sie springt auf, läuft um den Tisch herum und greift in Mikes Rucksack, der leicht geöffnet über der Stuhllehne hängt. Dreist - wie sie ist - holt sie sein Portemonnaie heraus und öffnet es. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dir ein Bild von mir geschickt habe!«, murmelt sie sich nachdenklich vor die Nase und starrt in den Geldbeutel. Obwohl es von Unhöflichkeit zeugt, wandern auch meine neugierigen Augen zu dem Gesicht im Innenfach. Was ich allerdings zu sehen bekomme, verschlägt mir die Sprache. Es ist ein Bild von mir! Um genauer zu sein, ist es eins, dass an meinem achtzehnten Geburtstag geschossen wurde. Im knappen roten Minikleid und mit einer losen Hochsteckfrisur lächelte ich damals in die Kamera. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass Helen dieses Foto gemacht hat, weil seit diesem neunzehnten März gerade mal ein halbes Jahr vergangen ist. Am verrücktesten ist aber nicht der Umstand, dass Mike mich in Odessa für seine Freundin ausgegeben hat, sondern die Tatsache, dass er im Besitz dieser Ablichtung ist. »Oh ja!«, stimmt Mike Stevo zu. »Die haben vielleicht Augen gemacht.« Er fängt an zu lachen und seine Augen verraten, dass auch er gerade in die Vergangenheit zurückversetzt wurde und nun das Bild von den erstaunten Mädchen im Kopf hat. Meine Verwirrung scheint niemandem aufzufallen, weil Stevo unbeirrt mit seiner Erzählung fortfährt. »Am nächsten Morgen erschienen drei der Blondinen mit rot gefärbten Haaren. Wahrscheinlich erhofften sie sich davon, bessere Chancen und ein bisschen mehr Aufmerksamkeit von dir zu bekommen«, vermutet Stevo. »Blöd nur, dass gerade diese Farbe so gar nicht zu ihnen passte. Ich würde sogar sagen, dass es bei der einen oder anderen gruselig ausgesehen hat!« »Ich trage das Bild schon von dem Tag an bei mir, seit Helen es mir geschickt hat. Aber dass es mir einst so einen Dienst erweisen würde, hätte selbst ich niemals gedacht«, erklärt Mike. Mein böser Blick schweift sofort zu Helen, die unschuldig wegschaut. Was für ein Biest!? Na warte! Wenn Blicke töten könnten, wäre Helen auf der Stelle hundert Tode gestorben. »Bis zu unserem Abschluss konntest du die Mädels damit ärgern und Kristins ständige Anrufe verliehen dem Schauspiel den nötigen Schuss Realität«, schließt Stevo ab und bringt damit alle zum Lachen. Sogar Kristin beteiligt sich daran. Ich bin wiedermal die Einzige, die sich aus der Masse heraushebt. Das eben gehörte ist schockierend und beirrend zugleich und alles, wozu ich imstande bin, ist ein krankhaftes Kichern. Meine Hände fangen an zu zittern also verstecke ich sie unter dem Tisch. Mein Interesse am Essen ist somit verflogen. Die Gedanken kreisen wie ein wirrer Knoten in meinem Kopf herum, und erst als der Kellner das Dessert serviert, kehre ich zur Realität zurück. Während ich nachdenklich meinen Löffel in das Dessert tauche, sehe ich wie Mike sich etwas weiter nach vorne bückt, um Helen was Persönliches mitzuteilen. Er schaut ihr eindringlich ins Gesicht während eines leisen Wortwechsels, und als sie ihren Blick hebt und in seine Augen sieht erstarrt sie mit einem leicht geöffneten Mund. Mein Blick schweift zwischen ihren Gesichtern, ich entdecke aber rein gar nichts, was ihre Steifheit erklären kann. Erst als Mike mit einer leichten Bewegung des Kopfes eine lose Haarsträhne beiseite wirft, löst sich ihre Starre und ich bekomme prompt einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. Es kam aus Helens Richtung, und obwohl ich vor Schmerz zusammenzucke und mich auch noch beinahe am Himbeersorbet verschlucke, tue ich so, als ob es mich nicht interessieren würde. Diese fiese kleine Verräterin! Ich fühle mich so hintergangen, dass ich kurzerhand beschließe, sie so lange zu ignorieren, bis ich weiß, wie ich mit ihr umgehen soll. Ich versenke meinen Löffel ein weiteres Mal in der kühlen Süßspeise und nimm ihn gerade in den Mund, als ich aus dem Augenwinkel bemerke, dass Helen mit dem Kopf in Mikes Richtung deutet. Ich folge ihrer stummen Bitte und bekomme zum ersten Mal, an diesem Tag, einen tieferen Einblick in Mikes Gesicht. Der flackernde Kerzenschein gewährt mir einen noch besseren Blick in seine Augen, deren Aufmerksamkeit sofort mir gehört. Es ist beinahe so, als ob ich ihn im Geiste gerufen hätte. Hunderte kleiner Eisschauer jagen über meinen Rücken beim Anblick seiner Iris. Es ist eindeutig ein Déjà-vu. Mir wird schlagartig bewusst, an wen mich Mike am Flughafen erinnert hat und wessen Augen mich auch nun unverwandt ansehen. Es ist SEIN Gesicht, SEIN Körper und auch SEINE Augen. Entweder ich spinne oder ich spinne, aber vor mir sitzt mein Traummann. Michael!!! Viel zu rasch ziehe ich die Luft ein, und ehe ich mich versehen kann, wandert auch das Sorbet in meine Atemwege. Ich verschlucke mich daran, und während in meinem Hals ein Feuer lodert, kann ich weiterhin nur an das Eine denken: meine Verrücktheit! Weiterhin hustend greife ich hilfesuchend nach Helens Hand, ziehe sie hoch und mir hinterher. Wir steuern geradewegs die Toiletten an während uns all die anderen mit ihren Augen begleiten. Mir ist klar, dass mein Benehmen äußerst verwirrend sein muss, aber ich will meinen dampfenden Kopf nicht auch noch mit den Gedanken an deren Schlussfolgerungen belasten. Sollen sie doch denken, was sie wollen. »Was zum Teufel …?«, fragt Helen, als ich die Tür hinter uns zuschlage und sie gegen die Wand dränge. »Hast du seine Augen gesehen? Hast du mir das zeigen wollen?«, flüstere ich atemlos. »Genau das. Sie sind braun! Haselnussbraun, um ganz genau zu sein. Findest du das nicht merkwürdig? Er ist groß, schlank, hübsch, nett, gebildet und ein Zigeuner … Mike ist der perfekte Mann für dich!«, schreit sie begeistert. Während Helen vor lauter Freude scheinbar ihren Verstand verliert, drehen sich meine eigenen Gedanken nur noch darum, dass sie ja nicht mal ahnen kann, warum ich gerade diese Augenfarbe auf ihrer Steckliste sehen wollte. Ich hab sie mir nur aus einem Grund ausgesucht … und dieser fleischgewordene Grund sitzt dort ... in diesem Restaurant. Der Wunsch mich zu öffnen und zumindest meiner Freundin alles zu erzählen, zerrt an mir, aber auch die Grundwahrheit bekommt eine viel deutlichere Kontur. Und diese Wahrheit ist so viel wichtiger, als die albernen Träume welche mich mein Leben lang heimsuchen. »Helen, er ist mein Cousin. Mike ist nahezu mein Bruder!«, wispere ich. »Na und? Wenn man es genau nimmt ...«, fängt sie an und ich unterbreche sie, bevor sie den Satz beenden kann. »Warum hast du ihm mein Bild geschickt, Helen?«, frage ich und presse meine Zähne aufeinander. Ich darf ja nicht zu viel verraten. »Er hat mich darum gebeten, dass ich ihm jedes Jahr ein Bild von dir verschicke!«, antwortet sie leicht verunsichert. Ich starre in ihr Gesicht und weiß nicht was ich noch denken oder sagen soll. »Du hast die ganze Zeit Kontakt mit ihm gehabt und mir nichts davon gesagt?«, frage ich empört. »Und was das andere anbetrifft ... will ich nur wissen, ob du noch ganz bei Trost bist. Du hast mich …«, leider kann ich den Satz nicht beenden, denn die Tür öffnet sich und eine heitere, stark angetrunkene Kristin stürmt herein. »Geht es dir gut? Mika und Stevo machen sich Sorgen!« Sie hält sich am Waschtisch fest, um nicht umzufallen, schenkt sich aber trotzdem einen total verliebten Blick. »Natürlich. Ich hab mich nur verschluckt«, antworte ich wohl wissend, dass es sie gar nicht wirklich interessiert. »Also die Jungs sind ja echt zwei sündige Leckerbissen!«, teilt Kristin das Offensichtliche mit und ignoriert mal wieder meine Worte. Deutlich weggetreten, blickt sie in die glatte Oberfläche des Spiegels, kontrolliert mit eingeübten Bewegungen den Sitz ihrer Frisur und selbst der verknitterte Rock bekommt eine weitere skeptische Begutachtung. Eben alles andere, außer dem du-störst-gewaltig-Blick, den wir ihr zuwerfen. »Ich kann mich nicht einmal wirklich entscheiden, wer von denen mir gehören wird …« Innerlich bringt mich ihre Einfältigkeit und Narzissmus zum Kochen und ich entscheide mich lieber sofort zu gehen, ehe ich etwas sage, was ich später bereue. Wenn ich in meinem jetzigen Zustand an die Geduldsgrenze komme, kann ich für die Sicherheit dieser betrunkenen Schnepfe nicht mehr garantieren. Mensch was ist den heute mit dir los? Normalerweise bist du doch wesentlich Geduldiger mit einfältigen Persönlichkeiten … Obwohl ich die Sache mit Helen auch noch nicht für geklärt halte, hacke ich mich trotzdem bei ihr unter und schlage ihr im Flüsterton vor, wieder zurückzugehen. Helen nickt und verlässt mit mir zusammen das Foyer. Beim Betreten des großen Raums treffen meide ich ein Zusammentreffen mit Mikes brennenden Augen und schaue mehr oder weniger an ihm vorbei. Diesmal fühle ich mich gar nicht mehr wohl, zwischen den beiden Jungs Platz zu nehmen, finde aber keine passende Ausrede, um diesen zu wechseln und rutsche deswegen nervös auf dem Stuhl. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mike mit einer leicht belegten Stimme. »Du hast dich ja anscheinend fürchterlich verschluckt!« »Ja, ja natürlich!«, antworte ich knapp. »Sollen wir vielleicht fahren? Wie ich sehe, haben schon alle zu Ende gegessen!« »Klar! Warten wir nur noch auf unseren betrunkenen Blutegel!«, sagt Mike und ich lache innerlich über seine Bemerkung. Während wir auf Kristin warten, spüre ich andauernd Mikes verstohlene Blicke auf mir. Was würde ich darum geben, um zu erfahren, was gerade in seinem Kopf vorgeht. Da ich aber eingestehen muss, dass sich mein Bruder sehr verändert hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als seine Unvorhersehbarkeit zu akzeptieren. Kristin schwankt so sehr bei ihrer Rückkehr, dass ich ihr zur Hilfe eilen muss und sie bis zum Auto stütze. Sobald auch die Jungs draußen sind, quetschen wir uns in meinen Mini. Erst da wird mir deutlich, dass das Auto eindeutig zu klein für so große Männer ist. Oder aber die Männer sind zu groß für meinen kleinen Flitzer. Je nachdem wie man das sehen mag. Wie sich wohl Stevo dort hinten angepasst hat?, frage ich mich, schaue aber nicht nach hinten. Ich kann mir auch so denken, dass er sich bestimmt wie eine Quetschwurst fühlt! Aber wenn er Helens Nähe sucht, um sich von Kristin wegzulehnen, kann diese Enge doch bestimmt auch vorteilhaft sein. Oder? Draußen ist es schon dunkel, woraus ich schließe, dass wir wohl mehr als vier Stunden im Restaurant verbracht haben. Aber bekanntlich läuft die Zeit an Orten, die man gerne hat, immer viel zu schnell. Mit den Gedanken bei den belanglosesten Sachen, die mir jemals in den Sinn kamen, steuere ich zuerst Kristins Haus an, obwohl wir auf diese Weise einen kleinen Umweg machen. Sie schlief gleich nach dem Einsteigen ein und liegt nun schnarchend und mit offenem Mund da. Die Krönung dieses Abends und sogar eine kleine Entschädigung für mich. Dort angekommen helfen wir der Haushälterin dabei, Kristin aus dem Auto zu hieven und zur Haustür zu bringen. Als die Tür hinter den beiden ins Schloss fällt, nutze ich diesen ungestörten Augenblick. »Helen, wie konntest du mich nur so hintergehen?«, frage ich sie schon weitaus freundlicher, als vorhin. »Rilana! Jetzt mach doch bitte aus der Mücke keinen Elefanten. Wenn du in Mike nichts mehr als nur einen Bruder siehst, sollte es dich doch sowieso nicht stören was ich denke oder sage!«, erklärt sie reumütig und ich bedenke, dass ihr Argument durchaus sinnvoll ist. »Trotzdem finde ich, dass du es nicht vor mir verheimlichen durftest«, schimpfe ich, wobei ich ihr endgültig verzeihe. »Findest du ihn etwa nicht absolut hinreißend?«, fragt sie so überraschend und direkt, dass ich keine spontane Antwort darauf geben kann. Ich bleibe einfach stehen und blicke zuerst auf das Auto, dann wieder in die intriganten Augen meiner Freundin. »Wie gesagt … er ist lediglich … nur mein … Bruder!«, stottere ich und gehe die letzten Schritte etwas schneller als Helen. Ich will nicht wissen, was sie mir sonst noch sagen kann oder noch schlimmer, was sie mich sonst noch fragen kann. Das war überhaupt eine blöde Idee, sie ausgerechnet jetzt darauf anzusprechen. Im Auto erwarten uns bereits Mike und Stevo. Unser kurzes Gespräch scheint auch ihnen nicht entgangen zu sein, da sie aber nichts fragen, sehe auch ich keinen Grund um mich diesbezüglich zu äußern. Stattdessen lasse ich den unbegründeten Frust auf meinem Gaspedal aus und verlasse binnen einer Minute die vom Nachtleben hell erleuchtete Straße des Elitestadtviertels. Noch nie war ich so froh darüber, Helens Haus zu sehen. Sie ist zwar meine langjährige und einzige Freundin, aber gerade das macht sie jetzt für mich zu einer tickenden Zeitbombe. Wenn jemand aus mir lesen kann, als wäre ich ein offenes Buch, dann ist dass sie. Als ich direkt vor ihrer Einfahrt halte, fängt sie langsam an sich zu verabschieden und reicht zuerst Mike dann Stevo die Hand. »Jetzt wo ihr da seid … ich dachte mir …, was meinst du Rilana ... vielleicht helfen dir die Jungs, diesen Widerling Jera vom Hals zu schaffen?«, fragt Helen mit der Hand auf dem Türknauf. Sie klimpert ganz unschuldig mit den Wimpern, wofür ich diesen kleinen Teufel am liebsten geohrfeigt hätte. Naja das wäre wahrscheinlich ein bisschen zu derb angesichts dieser Situation!? Trotzdem! Es ist doch gar nicht verwunderlich, dass ich solche Gelüste bekomme, wen ich wieder zur Zielscheibe für Mikes durchdringenden Blick werde. Unweigerlich stelle ich mir bildlich vor, wie ich meine Finger um Helens zierlichen Hals lege, und bemerke erst im Nachhinein, dass es nur mein Lenkrad ist. »Ja genau Jungs, quetscht sie ruhig ein wenig aus. Dieser Ekel quält sie schon lange genug!«, hängt sie dran. Mike nickt ihr zu und sie schlüpft aus dem Auto. Vor lauter Wut lasse ich diesmal meine Reifen quietschen und schaue nicht mal in den Rückspiegel, um mich davon zu überzeugen, dass Helen sicher Zuhause angekommen ist. Was ist bloß in sie geraten? Zuerst die Sache mit meinem Foto und dann das ... »Jera ja?«, fragt Mike angespannt. »Ich weiß zwar nicht, wer das ist, aber dem werde ich die Ohren schon langziehen!« »Und ich helfe dir dabei!«, fügt Stevo begeistert hinzu. »Das ist echt nicht der Rede wert, Jungs«, versuche ich die zwei erhitzten Gemüter zu beruhigen, werde aber nur abgewinkt. Die nächste Überraschung lässt nicht lange auf sich warten, weil Stella doch tatsächlich in Tränen ausbricht. Schließlich war das ihre Idee und Auffassung, dass Besuche während des Studiums nur vom Lernstoff ablenken! Tja! Nun habe ich den deutlichen Beweis vor Augen, dass sie es sich spätestens jetzt anders überlegt hat. Selbst Stevo bekommt einen herzlichen Empfang und wird in unserem Gästezimmer einquartiert. Zu meiner persönlichen Verwunderung bietet Mum den beiden nichts zum Essen an. Als sie sich allerdings bei Mike für die SMS bedankt, die er ihr vorsorglich geschickt hat und mir dabei einen vielsagenden eigentlich-hättest-du-es-mir-sagen-sollen-Blick über die Schulter zuwirft, möchte ich am liebsten schon wieder Schmollen. Was für ein Muttersöhnchen!, maule ich in Gedanken und will gerade nach oben gehen, um weiteren Vorwürfen zu entgehen, als sie mich mit dem Auftrag beehrt, das Bett von Mike neu zu beziehen. Mikhail hier ... Mikhail da ... wie kann ich denn die Ähnlichkeit zwischen meinem Bruder und meinem Traummann vergessen, wenn ich die ganze Zeit seinen Namen höre? Auch wenn er abgewandelt ist. Unser Haus ist sehr gut aufgeteilt. Meine Mutter lebt im Erdgeschoss, dort ist auch das geräumige Gästezimmer, ein weitläufiges Wohnzimmer, ein kleines Bad und eine warme, gut ausgeleuchtete Küche. Oben ist mein Zimmer, mein Bad und Mikes Zimmer, wobei es mein ehemaliges Schlafzimmer ist. Die frischen Bezüge hatte ich schon in der Früh vorbereitet gehabt, also stülpe ich sie mit geübten Bewegungen über Kissen und Decke, während Mike mein Bad benutzt. Gerade als ich fertig bin, kommt auch er aus der Dusche zurück. Mein Blick gleitet über seinen nackten Oberkörper hinweg, als ich allerdings beim spärlichen Badetuch ankomme, schaue ich verschämt weg und kassiere dafür gleich ein Kichern von ihm. »Du hast dich sehr verändert!«, bemerkt er weiterhin grinsend. Und du erst ... »Du auch!«, antworte ich immer noch von ihm abgewandt. »Stört es dich, dass ich wieder da bin?«, fragt er, wobei es sich eher nach einer Unterstellung anhört als nach einer Frage. Ich erschaudere bei dieser Direktheit. »Würdest du dich wohler fühlen, wenn ihr Frauen wieder alleine unter euch wärt?« »Diesmal werde ich das Feld räumen und dich mit Mum alleine lassen«, versuche ich zu scherzen, was mir leider misslingt. Mike geht mit langsamen Schritten auf mich zu und dreht mich zu sich um. »Das darfst du nicht. Nicht nachdem ich endlich wieder hier sein darf!«, warnt er mich ganz leise und beinahe … zärtlich. Ich verstehe gar nichts mehr. »Ich bin dann mal fertig mit deinem Zimmer und das war nur ein Scherz. Denkst du wirklich, ich würde dieses angenehme und warme Nest freiwillig verlassen? Du kennst doch die Vorzüge des Lebens im Hotel Mama: Jeden Morgen gibt es frischen Kaffee, sonntags Pfannkuchen und wann immer nötig Gesellschaft … Ne, ne! So schnell wirst du mich nicht los«, versuche ich es nun mit Bissigkeit, um die Stimmung zu lockern und seine elektrisierende Wirkung abzuschütteln. Scheinbar wirkt es. Ich meide den Augenkontakt, obwohl er sehr nah bei mir steht und einen direkten Einblick in mein Gesicht hat. »Was ist? Stört dich was an mir? Oder verheimlichst du etwas?«, fragt er misstrauisch. »Rilana schau mich doch bitte an!« »Es ist …«, ich weiß nicht, ob und wie ich es ihm sagen soll ... »… es sind deine Augen! Sie … werfen mich irgendwie aus der Bahn.« »Was ist mit meinen Augen?« »Sie sind so … So … haselnussbraun … Ich meine …!« Mike starrt mich erstaunt und verständnislos an und ich weiß sofort, dass es ein Fehler war, so etwas zu sagen. Sogleich blicke ich wie hypnotisiert in dieses verführerische Gesicht und beiße mir ziemlich schmerzhaft auf die Unterlippe, was ihm natürlich nicht entgeht. Ich stürme aus seinem Zimmer, ohne mir die Mühe zu machen, weitere Erklärungen abzugeben. Sobald ich in meinem eigenen Reich ankomme, ist das Zittern welches mich befallen hat so stark, als ob man mich mit einem Kübel Eiswasser übergossen hätte. Ich lehne mich deswegen mit pochendem Herzen gegen die Tür und stehe noch eine ganze Weile einfach so da. Atemlos, zitternd und mit vor Scham entzündeten Gesicht. Unbewegt und doch innerlich erregt. Was habe ich bloß angestellt? Warum geht mir das Ganze so nah? Wieso ist der Blick in sein schönes Gesicht wie eine süße Qual für mich? So beängstigend und ergreifend zugleich? Da ich keine Antworten finde, flüchte auch ich kurzerhand unter die Dusche. Nachdem das Wasser brennend vor Kälte ungefähr fünfzehn Minuten auf meine Haut herunter prasselt, fühle ich eine bedeutende Erleichterung. Zitterig - diesmal von so einer Erfrischung - steige ich aus und schlüpfe in ein flauschiges Handtuch. Mit schnellen Bewegungen trockne ich mich ab, hole mein knielanges Seidennegligé aus dem Schrank und gehe wieder in mein Zimmer. Das kühle Licht des Mondes fällt auf das Bett und ich lege mich zum Fenster gewandt hin. Ich will an nichts mehr denken. Nur noch einschlafen und sehen mir deswegen die Präsenz des Wesens herbei, das mich mein Leben lang begleitet. Ein Warmes, Sanftes, Unsichtbares “Etwas”, dass mich immer umhüllt und meine Angst vor der Einsamkeit vertreibt. Schon seit ich denken kann, kommt dieses Wesen jede Nacht zu mir. Ich kann es weder sehen noch riechen, lediglich spüren. Es ist so, als ob sich ein warmes Luftkissen an mich schmiegen würde. Eins, dass mich vor dem Rest der Welt abschirmt. Der Rettungsring im wilden Meer meiner Phobien und mein persönliches Geheimnis, über welches ich mit niemandem rede, der mich dafür in eine Klapsmühle stecken könnte. Demnach also mit keiner Menschenseele. Ich liege da. Warte und warte. Aber nichts geschieht. Meine Angst bleibt genauso präsent wie der Wunsch diesen schönen Mann mit seinen haselnussbraunen Augen wiederzusehen. Das Verlangen ihn in meinen Träumen wiederzufinden ist sogar stärker als die Angst, dass der Traum wieder ein schlechtes Ende nehmen wird. Überhaupt ist mir alles lieber, als diese zerrüttenden Gedanken an meinen Bruder. Vorstellungen, die moralisch unmöglich sind … Während ich mit mir selber ringe und weiterhin am ganzen Körper zittere, bemerke ich nicht, wie ich erstmals ohne die warme ehaglichkeit des Wesens einschlafe, welches mich von klein auf begleitet hat. Im Traum wache ich in einem sehr interessant gebauten Raum auf. Sämtliche Wände scheinen aus Glas zu bestehen. Aus schönem, leicht schimmerndem Glas, das zu einer runden Kuppel geformt ist. Eine bogenförmige Öffnung bildet den Eingang in diese Behausung und führt auch auf eine mit grünen Bäumchen und beachtlich großen Kletterpflanzen bewachsene Sonnenterrasse. Als meine Zehen den hellen Marmorboden berühren, stelle ich überrascht fest, dass dieser wiedererwarten warm ist und wage nur sehr langsame und vorsichtige Schritte in Richtung des Ausgangs. Damit es hier nicht zu heiß wird, besteht der Himmel dieser nahtfreien Glasbebauung intelligenterweise aus einem Glas, welches wie eine Sonnenbrille abdunkelt. Das perfekte Zusammenspiel zwischen diesem dunklen und schimmernden Material fasziniert mich so sehr, dass ich beim Rausgehen nicht mal bemerke, dass ich bis zu den Knien im Nebel stehe. Dieser blickdichte Dunst fühlt sich ebenfalls warm und angenehm an und riecht nach Bambus mit Zitrone. Es erinnert mich an mein geliebtes Luftkissen. An das, welches diese Nacht nicht bei mir war. Erst als ich geradeaus auf den Horizont schaue fällt mir das Interessanteste überhaupt auf. Nirgends kann ich die Sonne erkennen, obwohl der Himmel ganz klar ist. Zwei warme Hände legen sich auf meine Schultern und verdrängen meine Ängste. Ich fühle stattdessen Ruhe und Gelassenheit und schließe meine Augen. Es fühlt sich so vertraut an, als ob ich endlich mein seelisches Zuhause gefunden hätte. Ich will augenblicklich mehr von dieser Überschwänglichkeit, greife nach seinen Händen und ziehe sie wie eine Decke über meinen Oberkörper. Mir wird bewusst, das diese ruhespendende Arme ganz eindeutig einem großen Mann gehören. Sein Atem streift mein Ohr und kitzelt meinen Nacken und das löst eine tiefe Erregung in mir aus, die sich nun wie ein Schleier um meine Sinne legt. Ich drehe mich in seiner Umarmung und lasse mich von meiner Intuition bis zu seinen warmen Lippen leiten. Wegen seines zuckersüßen und drängenden Kusses fühle ich mich fast so, als ob ich schweben würde. Er nimmt mich ein und füllt meinen Körper mit einer bebenden Hoffnung auf mehr, die mein Blut zum Kochen bringt. Was allerdings kurz darauf geschieht, zerstört die Schönheit meiner furchtloser Gefühle. Ich öffne die Augen und stocke. Nicht nur, dass hinter diesem Mann zwei überdimensional große, silberweiße Flügel aufragen. Nein! Dieser Mann in wessen Armen ich liege ist nicht mehr länger Michael, sondern ganz eindeutig Mike, der einfach nur ein paar Jahre älter ist, als jetzt! Noch bevor er im Traum seine Augen öffnen kann, schrecke ich aus diesem Traum hoch und rufe dabei mit erstickter Stimme seinen Namen. Ich kann nicht zuordnen, wovor ich mehr Angst habe. Vor dem, dass ich unmoralische und aus ethischer Sicht unvertretbare Träume habe oder vor dem, dass in weniger als einer Minute alle in mein Zimmer kommen würden, um nachzuschauen, warum ich mitten in der Nacht so einen Lärm verursache. Ich kann mir gut vorstellen, dass mein Geschrei sogar die Nachbarn aufgeweckt hat, und sitze deswegen still in meinem Bett und warte. Ich bereite mich innerlich darauf vor, dass die Tür gleich aufgeht und ich mich einer sehr peinlichen Situation stellen muss, aber nichts dergleichen geschieht. Eine Minute verstreicht, zwei, drei. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich nur so dasitze und die Tür anstarre, bis ich mich aus meiner verkrampften Haltung löse und die kleine Nachttischlampe anmache. Das Licht der Energiesparlampe ist zunächst spärlich und flackernd reicht aber vollkommen aus, um die Zeiger meines Weckers auszumachen. »Na prima, Rilana! Zehn vor vier und du kriegst Alpträume!«, schimpfe ich beim Aufstehen. »Kann man das überhaupt als einen Alptraum bezeichnen? Es war doch eigentlich sehr angenehm diese Sünde wenigstens auf diese Weise auszuleben!« Himmel, was sage ich da? Nachdenklich massiere ich meine pochenden Schläfen und spüre plötzlich, dass ich nicht alleine bin. Ich halte in meiner Bewegung inne und weiß, dass ich gleich eine Stimme höre, noch ehe sie tatsächlich hörbar wird. »Von welcher Sünde sprichst du?«, ertönt eine männliche geheimnisvolle Stimme, welche ich nicht sofort zuordnen kann. Die Luft um mich herum gefriert zu Eis. Der Schock lähmt mich und mein Herzschlag setzt mehrere Schläge aus. Erstens: Ich habe überhaupt niemanden in meinem Zimmer erwartet. Zweitens: Die Stimme kommt auch noch aus dem dunkelsten Eck. Meine Augen tasten langsam die Dunkelheit ab und ich hoffe insgeheim, dass diese Stimme nur ein Produkt meiner lebhaften Fantasie war. Entdecke aber doch noch eine Silhouette in der Dunkelheit. Mike steht an die alte - in meiner Erinnerung versperrte - Durchgangstür gelehnt. Er trägt nur eine Hose und bietet sich damit meinen neugierigen Augen an, die ihn von Kopf bis Fuß mustern. In diesem fahlen Licht wirkt er magisch anziehend auf mich und die indirekte weiche Beleuchtung bringt die Schönheit seines Körpers noch mehr zur Geltung. Er stößt sich von dem Türrahmen ab und geht langsam auf mich zu. Seine Bewegungen sind so geschmeidig, als wäre eine Raubkatze auf der Jagd. Vorsichtig, gefährlich und doch sehr graziös. Ich danke mir selbst für meine Zurückhaltung und lobe meine Selbstbeherrschung. Hätte ich davon nur einen Hauch weniger, wäre ich ihm wahrscheinlich um den Hals fallen. Einerseits übt er eine so starke Anziehungskraft auf mich aus, dass ich mir innerlich befehlen muss, komme was wolle genau dort sitzenzubleiben, wo ich bin. Andererseits ist da irgendein unterschwelliges Gefühl in meiner Mitte welches mich eher von Mike distanziert. Fast so, als würde das, was ich will, in irgendeiner Verbindung zu ihm stehen, aber eben nicht so, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Äußerst verwirrend das alles! Um seiner Frage auszuweichen, hebe und senke ich meine Schultern und atme schwer aus. »Ach einfach nur schlechte Träume.« Ich suche in seinem Gesicht nach einem Hinweis, ob er mitbekommen hat, dass ich seinen Namen gerufen habe, kann aber keinerlei Anzeichen dafür entdecken. »Oh, ehrlich?! Seit wann sind denn schlechte Träume einer Sünde gleichzusetzen!?«, fragt er mit einem schiefen Lächeln. Flirtet er? Ja ganz eindeutig! Da ist auf jeden Fall etwas Schäkerndes in seiner Stimme. Seit du meine Träume besuchst! Hätte ich sagen müssen, stattdessen lache ich einfach. »Weil sie kaum heilig sein können, wenn sie schlecht sind!« »Ja und nicht alle sind sündig, wenn sie gut sind!«, lacht er, wobei das Lächeln nicht bis zu seinen Augen reicht. Irgendwie ahne ich, dass seine Worte eine gewisse Zweideutigkeit haben, fühle mich aber auch nicht im Recht, ihn danach auszufragen. »Willst du vielleicht einen Spaziergang machen? Um einen klaren Kopf zu bekommen ...«, fragt er. Ich starre ihn verdutzt an. »Um vier Uhr morgens?« »Ja! Warum denn nicht? Dir passiert schon nichts Schlimmes, wenn du bei mir bist!«, verspricht er. Ja! Vorausgesetzt, du hältst meinen Wunsch dich anzuspringen und bis zur Besinnungslosigkeit zu küssen für harmlos. Ich finde aber, dass sein Vorschlag durchaus verlockend ist. Es wird mir vielleicht wirklich gut tun, wenn ich raus gehe und diese erdrückenden Wände und meine Angst vor der Einsamkeit einfach für einen Augenblick vergesse. »Okay! Überredet. Darf ich mich noch anziehen?«, frage ich. »Natürlich. Zieh dich aber wärmer an, wenn du dich nicht verkühlen willst. Ich mach mich auch schnell ausgehfertig und warte dann vor der Tür auf dich.« Mit diesen Worten schleicht er aus meinem Zimmer und ich bemerke erst jetzt, dass ich vor lauter Aufregung das elementarste vernachlässigt habe: meine Atmung. Ich genehmige mir deswegen einen ganz tiefen Atemzug, ehe ich zum Schrank laufe und eine einfache schwarze Jogginghose und einen Schlabberpullover aus seinem Inneren herausfische. Beim Rausgehen will ich gerade meine Tür zuziehen, als Mike mich erneut erschrickt, indem er meine Hand ergreift und mich hinter sich die Treppe runterzieht. Die Aufregung, die ich empfinde, erinnert mich unweigerlich an unsere Kindheit. Genauso habe ich mich immer gefühlt, wenn ich etwas Verbotenes anstellte. Dabei gibt es doch im Grunde nichts Verwerfliches daran, dass ich mit meinem Bruder etwas spazieren gehe. Naja, fast nichts. Es gibt nichts, wenn man meine Gelüste außen vor lässt. Mike bleibt am Treppenabsatz stehen und deutet mir mit einer stummen Kopfbewegung, dass er durch die Terrassentür raus möchte. Ich halte das für eine weise Entscheidung angesichts dessen, dass wir andernfalls an den Türen von Mum und Stevo vorbeigehen müssten. Lange kann ich über den Sinn unserer Flucht sowieso nicht nachdenken, denn Mikes Griff auf meinem Arm, verdrängt alles andere aus meinem Kopf. Seine Finger brennen auf meiner Haut und obwohl ich es weder als ein angenehmes noch als ein unangenehmes Gefühl bezeichnen kann, überkommt mich der Wunsch dieser Empfindung auf den Grund zu gehen. Hunderte von Kilometern hätte ich laufen können, nur um irgendwann die deutliche Entscheidung zu treffen, ob ich mehr davon will oder nicht. Mehr von ihm, mehr von seiner Haut ... Uns gelingt es, das Haus leise zu verlassen und niemanden aufzuwecken. Aber erst als wir ein paar weitere Häuser hinter uns lassen, treten wir mit dem vollen Fuß auf. »Ich muss mit dir reden, Rilana!«, setzt Mike unvermittelt an und durchbricht damit die Stille. Mutiger durch die Dunkelheit, schaue ich ihn an und trotz des wenigen Lichts den der Mond auf uns wirft, erkenne ich Sorgenfalten auf seiner perfekten Stirn. »Ich bin ganz Ohr!«, sage ich. »Schimpf bitte nicht mit Helen. Sie wollte mir lediglich einen freundschaftlichen Dienst erweisen und willigte wirklich nur nach mehreren Überredungsversuchen ein, meiner Bitte nachzukommen. Vor dem heutigen Abend habe ich nicht mal geahnt, dass du nichts darüber wusstest und bitte dich gerade deswegen darum ihr zu verzeihen.« »Ich hab ihr schon verziehen!«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Was mich allerdings interessieren würde, ist nicht der Grund, warum sie dir geholfen hat. Ich möchte viel lieber wissen, warum du sie darum gebeten hast. Wozu wolltest du überhaupt meine Fotos? Ich meine, du kannst mich doch sowieso nicht ausstehen!« Mike bleibt abrupt stehen, legt mir die Hände auf die Schultern und dreht mich in seine Richtung. Sein Blick ist wieder so eindringlich wie vorhin im Restaurant, so, als würde er irgendwas in meinen Augen lesen wollen. »Denkst du das wirklich?«, fragt er schließlich und ich nicke, ohne zu zögern. »Rilana … niemals. Hörst du? Niemals habe ich dich gehasst. Ganz im Gegenteil!«, er lässt mich los und rauft sich die Haare. »Ich … ich … wollte bloß immer wissen, dass es dir gutgeht und das du gesund und munter bist.« Für einen Augenblick glaube ich, wieder einen Funken Zärtlichkeit in seinen Augen zu sehen, schiebe dann aber diesen Gedanken beiseite. Wieso sollte er auch zärtlich mir gegenüber sein? »Du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber du hast mir sehr gefehlt!«, verrate ich, ohne vorher darüber nachzudenken. Hätte ich es jemals eingesehen, dass über die Jahre hinweg mir genau so etwas fehlte? Ein Mann, der nicht nur in dem Leben meiner Mutter, sondern auch in meinem erscheint? Ich denke nicht. Und nun ist es mehr als offensichtlich! »Doch. Sicher glaube ich dir das, denn du hast auch mir ungeheuerlich gefehlt.« Er dreht sich weg und geht wieder langsam voran. »Weißt du noch, wie ich damals zu euch kam? Ich meine nach dem Tod meines Vaters!?« Ich nicke. »Es war selbstlos von Stella mich bei auch aufzunehmen und auch du warst so tapfer, als du deine gewohnte Welt mit mir teilen musstest. Das werde ich niemals vergessen. Ich bin euch beiden zu großem Dank verpflichtet!« »Ach was. Ich denke, dass jeder so gehandelt hätte, wäre er an Mums Stelle. Außerdem war ich oft ungerechterweise ziemlich gemein zu dir!« Ich schaue verschämt auf den Boden, bei der Erinnerung wie ich mich früher benommen habe. »Echt wann? Hab ich gar nicht mitbekommen!«, gibt er sarkastisch zu und steckt mich erneut mit seiner guten Laune an. »Jetzt erzähl mir aber lieber noch was anderes. Mich würde es brennend interessieren, wer dieser Jera überhaupt ist. Ist er einfach nur ein Verehrer von der, der dir hinterherläuft, oder belästigt er dich aus einem anderen Grund?« »Warum willst du das überhaupt wissen? Willst du den großen Bruder spielen?«, frage ich ausweichend und kichere, um meine Nervosität über diese Ausforschung zu kaschieren. »Ich würde jede erdenkliche Figur spielen. Selbst deinen vor Eifersucht erzürnten Freund, wenn es dir denn Typen vom Hals schafft«, betont Mike mit Nachdruck. Muss ich mir nun Sorgen um Jera machen? Ja es wäre definitiv besser, wenn ich ihn darüber informiere, dass zwei juckende Hände sein Gesicht “verändern” wollen! Ich bekomme die dumpfe Vorahnung, dass diese Situation viel zu überladen ist und nur von mir entschärft werden kann. Aber was könnte ich schon zu Jeras Verteidigung sagen? »Er ist ein Niemand. Außerdem ist Ray auch noch da, falls Jera einmal über die Stränge schlagen sollte.« »Und wer ist Ray?«, fragt Mike so eindringlich, als ob er die Punkte auf einem unsichtbaren Verhörprotokoll aufarbeiten müsste. »Ist er dein Freund!?« »Ja. Ich meine nein! Ähm … Wir sind nur gute Freunde.« Verdammt! Warum stotterst du schon wieder? Rilana du bist ihm keine Rechenschaft schuldig!, versuche ich mich selber zu beruhigen. Warum fühle ich mich dann so, als ob ich Mike betrügen würde, wenn ich mir einen anderen Mann auch nur vorstelle!? »Aha! So ernst also? Okay! Na dann brauchst du mich ja doch nicht«, wirft er mir mürrisch an den Kopf und beschleunigt seine Schritte. Ich hole ihn ein und greife nach seiner Hand, um ihn aufzuhalten. Er bleibt ganz abrupt stehen. Sein Gesicht ist ebenso plötzlich in meiner greifbarer Nähe und ich mache erneut den Fehler in sein herrliches Antlitz zu schauen, wo ich sofort von der Tiefe dieser haselnussbraunen Augen angezogen werde. Sein Blick dringt durch meine Kleidung und gefühlsmäßig sogar durch meine Haut. Ich fühle mich plötzlich so unwohl, als würde ich unter einer hundertfachen Vergrößerungslupe stehen. Und zwar nackt! Die nächtlich kalte Luft holt mich glücklicherweise aus den Fängen seiner Anziehung und ich erschaudere, was mich endgültig auf den Boden der Tatsachen zurückbringt. »Es ist nicht so, wie du es darstellst. Ich ... ich brauche dich. Aber ich will dir einfach keine Unannehmlichkeiten bereiten wegen eines Mistkerls, der mir schon seit mehreren Jahren auf die Nerven geht. Für den Problemfall Jera habe ich schon seit langem eine passende Lösung gefunden: Ich gehe ihm einfach aus dem Weg!«, erkläre ich zitterig. Meine Stimme bricht an der einen oder anderen Stelle, was Mike als ein Anzeichen dafür deutet, dass ich friere. Mikes Zorn verraucht binnen eines Wimpernschlages und weicht seiner Fürsorglichkeit. Er legt einen Arm um meine Mitte und drängt uns wieder in die entgegengesetzte Richtung. »Habe ich dir vorhin nicht gesagt, dass du dich wärmer anziehen sollst? Wenn du krank wirst, junge Frau ...«, raunt er mich und schüttelt mit dem Kopf. »Ich kann dir versichern, dass du nicht einfach so weglaufen kannst. Manchen Problemen muss man sich einfach stellen, um sie zu lösen. Merkst du es denn nicht, Rilana!? Der Typ braucht eine gescheite Abfuhr, wenn du deine Ruhe vor ihm haben willst.« »Aaauuuff ddderrr Tttterrrrassssee llliegggen Dddeckkkenn!« Versuche ich über mein Zittern hinweg zu sagen. »Iiiiccchh haaaabe esss iiihm ssschhhoonnn sooo ooooftt gesssagggt, ddddass eeer mmmiich iin RRRuhe lassseeen soooll.«, stottere ich flüsternd, als wir uns dem Haus nähern. Mit Belustigung stelle ich fest, dass mein Gerede so klingt, als wäre ich eine zischende Schlange. »Schau mal, wie du zitterst!« Mike wickelt mir gleich zwei der Decken um die Schultern und versucht mich wieder warm zu reiben. Diese Geste erwärmt nicht nur meinen Körper, sondern auch noch in gewisser Weise meine Seele. Langsam und vorsichtig drückt er mich in den strammen Sitz der Hängeschaukel. Während er die letzte Wolldecke um seine Schultern legt, denke ich daran, wie unfair das Leben doch manchmal ist. Es ist doch eine Schande, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Fremder für mich sein kann. So viel Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen, wie das, was er mir entgegenbringt, grenzt an die Erfüllung all meiner Mädchenträume. »Ich werde diesen Jera schon nicht umbringen. Eigentlich will ich ihm lediglich mit Nachdruck versichern, dass es besser für ihn wäre, wenn er sich von dir fernhält!«, erklärt Mike entschlossen. »Wirklich?« Das Zittern stellt sich allmählich ein, und wenn ich mich entspanne, kann ich sogar stotterfrei reden. »Wirklich!« Mike schaut mir wieder in die Augen und ich fühle, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Diese Anziehungskraft ist doch nicht normal, oder? Mike rückt noch näher an mich. Die gute, alte Hollywoodschaukel gerät sofort in Bewegung und wir genießen schweigend, den Gesang des Windes. Was mache ich bloß mit dir, mein Bruder?, frage ich ihn stumm. Ich beobachte den Wind so lange bei seinem Spiel mit den jungen Blättern unserer Birke, bis ich bemerke, dass mir die Augen vor Müdigkeit zufallen. »Sollen wir vielleicht schlafen gehen?«, frage ich ermattet. Mike nickt zustimmend, hilft mir auf und wir schleichen uns wieder ins Hausinnere. Oben angekommen bleibt Mike direkt vor mir stehen und reicht mir seinen kleinen Finger. »Versprich mir, dass wir nie wieder streiten!«, bittet er nachdem ihm klarwird, dass ich überhaupt nicht weiß was seine Geste bedeuten soll. Ich hacke mich mit meinem kleinen Finger bei ihm unter. »Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen«, flüstern wir zusammen die Worte, die noch nicht ganz in Vergessenheit geraten sind, obwohl wir sie zuletzt als sechsjährige benutzt haben. »Und solltest du es doch noch brechen, werde ich mich an dir rächen!«, fügt Mike hinzu, gibt mir einen kleinen spontanen Kuss, auf die Wange und wünscht mir eine gute Nacht. Selbst als ihn die Dunkelheit verschluckt, kann ich mich nicht rühren. Wie unter Zwang löse ich meine Starre und gehe in mein Zimmer. In voller Bekleidung plumpse ich auf das Bett und starre ohne eines einzigen wirklich zusammenhängenden Gedanken bis um sieben Uhr früh auf die Decke. Von der Müdigkeit, welche mich vorher befiel, blieb so gut wie nichts übrig nach Mikes seltsamer Geste. Ich frage mich unentwegt, ob es tatsächlich mit mir passiert!? Dieser unerwartete Frieden mit einem Menschen, nach wessen Verständnis ich mich nun verzehre und wegen dem ich gleichzeitig das familiäre Verhältnis verfluche? Es ist zwar angenehm zu wissen, dass wir keine Feinde mehr sind, aber die neu gewonnene Freundschaft würde eine immerwährende Verlockung für mich darstellen. Ich muss aus moralischen und ethischen Gründen meinen Wünschen und Trieben widerstehen und hoffe daher nur auf eins … Kraft!

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Texte: All rights Reserved by THG-Verlag
Bildmaterialien: All rights Reserved by es-hat-was-design.de
Lektorat: THG-Verlag
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2013

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